T 2274/22 () of 13.5.2024

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2024:T227422.20240513
Datum der Entscheidung: 13 Mai 2024
Aktenzeichen: T 2274/22
Anmeldenummer: 17169341.9
IPC-Klasse: F04C 18/08
F04C 18/16
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: SCHRAUBENVERDICHTER MIT MEHRSCHICHTIGER BESCHICHTUNG DER ROTORSCHRAUBEN
Name des Anmelders: Kaeser Kompressoren SE
Name des Einsprechenden: Atlas Copco Airpower N.V.
Kammer: 3.2.04
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 24(3)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 011
Schlagwörter: Besorgnis der Befangenheit - (ja)
Zurückverweisung - verhältnismäßig
Orientierungssatz:

Gründe 4.2 bis 4.4

Angeführte Entscheidungen:
G 0005/91
G 0001/05
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Streitpatent zu widerrufen.

In dieser hatte die Einspruchsabteilung unter anderem festgestellt, dass der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 1 und 26 gemäß Hauptantrag (erteilte Fassung) sowie der der Hilfsanträge 1 und 2 (ursprünglicher modifizierter Hilfsantrag 8 und ursprünglicher Hilfsantrag 6) nicht erfinderisch sei.

Während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung wurde ein von der Patentinhaberin eingereichter Antrag auf Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit zurückgewiesen.

II. In einer Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK hat die Kammer die vorläufige Auffassung geäußert, dass die Mitwirkung der Mitglieder der Einspruchsabteilung an der Entscheidung einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt, da gegen sie eine berechtigte Besorgnis der Befangenheit bestand.

III. Am 13. Mai 2024 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer unter Beteiligung aller Parteien statt.

IV. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückweisung des Einspruchs. Hilfsweise beantragt sie die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung eines der erstinstanzlich eingereichten Hilfsanträge 1 - 18, weiter hilfsweise, den Fall an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragt die Zurückweisung der Beschwerde. Lediglich bedingt beantragt sie die Sache an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung zurückzuverweisen, falls die Kammer auf erfinderische Tätigkeit ausgehend von E1 erkennen würde.

V. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Bereits die Anwesenheit eines Vertreters der Einsprechenden während eines Teils der Vorbesprechung der Einspruchsabteilung mit den Dolmetschern stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Dass die Einspruchsabteilung von sich aus keine Anstalten traf, den Vorfall aufzuklären, erweckt den objektiven Eindruck ihrer Parteilichkeit. Folglich hätte sie nicht über den Fall entscheiden dürfen, was einen weiteren schwerwiegenden Verfahrensmangel darstellt.

Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Ein objektiver Beobachter hätte nicht den Eindruck, die Einspruchsabteilung habe absichtlich die Patentinhaberin benachteiligt. Die Zuschaltung eines Einsprechendenvertreters zum Dolmetscher-Briefing beruhte unstrittig auf einem Versehen. Die Einspruchsabteilung hat in der Überzeugung, keinerlei über den Inhalt des Ladungszusatzes hinausgehende Informationen geteilt zu haben, keine Notwendigkeit gesehen, den für sie somit belanglosen Vorfall zu thematisieren. Selbst wenn dies ein Fehler gewesen wäre, kann man darin keine Absicht erkennen, die Patentinhaberin zu benachteiligen. Eine Befangenheit ist nicht bereits aufgrund eines möglichen Verfahrensfehlers zu befürchten.

Im übrigen war die Patentinhaberin auch objektiv nicht benachteiligt, denn sie hat vor Beginn der sachlichen Debatte den gleichen Kenntnisstand über den Inhalt der Vorbesprechung erlangt wie die Einsprechende.

Im Hinblick darauf, dass also gar keine wirkliche Benachteiligung vorlag, und die Patentinhaberin in der Folge ihre Anträge in einem ordnungsgemäßen Verfahren angemessen verteidigen konnte, wäre eine Zurückverweisung mit der damit verbundenen Verfahrensverzögerung und Rechtsunsicherheit für Dritte nicht verhältnismäßig.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Der Sachverhalt

2.1 Die Ladung zu einer mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung am 2. Juni 2022 um 9:30 trägt das Datum 19. Oktober 2021. Die Frist nach Regel 116 EPÜ für die Einreichung von Unterlagen wurde auf den 1. April 2022 bestimmt. In Abschnitt 4 des Ladungszusatzes sah die Einspruchsabteilung den Gegenstand der Ansprüche 1, 26 und 27 als nicht erfinderisch an.

Mit Schreiben vom 30. März 2022 reichte die Patentinhaberin weitere Hilfsanträge 2 - 18 ein.

Eine Kurzmitteilung vom 14. April 2022 informierte die Parteien, dass die mündliche Verhandlung per Videokonferenz abgehalten wird.

Die Einsprechende hatte bereits mit Schreiben vom 1. April 2022 angekündigt, dass auf ihrer Seite neben dem zugelassenen Vertreter zwei Mitarbeiter der Einsprechenden, darunter Herr T., als Mitglieder der Öffentlichkeit an der mündlichen Verhandlung teilnehmen werden und um Übersendung eines Teilnahme-Links an diese gebeten.

2.2 Der Ablauf der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung lässt sich anhand des Protokolls und seiner Anhänge, und anhand der Parteivorträge rekonstruieren. Die Parteien bestätigen, dass das Protokoll die Tatsachen und den wesentlichen Ablauf korrekt wiedergibt. Die Parteien sind sich auch über die weiteren Ereignisse einig, die sich nicht unmittelbar aus der Niederschrift ergeben, aber für die Teilnehmer objektiv feststellbar gewesen sind.

2.2.1 Vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung informierte die Einspruchsabteilung die Dolmetscher in einem virtuellen Besprechungsraum, der dafür als einer von mehreren sogenannten "breakout rooms" der Videokonferenz im zoom Format eingerichtet ist. Ein anderer solcher Besprechungsraum ist beispielsweise der Beratungsraum für die Einspruchsabteilung. Zu Beginn einer Videokonferenz werden die Teilnehmer den breakout rooms zugewiesen, zu denen sie - zusätzlich zur Hauptsitzung - Zugang haben sollen. Dabei ist Herr T. (von der Einsprechenden-Seite) wohl unbeabsichtigt dem Dolmetscher-Besprechungsraum zugeordnet worden, wo er mehr als 10 Minuten zugegen war und mithörte, bevor er über die chat-Funktion die anderen Besprechungsteilnehmer darüber in Kenntnis setzte und ausgeschlossen wurde (siehe E-mail mit Kurzprotokoll im Anhang zum Protokoll, im folgenden "Kurzprotokoll"). Während dieser Zeit kommunizierte Herr T. über Whatsapp dem zugelassenen Vertreter der Einsprechenden sowie seinem Kollegen Details aus dem mitgehörten Inhalt der Vorbesprechung.

2.2.2 Der Vorsitzende der Einspruchsabteilung eröffnete laut Protokoll die mündliche Verhandlung um 09:46. Nach einer Einführung in das Verfahren und seinen Sach- und Streitstand leitete er zur Diskussion der geltend gemachten Einspruchsgründe über.

Daraufhin intervenierte der Vertreter der Einsprechenden und machte den obigen Vorfall publik, den er als Verfahrensfehler bezeichnete (Abschnitt 2 des Protokolls). Der Vorsitzende kommentierte den Vorfall mit dem allgemeinen Hinweis, dass "in einer solchen Besprechung den Dolmetschern lediglich die bekannten Fakten und thematischen Schwerpunkte vorgestellt werden und [diese] der vorläufigen Meinung der Einspruchsabteilung vom 19. Oktober 2021 entsprechen", Abschnitt 3.

2.2.3 Die Patentinhaberin befürchtete eine Benachteiligung, weil sie nicht Zugang zu den gleichen Informationen wie die Einsprechende hatte, und sprach dabei offensichtlich erstmals eine Neubesetzung der Einspruchsabteilung an. Jedenfalls reagierte die Einsprechende mit der Erklärung, sie sei mit einer Verhandlung vor der Einspruchsabteilung in ihrer gegenwärtigen Besetzung einverstanden (Abschnitt 7 des Protokolls), und dem Angebot, die erhaltenen Informationen schriftlich zur Verfügung zu stellen, was sie mit dem Kurzprotokoll anschließend auch tat.

2.2.4 Die Patentinhaberin war der Auffassung, der Informationsgehalt des Kurzprotokolls gehe entgegen der Aussage des Vorsitzenden über den Inhalt des Ladungszusatzes hinaus, und beantragte schließlich schriftlich die Ablehnung der Einspruchsabteilung wegen Besorgnis der Befangenheit (Anhang des Protokolls).

Der Vorsitzende legte den Antrag der zuständigen Direktorin vor und führte ab 13:09 die Verhandlung zu den Sachthemen unter Vorbehalt weiter.

Gegen 15:00 lag die Entscheidung über die Ablehnung der Einspruchsabteilung vor, die zu dem Ergebnis kommt, es bestehe keine Besorgnis der Befangenheit (siehe Anhang der angegriffenen Entscheidung).

3. Verfahrensfehler im Vorfeld der mündlichen Verhandlung

3.1 Die Anwesenheit einer Partei in einer Vorbesprechung zwischen einem oder mehrerer Mitglieder einer Einspruchsabteilung und den Dolmetschern stellt grundsätzlich einen Verfahrensfehler dar, unabhängig davon, ob dieser durch einen technischen oder menschlichen Fehler verursacht wurde.

3.1.1 In solchen Vorbesprechungen wird üblicherweise, wie die Kammer aus eigener Erfahrung weiß, nicht bloß der Ladungszusatz verlesen, der den Dolmetschern ohnehin vorliegt, sondern werden darüber hinaus den Dolmetschern Informationen zur Verfügung gestellt, die es ihnen erleichtern sollen, sich auf den voraussichtlichen Ablauf der Verhandlung einzustellen und vorzubereiten. Dazu gehört beispielsweise, welche Fragestellungen derzeit als entscheidungserheblich angesehen und in welcher Reihenfolge diese behandelt werden, wie gegebenenfalls weitere Schriftsätze einzuordnen sind, die nach Erhalt des Ladungszusatzes eingegangen sind, ob sich dadurch etwas an der dort formulierten vorläufigen Auffassung geändert hat, insbesondere im Fall damit eingereichter weiterer Dokumente oder Hilfsanträge, ob diese voraussichtlich zugelassen werden und ob sich ein erfolgversprechender darunter befindet. Mit anderen Worten erhalten die Dolmetscher eine aktuelle und gegebenenfalls aktualisierte vorläufige Einschätzung der Sachlage und der zu erörternden, entscheidungserheblichen Sachfragen. Dazu kann auch die Tatsache gehören, dass sich überhaupt nichts an der vorläufigen Meinung gemäß Ladungszusatz geändert hat.

3.1.2 Hierbei handelt es sich zwar um keine vertraulichen Informationen in dem Sinn, dass sie später im Rahmen einer effizienten und zielgerichteten Verhandlungsführung den Parteien nicht auch zur Verfügung gestellt werden können. Jedoch ist es offensichtlich mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung und des Rechts auf ein faires Verfahren unvereinbar, wenn nur eine Partei schon vorab über sie verfügt, die andere aber erst später oder womöglich überhaupt nicht. Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist in Artikel 6(1) EMRK verankert und nach Ansicht der Kammer auch für das Einspruchsverfahren verbindlich, weil er auf Rechtsgrundsätzen beruht, die allen Mitgliedstaaten der Europäischen Patentorganisation gemeinsam sind und für alle ihre Organe gelten, siehe RSdBk, 10. Auflage, III.J.1.3, letzter Absatz.

3.2 Ein solcher Verfahrensfehler muss aber nicht zwangsläufig in einen schwerwiegenden münden, wie ihn eine Verletzung des obigen Grundsatzes durch tatsächliche Benachteiligung der bei der Vorbesprechung abwesenden Partei darstellen würde. Vielmehr kann er dadurch geheilt werden, dass die abwesende Partei vor Eröffnung der sachlichen Debatte auf den gleichen Kenntnisstand wie die anwesende gesetzt wird. Vorliegend ist dies durch das Kurzprotokoll erfolgt sowie das Angebot der Einsprechenden, Herrn T. zu befragen, Abschnitt 9 des Protokolls. Diese Maßnahmen erachtet die Kammer als geeignet und ausreichend, um nach einem solchen Vorfall ein faires Verfahren sicherzustellen, siehe dazu auch Punkt 5.4 unten.

3.3 Die Anwesenheit von Herrn T. während eines Teil der Dolmetscher-Besprechung stellt also in diesem Fall keinen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar, der zwangsläufig zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führen müsste.

4. Besorgnis der Befangenheit

4.1 In G 5/91 (ABl. 1992, 617) erklärte die Große Beschwerdekammer, dass sich Artikel 24 EPÜ zwar nur auf die Mitglieder der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer bezieht, es aber als allgemeiner Rechtsgrundsatz zu betrachten ist, dass niemand über eine Angelegenheit entscheiden darf, in der ihn ein Verfahrensbeteiligter aus guten Gründen der Befangenheit verdächtigen kann, siehe RSdBK, III.J.1.6. Mit anderen Worten kann auch die Ablehnung einer Einspruchsabteilung analog zu Artikel 24(3) Satz 1 EPÜ nicht nur dann gerechtfertigt sein, wenn tatsächlich eine Befangenheit gegeben ist, sondern es reicht aus, dass eine Besorgnis, d.h. ein Anschein der Befangenheit vorliegt (G 1/05, RSdBK, III.J.1.5, dritter Absatz).

4.2 Da die Zuschaltung eines Parteivertreters in den virtuellen Besprechungsraum vorliegend unstreitig versehentlich erfolgt war, und die Einspruchsabteilung sie umgehend beendete, sobald sie ihrer gewahr wurde, besteht objektiv kein Verdacht, die Einspruchsabteilung habe hier willentlich für eine Bevorzugung der Einsprechenden gesorgt oder diese auch nur billigend in Kauf genommen. Allein die Anwesenheit von Herrn T. beim Dolmetscher-Briefing begründet also keine Besorgnis der Befangenheit der Einspruchsabteilung.

4.3 Zu einem anderen Ergebnis kommt die Kammer im Hinblick auf den Ablauf zu Beginn der mündlichen Verhandlung.

4.3.1 Nach ständiger Rechtsprechung ist für eine Besorgnis der Befangenheit maßgeblich, ob ein vernünftiger, objektiver Beobachter unter Berücksichtigung der Umstände des Falls zu dem Schluss gelangen würde, dass die Patentinhaberin die Unbefangenheit der Einspruchsabteilung mit gutem Grund in Zweifel ziehen könnte, siehe RSdBK, III.J.1.1.5, Ende des letzten Absatzes. Die Tatsache, dass die Einspruchsabteilung den Vorfall nicht von sich aus angesprochen und der Patentinhaberin mitgeteilt hat, stellt für die Kammer bereits einen solchen Umstand und guten Grund dar, der geeignet ist, bei der Patentinhaberin den Eindruck einer Parteilichkeit zu erwecken. Dass die Einspruchsabteilung sich auch nach Intervention der Einsprechenden, die ausdrücklich auf einen möglichen Verfahrensfehler hingewiesen hatte, nicht aktiv an der Aufklärung der Vorfalls beteiligte, sondern den Vorschlag der Einsprechenden, eine schriftliche Zusammenfassung einzureichen, abwartete und diesem lediglich zustimmte, kann einen solchen Eindruck noch verstärken.

Übertragen auf eine "analoge" Verhandlung scheint der Kammer die Situation vergleichbar mit einer Partei, die vor Verhandlungsbeginn die andere Partei aus dem Beratungszimmer des Spruchkörpers treten sieht. Auch wenn es hierfür völlig unverfängliche Gründe geben mag, wie dass sie sich in der Tür geirrt hat, würde ein objektiver Beobachter einen möglichen Anfangsverdacht der Parteilichkeit bestätigt sehen, wenn der Spruchkörper im Anschluss schweigend über den Vorfall hinweg ginge, anstatt aktiv dessen Aufklärung zu betreiben, indem er die Umstände erläutert und sich mit den Parteien über möglicherweise Mitgehörtes austauscht.

4.3.2 Entgegen der Auffassung, wie sie im zweiten Absatz auf Seite 2 der Entscheidung über den Einwand der Befangenheit zum Ausdruck zu kommen scheint, ist es nicht maßgeblich, ob die Einspruchsabteilung aufgrund ihrer eigenen Erinnerung an den Inhalt der Vorbesprechung, von dem die Patentinhaberin keine Kenntnis hat, zu der Einschätzung kommt, es sei nicht nötig, den Vorfall anzusprechen, weil die Patentinhaberin ihrer Meinung nach nicht dadurch benachteiligt war. Ein solche Art von Ermessen kann nicht an Stelle des neutralen Beobachters treten, der die Situation aus der Warte der Patentinhaberin objektiv beurteilt. Denn die Erinnerung eines Einzelnen oder eines Kollektivs ist immer in gewisser Weise subjektiv. So war vorliegend der Vorsitzende der Einspruchsabteilung der Ansicht, nichts über den Inhalt des Ladungszusatzes hinausgehendes in Anwesenheit von Herrn T. besprochen zu haben, dieser entnahm dem Gespräch hingegen, dass ein Dokument E1 als nächster Stand der Technik angesehen wurde (letzter Absatz des Kurzprotokolls), wovon im Ladungszusatz nicht die Rede war. Ob dies nun der Fall war oder zu den nicht näher benannten "inkorrekten Fakten" zählt, die das Kurzprotokoll laut der Entscheidung über den Einwand der Befangenheit angeblich enthält (Seite 2, zweiter Absatz), hätte die Einspruchsabteilung in einer Stellungnahme zum Kurzprotokoll klären und so beide Parteien auf den gleichen Kenntnisstand setzen können. Dass eine inhaltliche Auseinandersetzung der Einspruchsabteilung mit dem Kurzprotokoll ausblieb, stellt aus Sicht eines objektiven Beobachters einen weiteren Umstand und Grund dar, der zum Anschein ihrer Befangenheit beiträgt.

4.3.3 Es kann dahingestellt bleiben, ob ein objektiver Beobachter auch den Eindruck gewinnen könnte, dass die Einspruchsabteilung während des gesamten Verfahrens einschließlich der mündlichen Verhandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit in gutem Glauben, wenn auch nicht unbedingt korrekt gehandelt hat. Die Besorgnis der Befangenheit ist bereits dann gegeben, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, auch wenn andere Tatsachen dagegen sprechen mögen. Es genügt, wenn ein objektiver Beobachter die Befangenheit nicht mit Sicherheit ausschließen kann.

4.4 Zusammenfassend war eine Befangenheit der Einspruchsabteilung im vorliegenden Fall objektiv zu besorgen, da diese keine der aufgetretenen Gelegenheiten ergriff, die Patentinhaberin selbst über den Vorfall zu informieren und selbst zu dessen Aufklärung beizutragen. Daher hätte dem Antrag der Patentinhaberin auf Ablehnung ihrer Mitglieder aus diesem Grund analog zu Artikel 24(3) EPÜ stattgegeben und die Einspruchsabteilung neu besetzt werden müssen.

5. Zurückverweisung

5.1 Die angefochtene Entscheidung hätte also nicht von der Einspruchsabteilung in ihrer ursprünglichen Besetzung getroffen werden dürfen. Dass dies dennoch geschah, stellt einen schwerwiegenden Verfahrensmangel dar, der zur Aufhebung der angefochtene Entscheidung und zur Zurückverweisung des Falls an eine neu zu besetzende Einspruchsabteilung führt, Artikel 11(1) VOBK und RSdBK, III.J.4.2, 1. Absatz.

5.2 Diese Rechtsfolgen und die damit verbundene erhebliche Verfahrensverzögerung, die auch zu Lasten der Öffentlichkeit wegen fortbestehender Unsicherheit hinsichtlich der Rechtsbeständigkeit des Patents geht, hält die Beschwerdegegnerin für unverhältnismäßig gegenüber dem möglichen Versäumnis der Einspruchsabteilung, sich aktiv an der Information der Patentinhaberin zu beteiligen. Zum einen sei der Beschwerdeführerin kein Nachteil aus diesem Versäumnis entstanden, denn sie erhielt ja schließlich alle Informationen von der Beschwerdegegnerin. Zum anderen hätte ein objektiver Beobachter erkannt, dass das Versäumnis auf eine Fehleinschätzung der Einspruchsabteilung zurückzuführen sei, wie mit einem solchen Fall umzugehen sei, sie jedoch aus bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe. Selbst wenn dies womöglich zu einem minder schweren, weil letztlich folgenlosen Verfahrensfehler führte, würde ein objektiver Beobachter nicht daraus schließen, die Einspruchsabteilung hätte in irgendeiner Weise eine Benachteiligung der Patentinhaberin beabsichtigt. Daher läge objektiv auch kein Anschein ihrer Befangenheit und jedenfalls kein schwerwiegender Verfahrensmangel vor, der eine Zurückverweisung rechtfertigte.

5.3 Die Kammer hat die Gründe, aus denen der passive Umgang der Einspruchsabteilung mit dem Vorfall durchaus für die Patentinhaberin den Anschein ihrer Befangenheit erwecken kann, bereits oben dargelegt. Dabei kommt es vorliegend weder darauf an, ob die Einspruchsabteilung die Patentinhaberin benachteiligen wollte, wovon die Kammer nicht ausgeht, noch darauf, ob die Einspruchsabteilung selbst davon überzeugt war, die Einsprechende hätte keine neuen Informationen erhalten, und nicht einmal darauf, ob dies tatsächlich der Fall war. Entscheidend ist die Außenwirkung, die ein bewusstes Verschweigen eines solchen Vorfalls auf jemandem hat, der eben nicht zugegen war, also auch nicht selbst beurteilen kann, wie relevant die mitgehörten Informationen sind. Wegen der räumlichen Distanz und nur mittelbaren Präsenz in einer Videokonferenz kann hier eine negative Außenwirkung oder ein "schlechter Eindruck" sogar schneller entstehen und somit auch die Schwelle sinken, ab der eine Befangenheit befürchtet wird.

5.3.1 Zudem ist das Risiko für derartige Vorkommnisse bei Videokonferenzen ungleich höher als bei mündlichen Verhandlungen unter persönlicher Anwesenheit. So ist zum Beispiel bei der verwendeten Videokonferenz-Technologie (zoom) nicht sofort ersichtlich, dass jemand bei ausgeschalteter Kamera in einem virtuellen Raum anwesend ist. Auch mag durch die Darstellung und die Anzahl der einzelnen Teilnehmerfenster auf dem Bildschirm nicht sofort erkennbar sein, dass alle Anwesenden in einem virtuellen Raum sich tatsächlich berechtigt dort aufhalten. Insbesondere bei zahlreichen Teilnehmern und Dolmetschern sind die auf dem Bildschirm sichtbaren Teilnehmerfenster verhältnismäßig klein, und kann eine Person leicht übersehen werden und/oder ein nicht näher bezeichneter Teilnehmer irrtümlich für einen der Dolmetscher gehalten werden.

5.3.2 Um das Vertrauen der Beteiligten in die Eignung des Formats zur Durchführung von streitigen mündlichen Verhandlungen und in seine Verlässlichkeit sicherzustellen und zu bestärken, sind daher hohe Maßstäbe an eine ordnungsgemäße Verhandlungsführung und insbesondere den Umgang mit technischen Pannen zu legen. Bricht beispielsweise die Verbindung zu einer Teilnehmerin vorübergehend ab, muss danach selbstverständlich geklärt werden, bis zu welchem Punkt sie die Verhandlung mitverfolgen konnte, und gegebenenfalls nicht mehr Gehörtes für sie wiederholt werden. Unter solchen Umständen ist der betroffenen Partei natürlich selbst bewusst, dass während ihrer Abwesenheit die Gegenpartei mehr gehört haben könnte als sie selbst. Sie kann daher die Bestätigung erwarten, dass während ihrer Abwesenheit nichts geschehen ist, was ihre Rechte auch nur dem Anschein nach beeinträchtigen könnte.

Im vorliegenden Fall hat die Patentinhaberin zunächst gar nicht erkennen können, dass die Gegenpartei womöglich einen Vorteil erlangt haben könnte. Umso mehr hätte sie erwarten dürfen, dass sie umgehend von der Einspruchsabteilung darüber informiert wird, wenn ein Mitglied der gegnerischen Partei versehentlich und unbemerkt wesentlich früher als sie selbst aus einem virtuellen Warteraum zugelassen wurde, zumal in einen virtuellen Vorbesprechungsraum, und dass der Vorfall mit allen Beteiligten vollständig aufgeklärt wird.

5.4 Der Beschwerdegegnerin mag es subjektiv übertrieben erscheinen, dass ein scheinbar unbeabsichtigter Fehler in der Verfahrensführung große Auswirkungen nach sich zieht. Darauf, wie groß der ursprüngliche Fehler war, kommt es aber in der Regel nicht an, wenn er letztlich ursächlich für einen wesentlichen Verfahrensmangel war. Entscheidend ist allein, dass der aus ihm resultierende Verfahrensmangel als so schwerwiegend eingestuft wird, dass er zu einer Zurückverweisung führt. Dies ist vorliegend der Fall.

Die Kammer ist sich darüber im Klaren, dass "wesentliche Mängel des Verfahrens" nach Artikel 11 VOBK nicht zwingend, sondern nur "in der Regel" als besondere Gründe gelten, die für eine Zurückverweisung sprechen. Andere besondere Gründe, die gegebenenfalls trotz des schwerwiegenden Verfahrenfehlers einer Zurückverweisung entgegenstehen, und so eine Ausnahme von der Regel rechtfertigen könnten, kann sie aber nicht erkennen. Insbesondere stellt die zu erwartende Verfahrenverzögerung keinen besonderen Umstand da, sondern ist einer Zurückverweisung immanent und vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen worden.

6. Ergebnis

Mit ihrer Beschwerde ficht die Patentinhaberin erfolgreich die in der "Entscheidung über den Einwand der Befangenheit der Einspruchsabteilung" als Teil der angefochtenen Entscheidung getroffene Feststellung an, die Besorgnis der Befangenheit sei nicht berechtigt. Damit ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben, die nicht von der Einspruchsabteilung in ihrer ursprünglichen Zusammensetzung getroffen hätte werden dürfen, die Neubesetzung der Einspruchsabteilung anzuordnen und der Fall zurückzuverweisen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an eine Einspruchsabteilung zurückverwiesen, die gemäß Artikel 19 (2) EPÜ unter Ersetzung aller Mitglieder neu zu besetzen ist.

3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.

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