T 0550/23 () of 18.3.2024

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2024:T055023.20240318
Datum der Entscheidung: 18 März 2024
Aktenzeichen: T 0550/23
Anmeldenummer: 11712473.5
IPC-Klasse: H01H 39/00
H02B 11/26
H02B 13/065
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Schaltanlage für die Mittelspannung mit Kurzschließereinheit
Name des Anmelders: ABB Schweiz AG
Name des Einsprechenden: Siemens Aktiengesellschaft
Kammer: 3.5.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention R 111(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 011
European Patent Convention Art 113(1)
European Patent Convention R 103(1)(a)
European Patent Convention Art 87(1)(b)
Schlagwörter: Angefochtene Entscheidung - ausreichend begründet (nein)
Zurückverweisung an Einspruchsabteilung in einer anderen Besetzung
Zurückverweisung - (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - entspricht der Billigkeit wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels
Priorität - Grundlage im Prioritätsdokument (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0002/98
T 2475/17
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zurückweisung des Einspruchs gegen das europäische Patent Nr. 2 550 670.

II. In der angefochtenen Entscheidung war die Einspruchsabteilung zu dem Schluss gelangt, dass die Priorität der deutschen Patentanmeldung DE 10 2010 012 827.9 wirksam in Anspruch genommen sei, und dass der Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 56 EPÜ der Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents nicht entgegenstehe.

III. In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Meinung mit, wonach u.a. ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliege und die Priorität der deutschen Patentanmeldung DE 10 2010 012 827.9 (nachfolgend als "D0A" bezeichnet) nicht wirksam beansprucht sei.

IV. Eine mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 18. März 2024 statt.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Angelegenheit aufgrund wesentlicher Verfahrensmängel an eine anders besetzte Einspruchsabteilung zurückzuverweisen sowie die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen. Für diesen Fall beantragte sie auch die Feststellung durch die Kammer der Ungültigkeit der beanspruchten Priorität. Hilfsweise beantragte sie, das Patent zu widerrufen.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) legte zu Beginn der mündlichen Verhandlung vor der Kammer folgende Anträge schriftlich vor:

"1. Es wird beantragt, das Streitpatent unverändert aufrechtzuerhalten und die Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung zurückzuweisen. [Anm. d. Kammer: nachfolgend als "Hauptantrag" bezeichnet]

2. Es wird beantragt festzustellen, dass die Gültigkeit der Priorität der früheren Anmeldung DE 10 2010 012 827.9 wirksam in Anspruch genommen ist.

3. Dazu wird beantragt, eine Präsentation der Patentinhaberin mittels eines Beamers oder mittels Bildschirmen zuzulassen.

4. Hilfsweise wird beantragt festzustellen, dass der Fachmann die frühere Anmeldung DE 10 2010 012 827.9 als Ganzes liest.

5. Weiter hilfsweise wird beantragt festzustellen, dass die frühere Anmeldung DE 10 2010 012 827.9 einen Kurzschließer offenbart, der ein pyrotechnischer Schalter sein kann, also auch ein ultra-schneller Schalter, der so schnell schalten kann, um Störlichtbögen zu löschen.

6. Weiter hilfsweise wird beantragt, dass die Gültigkeit der Priorität für den Gegenstand der Kombination der Merkmale des 1. Anspruchs mit den Merkmalen des 3. Anspruchs festgestellt wird oder zur Entscheidung an die Einspruchsabteilung verwiesen wird.

7. Weiter hilfsweise wird beantragt den ersten und zweiten Hilfsantrag, der im Einspruchsverfahren mit dem Schriftsatz vom 24.10.22 vorgebracht wurde, zuzulassen und zur Entscheidung an die Einspruchsabteilung zu verweisen.

8. Es wird beantragt, dass über die Verweisung zu einer anderen Einspruchsabteilung abschließend Verhandelt [sic] wird."

V. Anspruch 1 des Hauptantrags (Patent in der erteilten Fassung) hat den folgenden Wortlaut:

"Schaltanlage für die Mittelspannung mit Kurzschließereinheit zur Löschung von Störlichtbögen, dadurch gekennzeichnet, dass die Kurzschließer (1) als dreiphasige Einheit auf einem Support (3) als Kurzschließereinheit angeordnet sind, welcher in einen öffenbaren Ausschnitt (5) eines Schaltanlagengehäuses (4) über eine Einschub-/Ausschubbühne (6) beweglich ein- und ausschiebbar ist, indem die Kurzschließereinheit (1) mit Einfahrtulpen (10) versehen ist, die mit festen Kontaktstellen innerhalb des Schaltanlagengehäuses (4) beim Einschieben kontaktierend korrespondieren."

VI. Die für diese Entscheidung wesentlichen Argumente der Beschwerdeführerin können wie folgt zusammengefasst werden:

Die Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung setzten sich nicht mit dem geltend gemachten Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit auseinander. Das Verfahren vor der Einspruchsabteilung weise daher einen wesentlichen Mangel auf, welcher die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung sowie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertige. Die Zurückverweisung der Angelegenheit an eine Einspruchsabteilung in einer anderen Besetzung sei vor dem Hintergrund der Ereignisse in dem erstinstanzlichen Verfahren und den Bemerkungen in der angefochtenen Entscheidung ebenfalls gerechtfertigt.

Die Priorität der deutschen Patentanmeldung gemäß dem Dokument D0A sei nicht wirksam beansprucht, da die in Anspruch 1 des Hauptantrags beanspruchte Eignung der Kurzschließereinheit zur Löschung von Störlichtbögen diesem Dokument nicht unmittelbar und eindeutig entnehmbar sei.

VII. Die für diese Entscheidung wesentlichen Argumente der Beschwerdegegnerin können wie folgt zusammengefasst werden:

Die Zurückverweisung der Angelegenheit an eine Einspruchsabteilung in einer anderen Besetzung sei nicht gerechtfertigt. Die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung sei ruhig und in fairer Weise geführt worden. Auf die Frage eines Mitglieds der Einspruchsabteilung hin, ob der Vertreter der Patentinhaberin die Einspruchsabteilung der Lüge bezichtige, habe diese zumindest nicht widersprochen. Es sei daher insgesamt nicht erkennbar, dass der Antrag auf Zurückverweisung an eine Einspruchsabteilung in einer anderen Besetzung gerechtfertigt sei.

Die Priorität der deutschen Patentanmeldung gemäß D0A sei wirksam beansprucht. Das Dokument D0A sei als Ganzes zu lesen und vor diesem Hintergrund würde der Fachmann diesem Dokument nur einen einzigen Gegenstand entnehmen, auf den mit unterschiedlichen Bezeichnungen in dem Dokument D0A Bezug genommen werde. Insbesondere würde der Fachmann das Dokument D0A in seiner Gesamtheit ohne Weiteres so verstehen, dass die Kurzschließereinheit gemäß D0A zur Löschung von Störlichtbögen geeignet sei.

Auf die detaillierten Argumente der Parteien wird in den Entscheidungsgründen eingegangen.

Entscheidungsgründe

1. Wesentlicher Verfahrensmangel

1.1 Die Beschwerdeführerin hat geltend gemacht, dass sich die angefochtene Entscheidung nicht mit allen von ihr vorgebrachten Einspruchsgründen auseinandersetze. Es liege daher ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, welcher eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung sowie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertige.

1.2 Gemäß Regel 111 (2) EPÜ sind Entscheidungen des Europäischen Patentamts, die mit der Beschwerde angefochten werden können, zu begründen. Der in Artikel 113 (1) EPÜ verankerte Grundsatz des rechtlichen Gehörs umfasst dabei auch das Recht der Parteien, dass alle relevanten Argumente in der schriftlichen Entscheidung angemessen berücksichtigt werden (vgl. R 19/10). Eine in diesem Sinne mangelhafte Begründung der Entscheidung verstößt gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs und stellt somit einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, welcher einen besonderen Grund im Sinne von Artikel 11 VOBK darstellt, der die Zurückverweisung der Angelegenheit an das Organ, welches die angefochtene Entscheidung erlassen hat, rechtfertigt.

1.3 Die angefochtene Entscheidung setzt sich im vorliegenden Fall an keiner Stelle mit dem in dem Einspruchsschriftsatz geltend gemachten Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit nach Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 54 EPÜ im Hinblick auf das Dokument D10 auseinander. Die angefochtene Entscheidung enthält unter Punkt 4) der Entscheidungsgründe Ausführungen zum Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ lediglich in Verbindung mit Artikel 56 EPÜ.

1.4 Die Einspruchsbegründung enthielt unter Punkt 8 explizit den Einwand der mangelnden Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 des erteilten Patents gegenüber dem Dokument D10. Es wurde in diesem Zusammenhang vorgetragen, dass sich die Merkmale 1 bis 3 des Anspruchs 1 explizit aus dem Dokument D10 ergäben, und dass ein Einschub der Schaltanlage durch die Beschreibung beginnend im letzten Absatz der Seite 4 des Dokuments D10 unmittelbar angeregt sei: "Ein Funktionsraum ist hierbei ein Teilbereich eines Verteilerfeldes ... Ein Funktionsraum kann aber auch hier ein Einschub sein". Der Fachmann würde die Merkmale 4 bis 7 des Anspruchs 1 daher als impliziert erkennen und mitlesen.

1.5 Die Gründe für die angefochtene Entscheidung setzen sich nicht mit diesen spezifischen Argumenten der Beschwerdeführerin im Hinblick auf die mangelnde Neuheit gegenüber dem Dokument D10 auseinander. Unter Punkt 4.4) der Entscheidungsgründe wird vielmehr pauschal festgestellt, dass sich das Dokument D10 durch die Merkmale 4 bis 7 von dem Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheide. Eine Begründung dieser Feststellung ist dem betreffenden Absatz nicht zu entnehmen. Insbesondere wird nicht dargelegt, aus welchen Gründen das Argument der Beschwerdeführerin (Einsprechende) die Einspruchsabteilung nicht überzeugt, wonach die Merkmale 4 bis 7 im Lichte der Beschreibung auf Seite 4 ff. implizit in dem Dokument D10 offenbart seien.

Eine Auseinandersetzung mit den Argumenten der Beschwerdeführerin bezüglich der geltend gemachten mangelnden Neuheit ist auch an anderer Stelle der angefochtenen Entscheidung nicht zu finden, insbesondere nicht in dem Abschnitt 4.7) der Entscheidungsgründe, wo lediglich knapp auf die Kombination fachüblicher Merkmale eingegangen wird.

1.6 Es liegt somit ein Verfahrensmangel aufgrund der Tatsache vor, dass die angefochtene Entscheidung jeder substantiellen Begründung in Bezug auf den Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 im Hinblick auf das Dokument D10 entbehrt. Dieser Verfahrensmangel ist auch wesentlich, denn die Berücksichtigung dieses Einspruchsgrundes hätte das Ergebnis der Entscheidung, nämlich die Zurückweisung des Einspruchs, wesentlich verändern können.

1.7 Die Beschwerdegegnerin hat sich nicht zu der Frage geäußert, ob ein wesentlicher Verfahrensmangel aufgrund der Tatsache vorliegt, dass sich die Entscheidungsgründe nicht mit dem Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit gegenüber dem Dokument D10 auseinandersetzen.

1.8 Die Kammer ist daher zu dem Schluss gelangt, dass ein wesentlicher Verfahrensfehler vorliegt, der die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung rechtfertigt (Artikel 11 VOBK und Artikel 111 (1) EPÜ).

1.9 Die Beschwerdeführerin beantragt weiterhin die Zurückverweisung an eine Einspruchsabteilung in einer anderen Besetzung.

1.10 Im Lichte der in der angefochtenen Entscheidung unter der Überschrift "Zusätzliche Bemerkung" dargelegten Äußerung der Einspruchsabteilung sowie in Anbetracht der weiteren Umstände des Verfahrensverlaufs vor der Einspruchsabteilung, insbesondere auch im Lichte der nicht nachvollziehbaren Begründung der Einspruchsabteilung, mit welcher der Antrag der Einsprechenden vom 2. Februar 2023 auf Korrektur der Niederschrift über die mündliche Verhandlung abgelehnt wurde, hat die Kammer entschieden, dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Zurückverweisung der Angelegenheit an eine Einspruchsabteilung in einer anderen Besetzung stattzugeben. Zur Frage der Befugnis der Kammern zur Zurückverweisung an ein erstinstanzliches Organ in einer anderen Besetzung wird der Vollständigkeit halber auf die T 2475/17, Gründe Nr. 3.1.5, verwiesen.

1.11 Der in der angefochtenen Entscheidung enthaltene Absatz unter der Überschrift "Zusätzliche Bemerkung" steht in keinem Zusammenhang mit der Sachentscheidung über den Einspruch, sondern enthält zum einen eine paraphrasierte Wiedergabe einer Äußerung der Beschwerdeführerin nach Schluss der mündlichen Verhandlung und zum anderen die Bemerkung, dass es nicht im Rahmen eines fairen und respektvollen Benehmens liege, wenn ein beim EPA zugelassener Vertreter einen anderen Vertreter oder die Einspruchsabteilung beleidige und verleumde. Die Beschwerdeführerin hat das ihr in der schriftlichen Entscheidung zur Last gelegte Verhalten entschieden zurückgewiesen.

1.12 Die Kammer geht davon aus, dass die in der schriftlichen Entscheidung enthaltene "zusätzliche Bemerkung" im Zusammenhang mit einer Diskussion zwischen der Einspruchsabteilung und der Beschwerdeführerin zu sehen ist, bei der es insbesondere um die strittige Frage ging, ob die Einspruchsabteilung tatsächlich frühzeitig Kenntnis von einem von der Patentinhaberin eingereichten Schriftsatz erhalten hatte. Diese Debatte stand auch in Zusammenhang mit weiteren von der Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren geltend gemachten Verfahrensmängeln, die jedoch aufgrund des oben unter Ziffer 1. bereits festgestellten wesentlichen Verfahrensmangels in der vorliegenden Entscheidung nicht erörtert werden mussten.

1.13 Im Hinblick auf die in der angefochtenen Entscheidung enthaltene "zusätzliche Bemerkung" nach Art eines Obiter dictums bemerkt die Kammer, dass es nicht Aufgabe einer Einspruchsabteilung ist, den Vertreter eines Beteiligten "disziplinarisch" zu rügen, insbesondere indem sie ein von ihr wahrgenommenes Fehlverhalten des Vertreters in der Entscheidung über den Einspruch schriftlich dokumentiert. Die nicht zur Sache gehörige und daher im Rahmen der schriftlichen Entscheidung über den Einspruch unangemessene "Zusätzliche Bemerkung" würde vor dem Hintergrund des in der Akte dokumentierten angespannten Verhältnisses zwischen der Einspruchsabteilung und der Beschwerdeführerin bei einer vernünftigen, objektiven und informierten Person wohl begründete Zweifel an der Unparteilichkeit der Einspruchsabteilung hervorrufen.

1.14 Dies gilt umso mehr im Hinblick auf den von der Einspruchsabteilung in der Mitteilung vom 28. Februar 2023 genannten Grund, mit welchem der Antrag auf Korrektur der Niederschrift über die mündliche Verhandlung der Einsprechenden und jetzigen Beschwerdeführerin vom 2. Februar 2023 zurückgewiesen wurde.

1.15 Insbesondere hatte die Beschwerdeführerin geltend gemacht, dass sie die Einspruchsabteilung nicht der Lüge bezichtigt habe, sondern dass vielmehr ein Mitglied der Einspruchsabteilung den Begriff "lügen" in der mündlichen Verhandlung verwendet habe, worauf hin der Vertreter der Einsprechenden dargelegt habe, dass nur eine der beiden ihm zur Kenntnis gelangten Versionen der Ereignisse im Hinblick auf die Kenntnisnahme der Einspruchsabteilung von einem durch die Einsprechende eingereichten Schriftsatz, zutreffen könne. Der Vollständigkeit halber wird bemerkt, dass die Beschwerdegegnerin diese Angaben der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer bestätigt hat.

1.16 Die Einspruchsabteilung hatte den entsprechenden Antrag auf Korrektur der Niederschrift über die mündliche Verhandlung mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Niederschrift bereits wiedergebe, dass die Einsprechende die Wörter "Lüge", "Lügen" oder ein Synonym dieser Begriffe nicht gebraucht habe.

Dies entspricht jedoch ausweislich des zweiten Spiegelstrichs im letzten Absatz auf Seite 2 der Niederschrift über die mündliche Verhandlung eindeutig nicht den Tatsachen. Dort wird nämlich folgendes festgestellt: "Die Einsprechende teilte mit, dass [...] die Einspruchsabteilung lügen würde, da ...". Dies hätte der Einspruchsabteilung nach nochmaliger Durchsicht der von ihr verfassten Niederschrift im Zuge einer angemessen sorgfältigen Prüfung der Frage, ob der Antrag der Einsprechenden auf Korrektur der Niederschrift gerechtfertigt ist, auffallen müssen.

Auch dieser Umstand bekräftigt somit die von der Kammer vertretene Überzeugung, dass der in der Akte dokumentierte Gang des erstinstanzlichen Verfahrens bei einer vernünftigen, objektiven und informierten Person wohl begründete Zweifel an der Unparteilichkeit der Einspruchsabteilung hervorrufen würde. Die Besorgnis, dass die Einspruchsabteilung nach Zurückverweisung der Angelegenheit durch die Kammer bei ihrer weiteren Entscheidung über den Einspruch voreingenommen sein könnte, erscheint daher objektiv gerechtfertigt.

1.17 Im Lichte der obigen Erwägungen hat die Kammer daher entschieden, dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung in einer anderen Besetzung stattzugeben.

1.18 Da die Kammer diesen Punkt sowieso ex officio zu behandeln hatte, bestand auch keinerlei Bindung an die Reihenfolge der von der Beschwerdegegnerin genannten Anträge (siehe Punkt 8 unter Ziffer IV. oben).

2. Rückzahlung der Beschwerdegebühr

Im vorliegenden Fall besteht ein eindeutiger Kausalzusammenhang zwischen dem oben festgestellten wesentlichen Verfahrensfehler und der Einlegung der Beschwerde durch die Einsprechende. Vor diesem Hintergrund hat die Kammer entschieden, dass die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 103 (1) a) EPÜ der Billigkeit entspricht und dem entsprechenden Antrag der Beschwerdeführerin folglich stattzugeben ist.

3. Gültigkeit des Prioritätsanspruchs

3.1 Beide Parteien haben beantragt, dass die Kammer die Gültigkeit (für die Beschwerdegegnerin) bzw. die Ungültigkeit (für die Beschwerdeführerin) des Prioritätsanspruchs aus der deutschen Patentanmeldung DE 10 2010 012 827.9 feststellt. Aus verfahrensökonomischen Gründen ist die Kammer zu dem Schluss gelangt, dass die Frage, ob die Priorität aus der deutschen Patentanmeldung DE 10 2010 012 827.9 für den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags gültig in Anspruch genommen ist, in Übereinstimmung mit den jeweiligen Anträgen der Parteien, im vorliegenden Beschwerdeverfahren zu behandeln ist.

Auf die entsprechende Prioritätsbescheinigung für die deutsche Patentanmeldung DE 10 2010 012 827.9 wird nachfolgend mit "D0A" Bezug genommen. In diesem Dokument wird wiederum auf die handschriftlich vermerkten Seitenzahlen Bezug genommen.

3.2 Im Hinblick auf den erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer gestellten Antrag Nr. 3 der Beschwerdegegnerin, wonach im Rahmen der Diskussion über die Gültigkeit des Prioritätsanspruchs, eine Präsentation mittels eines Beamers oder mittels Bildschirmen zuzulassen sei, bemerkt die Kammer Folgendes: Da die Beschwerdegegnerin ihren Antrag nicht angekündigt hatte, waren entsprechende technische Vorbereitungen durch die Kammer nicht getroffen worden, sodass es nicht ohne längere Unterbrechung der mündlichen Verhandlung möglich gewesen wäre, dem Antrag der Beschwerdegegnerin zu entsprechen. Die Beschwerdegegnerin erklärte sich vor diesem Hintergrund bereit, den entsprechend vorbereiteten Vortrag in Schriftform zu halten. Sie überreichte sodann das nachfolgend abgebildete Blatt, bei dem es sich um eine bearbeitete Version der Seite 14 des Dokuments D0A handelt.

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

3.3 Gemäß Artikel 87 (1) b) EPÜ genießt eine europäische Patentanmeldung die Priorität einer früheren Anmeldung nur dann, wenn sie sich auf "dieselbe Erfindung" bezieht. Gemäß der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in G 2/98 bedeutet dies, dass die Priorität einer früheren Anmeldung für einen Anspruch in einer europäischen Patentanmeldung nur dann anzuerkennen ist, wenn der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen kann (G 2/98, ABl. 2001, 413, siehe auch Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, II.D.3.).

3.4 Im vorliegenden Fall kann der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs 1 des erteilten Patents unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens nicht unmittelbar und eindeutig dem Dokument D0A als Ganzes entnehmen. Insbesondere ist dem Dokument D0A keine "Kurzschließereinheit zur Löschung von Störlichtbögen" unmittelbar und eindeutig entnehmbar.

3.5 Eine entsprechende Offenbarung lässt sich dem Dokument D0A insbesondere auch dann nicht entnehmen, wenn man dem Argument der Beschwerdegegnerin folgt, wonach der Fachmann das Dokument D0A "als Ganzes liest" (siehe Antrag Nr. 4 unter Punkt IV. oben). Denn selbst bei einer Gesamtbetrachtung des Dokuments D0A ist für den Fachmann nicht zweifelsfrei erkennbar, dass es sich bei den Begriffen "Kurzschließereinheit" und "Erdungsschalter" bzw. "UFES" in dem Dokument D0A um Synonyme und somit um technisch identische Produkte mit identischem technischen Sinngehalt handelt.

3.6 Ungeachtet der Frage, ob dem Begriff "Kurzschließereinheit" oder "Kurzschließer" ein feststehender fachüblicher Bedeutungsgehalt zugemessen wird, folgt die Kammer der Beschwerdeführerin jedenfalls in ihrer Argumentation, wonach der Fachmann verstehen würde, dass ein "Kurzschließer" einer "Kurzschließereinheit" nicht zwingend einen Erdschluss entsprechend einem "Erdungsschalter" aufweisen muss. Den auf den Seiten 3 bis 22 des Dokuments D0A beschriebene Erdungsschalter würde der Fachmann somit vielmehr als spezielle Ausführungsform eines Kurzschließers im Sinne der Beschreibung auf Seite 2 und im Sinne der Ansprüche auf Seite 23 des Dokuments D0A betrachten. Die im Hinblick auf den "Erdungsschalter" in dem Dokument D0A offenbarte Eignung zur Löschung von Störlichtbögen (siehe z.B. Seite 3) lässt sich somit nicht ohne Weiteres auf eine "Kurzschließereinheit" übertragen. Dies gilt insbesondere auch dann, wie oben dargelegt, wenn der Fachmann dem Begriff "Kurzschließereinheit" keinen feststehenden Bedeutungsgehalt beimessen sollte. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass der "Ultraschnelle Erdungsschalter" in dem Dokument D0A zur Löschung von Störlichtbögen nur als Gesamtkonzept in Verbindung mit weiteren Systemkomponenten, wie Erfassungs- und Auslöseelektronik offenbart ist.

3.7 Die Offenbarung des Dokuments D0A betreffend die Kurzschließereinheit bzw. den Kurzschließer (siehe Seiten 2 und 23 bis 28) enthält weder explizite noch implizite technische Merkmale im Hinblick auf eine Eignung der Kurzschließereinheit zur Löschung von Störlichtbögen. Insbesondere die Figuren 1 bis 5, auf welche auf Seite 2 des Dokuments D0A Bezug genommen wird, lassen nicht unmittelbar und eindeutig erkennen, dass die betreffende Ausführungsform der Mittelspannungsanlage zur Löschung von Störlichtbögen geeignet ist. Die Bemerkung auf Seite 2 der Beschreibung, wonach "Weitere funktionelle Darstellungen ... nachfolgend noch dargelegt [sind]", lässt ebenfalls nicht den Rückschluss zu, dass der Fachmann die Eignung zur Löschung von Störlichtbögen gemäß Merkmal 3 des Anspruchs 1 des erteilten Patents, losgelöst von dem Gesamtkonzept des "Ultraschnellen Erdungsschalters - UFES", allgemein auf eine Kurzschließereinheit im Sinne der Seiten 2 und 23 bis 28 des Dokuments D0A übertragen hätte.

Nach der Überzeugung der Kammer würden die Seiten 3 bis 22 von einem Fachmann somit auch bei einer Gesamtbetrachtung des Dokuments D0A so aufgefasst werden, dass sie sich auf eine spezielle Ausführungsform eines Kurzschließers beziehen, nämlich auf einen "Ultraschnellen Erdungsschalter - UFES", der einen Erdungsanschluss aufweist und im Rahmen eines Gesamtsystems mit geeigneter Erfassungs- und Auslöselektronik zur Löschung von Störlichtbögen geeignet ist.

3.8 Der Fachmann hätte die Begriffe "Kurzschließer" und "Erdungsschalter" auch nicht bereits deshalb als Synonyme aufgefasst, weil ihm klar gewesen sein musste, dass der mit der Ausarbeitung der Patentanmeldung gemäß D0A befasste Patentanwalt einen präziseren Begriff als "Erdungsschalter" im Hinblick auf die konkrete Funktion des erfindungsgemäßen Schalters gewählt hat. Insbesondere verwies die Beschwerdegegnerin auf die Funktion des Schalters, sehr schnell unter Herbeiführen eines Kurzschlusses zu schalten, was sich aus Seite 14 der D0A ergebe. In diesem Zusammenhang hat die Beschwerdeführerin jedoch zutreffend dargelegt, dass der Fachmann bei der Auslegung des Dokuments D0A grundsätzlich keine Überlegungen angestellt hätte, die patentanwaltliche Erwägungen bei der Abfassung dieses Dokuments einschließen.

3.9 Des Weiteren wird in dem Dokument D0A zwar eine vorteilhafte Ausgestaltung offenbart, bei welcher die Kurzschließer pyrotechnische Schalter sind. Das betreffende Merkmal findet sich jedoch nicht im Anspruch 1 des Hauptantrags, sondern ist als Gegenstand des abhängigen Anspruchs 3 nur als vorteilhafte Weiterbildung zu verstehen. Anspruch 1 bezieht sich somit nicht zwingend auf eine aktiv (mittels pyrotechnischem Schalter) geschaltete Einheit. Die Tatsache, dass die vorteilhafte Ausbildung der Kurzschließer als pyrotechnische Schalter auf den Seiten 2 und 23 des Dokuments D0A offenbart sind, ist daher unbeachtlich.

Vor diesem Hintergrund war die von der Beschwerdegegnerin beantragte Feststellung (siehe Nr. 6 der Anträge unter Ziffer IV. oben), dass eine weitergehende Definition der Kurzschließer als pyrotechnische Schalter in Anspruch 1 die Gültigkeit des Prioritätsanspruchs aufgrund des Dokuments D0A begründet, im vorliegenden Beschwerdeverfahren nicht zu behandeln.

3.10 In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat die Beschwerdegegnerin weiterhin dargelegt, dass der Fachmann dem Inhalt der Seite 14 des Dokuments D0A einen Kurzschließer entnehmen würde. Es wurde in diesem Zusammenhang auf die oben abgebildete bearbeitete Seite 14 des Dokuments D0A verwiesen. Insbesondere werde dort die Verwendung eines "Mikro-Gas-Generators" und folglich eines pyrotechnischen Schalters offenbart, den der Fachmann aufgrund der Offenbarung auf Seite 2 des Dokuments D0A ("dass die Kurzschließer pyrotechnisches [sic] Schalter (2) sind") als Kurzschließer verstehen würde.

3.11 Die Kammer hält das Argument der Beschwerdegegnerin nicht für überzeugend. Denn selbst wenn der Fachmann der Seite 14 unmittelbar und eindeutig einen Kurzschließer bzw. eine kurzschließende Funktion des dort gezeigten Erdungsschalters entnommen hätte, so hätte der Fachmann der Seite 14 jedenfalls nur einen Kurzschließer mit Erdung entnommen. Die Erdung wohnt dem "Ultraschnellen Erdungsschalter" nicht nur begrifflich inne, sondern ist auf Seite 14 auch unstreitig deutlich erkennbar dargestellt. Ein Kurzschließer ohne Erdungsanschluss, entsprechend dem Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags, lässt sich somit auch unter Berücksichtigung der vorstehend dargelegten Argumente der Beschwerdegegnerin nicht entnehmen. Dieser Umstand bestätigt somit die Auffassung der Kammer, dass der Fachmann die u.a. auf Seite 2 beschriebene Kurzschließereinheit nicht ohne Weiteres gleich gesetzt hätte mit einem auf den Seiten 3 bis 22 beschriebenen Erdungsschalter. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht mehr auf die Frage an, ob es sich bei dem auf Seite 14 genannten "Mikro-Gas-Generator" um einen pyrotechnischen Schalter handelt.

3.12 Mit dem Antrag Nr. 5 beantragt die Beschwerdegegnerin hilfsweise festzustellen, dass die frühere Anmeldung gemäß D0A einen Kurzschließer offenbart, der ein pyrotechnischer Schalter sein kann, also auch ein ultra-schneller Schalter, der so schnell schalten kann, um Störlichtbögen zu löschen. Die Kammer betrachtet diesen Antrag der Beschwerdegegnerin als unbeachtlich für die vorliegend behandelte Frage, ob die Priorität basierend auf D0A für den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags wirksam in Anspruch genommen ist. Denn wie oben unter Punkt 3.9 bereits dargelegt wurde, ist das Merkmal "pyrotechnischer Schalter" nicht Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags, sodass sich selbst dann, wenn die beantragte Feststellung positiv zu bescheiden wäre, dies keinen Rückschluss auf die wirksame Inanspruchnahme der Priorität basierend auf D0A für den Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag ergeben würde.

3.13 Im Lichte der obigen Erwägungen ist die Kammer zu dem Schluss gelangt, dass die Priorität der früheren Anmeldung DE 10 2010 012 827.9 nicht wirksam für den Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag in Anspruch genommen ist.

4. Schlussbemerkungen

4.1 Da das Verfahren vor der Einspruchsabteilung einen wesentlichen Verfahrensmangel aufweist, welcher die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung rechtfertigt, war dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin stattzugeben.

4.2 Gemäß Antrag Nr. 7 hat die Beschwerdegegnerin die Zulassung des im Einspruchsverfahren mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2022 eingereichten ersten und zweiten Hilfsantrags beantragt. Da das vorliegende Beschwerdeverfahren jedoch auf die Frage des Vorliegens eines wesentlichen Verfahrensfehlers sowie der Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs des Gegenstands des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag beschränkt war, musste der Antrag Nr. 7 der Beschwerdegegnerin im vorliegenden Beschwerdeverfahren nicht behandelt werden.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung in einer anderen Besetzung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.

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