T 2366/22 (Ortungseinrichtung für spurgebundene Fahrzeuge/SIEMENS) of 23.10.2024

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2024:T236622.20241023
Datum der Entscheidung: 23 October 2024
Aktenzeichen: T 2366/22
Anmeldenummer: 17728152.4
IPC-Klasse: B61L 23/04
B61L 25/02
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zum Betreiben einer Ortungseinrichtung sowie Ortungseinrichtung
Name des Anmelders: Siemens Mobility GmbH
Name des Einsprechenden: ÖBB-Infrastruktur AG
Kammer: 3.5.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 128(4)
European Patent Convention R 144
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag und Hilfsanträge (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0246/22
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent in geänderter Fassung gemäß einem "Hauptantrag" aufrechtzuerhalten.

II. In ihrer Entscheidung berücksichtigte die Einspruchsabteilung unter anderem den folgenden Stand der Technik:

E6: WO 2013/114135 A2.

III. Am 23. Oktober 2024 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt. Die Schlussanträge der Parteien lauten wie folgt:

- Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Streitpatents.

- Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragt die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag), hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1 und 5. Alle anderen Hilfsanträge nahm sie zurück.

Am Ende der Verhandlung verkündete die Kammer ihre Entscheidung.

IV. Anspruch 1 gemäß dem Hauptantrag lautet wie folgt (Merkmalsgliederung durch die Kammer):

1.1 "Verfahren zum Betreiben einer Ortungs-einrichtung (10), die zum Orten eines spurgebundenen Fahrzeugs (210) auf einer Fahrstrecke (200) zumindest einen entlang der Fahrstrecke (200) verlegten Wellenleiter (50) umfasst, wobei

1.2 - auf das jeweilige spurgebundene Fahrzeug (210) bezogene Messdaten von einer streckenseitigen Sensoreinrichtung (81) erfasst werden,

1.3 - zumindest ein elektromagnetischer Puls in den Wellenleiter (50) eingespeist wird,

1.4 - zumindest ein durch Rückstreuung des zumindest einen elektromagnetischen Pulses erzeugtes Rückstreumuster detektiert und einer Auswertung unterzogen wird,

1.5 - zumindest eine im Rahmen der Auswertung ermittelte fahrzeugspezifische Kenngröße anhand der von der streckenseitigen Einrichtung erfassten Messdaten verifiziert wird und

1.6 - im Falle einer erfolgreichen Verifikation der zumindest einen im Rahmen der Auswertung ermittelten fahrzeugspezifischen Kenngröße von der Ortungseinrichtung (10) ein auf der Auswertung des zumindest einen Rückstreumusters basierendes, den jeweiligen Ort des spurgebundenen Fahrzeugs (210) angebendes Ortungssignal bereitgestellt wird."

V. Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags darin, dass die Merkmale des erteilten Anspruchs 2 hinzugefügt wurden, nämlich dass

1.7 "- die Messdaten von der streckenseitigen Sensoreinrichtung (81) bei Eintritt des spurgebundenen Fahrzeugs (210) in einen der Ortungseinrichtung (10) zugeordneten Streckenbereich erfasst werden,

1.8 - die erfassten Messdaten während des Aufenthalts des spurgebunden Fahrzeugs (210) in dem Streckenbereich zur Verifikation der jeweils ermittelten zumindest einen fahrzeug-spezifischen Kenngröße verwendet werden und

1.9 - von der Ortungseinrichtung (10) das Ortungssignal jeweils im Falle einer erfolgreichen Verifikation der zumindest einen fahrzeugspezifischen Kenngröße bereitgestellt wird."

VI. Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 5 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 darin, dass zu Merkmal 1.9 das Merkmal des erteilten Anspruchs 9 hinzugefügt wurde, nämlich dass das Ortungssignal

1.10 "für eine Frei- oder Belegtmeldung von in der Ortungseinrichtung (10) projektierten virtuellen Freimeldeabschnitten verwendet wird."

Entscheidungsgründe

1. Das Streitpatent betrifft einen Wellenleiter zur Positionsbestimmung von spurgebundenen Fahrzeugen, wie beispielsweise Eisenbahnzügen, wobei die durch die Auswertung der Rückstreumuster ermittelten Positionsangaben mit denen von anderen Sensoren abgeglichen werden.

2. Hauptantrag - erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)

2.1 Es herrscht allseitiger Konsens darüber, dass sich der Gegenstand von Anspruch 1 von der Offenbarung von Dokument E6 hinsichtlich der Merkmale 1.2, 1.5 und 1.6 unterscheidet.

2.2 Die aufgrund dieser Unterscheidungsmerkmale erzielte technische Wirkung und die objektiv gelöste technische Aufgabe war Gegenstand der Diskussionen während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer. In Übereinstimmung mit den Parteien sieht auch die Kammer letztendlich die zugehörige objektive technische Aufgabe darin, das aus Dokument E6 bekannte System so anzupassen, dass die gesetzlichen Anforderungen an die signaltechnische Sicherheit unter Verwendung vorhandener Infrastruktur erfüllt werden.

2.3 Hierzu offenbart das Dokument E6 auf Seite 10, Zeilen 12-14, einen "general validity check" unter Verwendung vorhandener Infrastruktur ("additional location devices"). Die vorhandene Infrastruktur ist dem Fachmann bekannt. Dazu zählen geeignete fahrzeugseitige oder streckenseitige Einrichtungen. Zur Lösung der objektiven Aufgabe hätte der Fachmann daher - unter Berücksichtigung der Umstände - geeignete, bereits vorhandene Einrichtungen ohne Weiteres ausgewählt und wäre so ohne erfinderisches Zutun zum beanspruchten Gegenstand gelangt. Folglich ist der Gegenstand von Anspruch 1 nicht erfinderisch gegenüber Dokument E6.

2.4 Die Kammer weist darauf hin, dass sich die angefochtene Entscheidung nicht mit der Frage der erfinderischen Tätigkeit gegenüber diesem herangezogenen allgemeinen Fachwissen beschäftigt, sondern sich lediglich auf die Unzulänglichkeiten der weiteren zitierten Dokumente fokussiert (siehe Gründe 15.5 und 15.6 der Entscheidung).

2.5 Vor diesem Hintergrund ist auch das Vorbringen der Patentinhaberin nicht überzeugend, dass der auf Dokument E6 und dem allgemeinen Fachwissen beruhende Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit im erstinstanzlichen Verfahren nicht aufrechterhalten worden wäre. Die Kammer verweist hierzu auf die Gründe 15.5, Zeilen 10-14 der angefochtenen Entscheidung, worin im Zusammenhang mit der erfinderischen Tätigkeit ein Vortrag der Einsprechenden hinsichtlich des allgemeinen Fachwissens wiedergegeben wird.

2.6 Die Patentinhaberin argumentiert ferner, dass das Dokument E6 dem Fachmann keinen Hinweis gebe, das im System von Dokument E6 vorhandene bordeigene und zuverlässig im Fahrzeug verfügbare Sensorsystem nicht zu verwenden.

Die Kammer sieht das anders. Wie von der Einsprechenden vorgetragen, empfiehlt Dokument E6 (vgl. Seite 10, dritter Absatz) die Verwendung von "additional positional/additional locations device" um die Messergebnisse zu validieren. Die Vor- und Nachteile bordeigener und streckenseitiger Sensorsysteme werden in Dokument E6 näher beschrieben (siehe Seiten 1 und 2), so dass der Fachmann durchaus aus diesen eine Lösung ausgewählt hätte, in Abhängigkeit von seinem Fachwissen und den spezifischen Gegebenheiten.

2.7 Auch trägt die Patentinhaberin vor, dass der in Dokument E6 auf Seite 16, Zeile 21 genannte "data check" der beanspruchten "Verifikation" am nächsten käme und daher das betreffende Ausführungsbeispiel als das erfolgversprechendste Beispiel auch für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu verwenden wäre. Insbesondere offenbare Dokument E6 den "general validity check" ohne weitere Zusätze. Zudem sei die offenbarte zusätzliche Positionierung fahrzeugbasiert und diene nur als "fall back". Selbst wenn der Fachmann die ebenfalls offenbarten streckenseitigen "absolute position references (APRs)" (dt.: "Balisen") in Betracht zöge, würde nicht das anspruchsgemäße Merkmal der "von der streckenseitigen Einrichtung erfassten Messdaten" verwirklicht. Bei "Balisen" erfolge nämlich keine streckenseitige Messung.

Dieses Argument verfängt nicht, da dem Fachmann Einrichtungen, die auf der streckenseitigen Erfassung von Messdaten beruhen, zum Prioritätsdatum allgemein bekannt waren, wie beispielsweise "Achszähler" oder "Gleisstromkreise". Auch diese Einrichtungen hätte der Fachmann durchaus in Betracht gezogen, um den im Dokument E6 auf Seite 10, Zeilen 12-15, offenbarten "general validity check" umzusetzen.

2.8 Schließlich argumentiert die Patentinhaberin, dass bei einer Plausibilitätsprüfung im Gegensatz zu einer Verifizierung nicht festgestellt werde, welches der Ergebnisse korrekt sei.

Die Kammer stimmt hier der Einsprechenden zu, dass dieses Verständnis der obigen Begrifflichkeiten nicht einmal der Bedeutung dieser Begriffe in der Offenbarung des Streitpatents entspricht (vgl. z. B. Absatz [0036]: "Überprüfung oder Plausibilisierung der zumindest einen fahrzeugspezifischen Kenngröße"; Absatz [0057]: "weitere Plausibilisierung beziehungsweise Überprüfung der zumindest einen fahrzeugspezifischen Kenngröße"). Somit verfängt auch dieses Argument der Patentinhaberin nicht.

2.9 Folglich ist der Gegenstand von Anspruch 1 nicht erfinderisch gegenüber dem betrachteten Stand der Technik (Dokument E6) in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen des Fachmanns.

2.10 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist der Hauptantrag nach Artikel 56 EPÜ nicht gewährbar.

3. Hilfsanträge 1 und 5

Hilfsanträge 1 und 5 wurden im erstinstanzlichen Verfahren "in zulässiger Weise" vorgebracht (vgl. T 246/22, Leitsatz) und aufrechterhalten. Daher liegen diese Hilfsanträge auch dem Beschwerdeverfahren zugrunde (Artikel 12 (4) Satz 1 VOBK).

3.1 Hilfsantrag 1 - erfinderische Tätigkeit

3.1.1 Die Kammer hält das Vorbringen der Einsprechenden zu Hilfsantrag 1 für überzeugend, wonach sich die breit formulierten Merkmale 1.7 bis 1.9 in notwendiger Weise bei der praktischen Umsetzung des Verfahrens gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags ergeben. Daher ist Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 aus den bereits zum Hauptantrag ausgeführten Erwägungen nicht erfinderisch gegenüber Dokument E6.

3.1.2 Die Patentinhaberin argumentiert, dass es durch die hinzugefügten Merkmale ermöglicht werde, dass eine Verifikation mehrfach durchgeführt werden könne. Dieses Argument vermag jedoch nicht zu überzeugen, da eine mehrfache Verifikation nicht aus dem Anspruchswortlaut ableitbar ist.

3.1.3 Auch ist die Kammer nicht von dem Argument der Patentinhaberin überzeugt, dass Merkmal 1.7 den beanspruchten Gegenstand auf "Freimeldeabschnitte" einschränke und somit durch die Verwendung vorhandener Streckenabschnitte die spezifischere Aufgabe gelöst werde, eine "lückenlose Überwachung der wellenleiter-basierten Positionierung zu ermöglichen". Wie von der Einsprechenden beanstandet, erwähnt Merkmal 1.7 lediglich einen einzigen Streckenabschnitt, so dass eine lückenlose Überwachung dem Anspruchswortlaut nicht zu entnehmen ist. Auch werden die Eigenschaften des Streckenabschnitts nicht weiter spezifiziert.

3.1.4 Schließlich verfängt auch das Argument der Patentinhaberin nicht, dass ausgehend von Dokument E6 nicht die geforderte Sicherheit erreicht werde, da der "data check" auf der "Zuglänge" basiere. Letztere werde jedoch oft nur manuell bereitgestellt und sei somit nicht ausreichend verlässlich. Auch dieses Argument ist nicht überzeugend, da die von der Kammer akzeptierte Argumentationslinie auf dem "general validity check" des Dokuments E6 basiert, wobei explizit ein "additional positional [...] device" verwendet wird und mithin eben nicht die "Zuglänge".

3.1.5 Folglich ist auch Hilfsantrag 1 nach Artikel 56 EPÜ nicht gewährbar.

3.2 Hilfsantrag 5 - erfinderische Tätigkeit

3.2.1 Hinsichtlich Hilfsantrag 5 ist die Kammer nicht davon überzeugt, dass die mit dem hinzugefügten Merkmal 1.10 verbundene objektive technische Aufgabe darin bestünde, die Auswertung von Rückstreumustern mit möglichst geringem Aufwand signaltechnisch sicher durchzuführen. Die Kammer stellt fest, dass das hinzugefügte Merkmal keine Lösung für die genannte Aufgabe bietet, da der erforderliche Aufwand dadurch offensichtlich nicht verringert wird. Folglich kann die von der Patentinhaberin vorgetragene Aufgabe auch nicht für die Zwecke des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes verwendet werden.

3.2.2 Demgegenüber überzeugt das Argument der Einsprechenden, dass sich durch das Merkmal 1.10 die oben formulierte objektive technische Aufgabe gar nicht ändert.

3.2.3 Das Merkmal 1.10 war nämlich naheliegend, da bereits zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents die Verwendung von "virtuellen Freimeldeabschnitten" allgemein bekannt war. Hierzu erwähnt Dokument E6 in der Zusammenfassung ein "moving block signalling", was bekanntermaßen eine Alternative zu den "virtuellen Freimeldeabschnitten" des Merkmals 1.10 darstellt. Dies wird auch durch Absatz [0026] der Beschreibung des Streitpatents bestätigt.

Da der Fachmann Vor- und Nachteile beider Zugsicherungstechnologien kennt, hätte er - unter Berücksichtigung der spezifischen Gegebenheiten - ohne erfinderisches Zutun die eine Technologie durch die andere ersetzt. Dadurch wäre er in naheliegender Weise zum Merkmal 1.10 gelangt. Somit ist aus diesen und den zum Hauptantrag und zu Hilfsantrag 1 genannten Erwägungen der Gegenstand von Anspruch 1 naheliegend.

3.2.4 Überdies stellt die in Merkmal 1.10 spezifizierte Verwendung keine wirksame Einschränkung des entsprechenden Vorrichtungsanspruchs 8 dar, wie von der Einsprechenden vorgetragen.

3.2.5 Aus den genannten Gründen ist auch Hilfsantrag 5 nach Artikel 56 EPÜ nicht gewährbar.

4. Ausschluss von der Akteneinsicht (Regel 144 EPÜ)

4.1 In ihrer Beschwerdebegründung beantragte die Einsprechende, die Anlage E29 aus urheberrechtlichen Gründen von der Akteneinsicht auszunehmen. Anlage E29 enthält einen Auszug (fünf Seiten zzgl. Titelseite) aus dem deutlich längeren Regelwerk "ÖVE/ÖNORM EN 50128".

4.2 Mit den Schlussanträgen (siehe Punkt III oben) wurde der Antrag auf Ausschluss von der Akteneinsicht jedoch nicht aufrechterhalten. Infolgedessen greift die allgemeine Regel, dass alle eingereichten Dokumente öffentlich einsehbar sind, mithin auch die Anlage E29 (Artikel 128 (4) EPÜ).

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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