European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2024:T183022.20240624 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 24 Juni 2024 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1830/22 | ||||||||
Anmeldenummer: | 14196800.8 | ||||||||
IPC-Klasse: | G05B 19/05 G06F 9/50 H04L 12/00 H02J 13/00 G08C 17/02 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | System zum Beobachten und/oder Steuern einer Anlage | ||||||||
Name des Anmelders: | Siemens Aktiengesellschaft | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Hitachi Energy Ltd DTS Patent- und Rechtsanwälte Schnekenbühl und Partner mbB Lacroix Group WAGO Kontakttechnik GmbH & Co. KG Sprecher Automation GmbH |
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Kammer: | 3.5.05 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag und Hilfsanträge 1, 17 und 19 (nein) Zulassung von erstinstanzlich nicht zugelassenen Anspruchsänderungen - Hilfsantrag 20 (nein): keine fehlerhafte Ermessensausübung + prima facie nicht gewährbar |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Streitpatent unter anderem wegen mangelnder Neuheit (Artikel 54 EPÜ) bzw. mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ) zu widerrufen.
II. Der folgende Stand der Technik ist für die vorliegende Entscheidung relevant:
D1: EP 2293164 A1.
III. Am 24. Juni 2024 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt, an deren Ende die Entscheidung der Kammer verkündet wurde.
Die Schlussanträge der Beteiligten lauten wie folgt:
- Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragt, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und das Patent auf der Grundlage der Ansprüche des Hauptantrags (Patent wie erteilt), hilfsweise der Ansprüche eines der Hilfsanträge 1, 17, 19 und 20 aufrechtzuerhalten.
- Die Beschwerdegegnerinnen (Einsprechenden) beantragen, die Beschwerde zurückzuweisen.
IV. Anspruch 1 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut (Merkmalsgliederung der Kammer):
a) "System (10) zum Beobachten und/oder Steuern einer Anlage,
b) wobei das System mit einer Fernwirkanordnung (13), mit Feldgeräten (IIa-i) der Anlage und mit einer Leitstellenanordnung (12) eingerichtet ist;
dadurch gekennzeichnet, dass
c) die Fernwirkanordnung (13) in einer Datenverarbeitungs-Cloud ausgebildet ist, wobei
d) die Fernwirkanordnung (13) dazu ausgebildet ist, mit den Feldgeräten (IIa-i) feldgerätespezifische Nachrichten
e) und mit der Leitstellenanordnung (12) leitstellen-spezifische Nachrichten auszutauschen; und
f) die Fernwirkanordnung (13) dazu ausgebildet ist, von den Feldgeräten (IIa-i) empfangene feldgerätespezifische Nachrichten in leitstellenspezifische Nachrichten umzusetzen und an die Leitstellenanordnung (12) zu übertragen, und
g) von der Leitstellenanordnung (12) empfangene leitstellenspezifische Nachrichten in feldgerätespezifische Nachrichten umzusetzen und an die Feldgeräte (IIa-i) zu übertragen."
V. Anspruch 1 von Hilfsantrag 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass am Ende des Wortlauts von Merkmal b) vor dem Ausdruck "dadurch gekennzeichnet, dass" der folgende Wortlaut hinzugefügt worden ist (Merkmalsgliederung der Kammer):
h) "und wobei
die Feldgeräte (11a-i) in räumlicher Nähe zur Anlage angeordnet sind und Messwerte erfassen, die einen Zustand von Komponenten der Anlage beschreiben, oder Zustände von jeweiligen Komponenten der Anlage beeinflussen, und
i) die Leitstellenanordnung (12) Algorithmen zur
Beobachtung und/oder Steuerung der Anlage ausführt und eine Mensch-Maschine-Schnittstelle besitzt;"
VI. Anspruch 1 von Hilfsantrag 17 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass am Ende folgender Wortlaut hinzugefügt worden ist (Merkmalsgliederung der Kammer):
j) "die Fernwirkanordnung (13) dazu ausgebildet ist,
mit den Feldgeräten (11a-i) die feldgeräte-spezifischen Nachrichten gemäß zumindest einem ersten Kommunikationsprotokoll, das von den Feldgeräten (11a-i) unterstützt wird, und mit der Leitstellenanordnung (12) die leitstellen-spezifischen Nachrichten gemäß einem zweiten Kommunikationsprotokoll, das von der Leitstellenanordnung (12) unterstützt wird, auszutauschen;
k) die Fernwirkanordnung (13) mehrere voneinander
abgetrennte Datenbereiche aufweist, die gegen einen Zugriff aufeinander abgesichert sind, so dass keine Schreib- und Lesezugriffe zwischen den einzelnen Datenbereichen stattfinden können, wobei die in den abgetrennten Datenbereichen vorliegenden Daten mit unterschiedlichen Schlüsseln verschlüsselt sind; und
l) die Fernwirkanordnung (13) dazu eingerichtet ist,
solche Funktionen, die sich auf Feldgeräte (11a-i) und Leitstellenanordnungen (12) unterschiedlicher Anlagen oder unterschiedlicher Betreiber von Anlagen beziehen, in jeweils unterschiedlichen Datenbereichen durchzuführen".
VII. Anspruch 1 von Hilfsantrag 19 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags 17 dadurch, dass nach dem Wortlaut von Merkmal j) folgender Wortlaut hinzugefügt worden ist (Merkmalsgliederung der Kammer):
m) "die Fernwirkanordnung (13) ein Applikationsmodul
aufweist, das zur Verarbeitung von empfangenen feldgerätespezifischen Nachrichten gemäß vorgegebenen Regeln und zur Bildung von leitstellenspezifischen Nachrichten und/oder weiteren feldgerätespezifischen Nachrichten mit einem von einem Ergebnis der Verarbeitung abhängigen Inhalt eingerichtet ist;".
VIII. Anspruch 1 von Hilfsantrag 20 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags 19 dadurch, dass der Wortlaut von Merkmal c) wie folgt lautet (Merkmalsgliederung und Unterstreichung von hinzugefügtem Text durch die Kammer):
c') "die Fernwirkanordnung (13) in einer derart
eingerichteten Datenverarbeitungs-Cloud ausgebildet ist, dass eine Anpassung an seitens der Leitstellenanordnung und/oder der Feldgeräte geänderte Kommunikationsprotokolle durch eine entsprechende Aktualisierung einer Programmierung der Fernwirkanordnung in der Datenverarbeitungs-Cloud vornehmbar ist, wobei".
Entscheidungsgründe
1. Hauptantrag - erfinderische Tätigkeit (Artikel 100 a) und 56 EPÜ)
1.1 Technischer Hintergrund des Streitpatents
Das Streitpatent betrifft ein System zum Beobachten und/oder Steuern einer Anlage. Das System umfasst Feldgeräte der Anlage, wie Sensoren oder Aktoren, eine "Leitstellenanordnung" mit einer "Mensch-Maschine-Schnittstelle" und eine "Fernwirkanordnung", die Daten zwischen den Feldgeräten und der Leitstellenanordnung austauschen kann.
1.2 Stand der Technik - Dokument D1
1.2.1 Dokument D1 betrifft ein System zum Steuern und Beobachten eine Prozesses (Titel). Als Anwendungsgebiet der Erfindung wird die Steuerung und Beobachtung einer Anlage ("primary system") zur Strom-, Wasser-, Gas- oder Telekommunikationsversorgung beschrieben (Absatz [0002]). Das System ("process monitoring system") beobachtet und steuert die Anlage mittels Prozesswirkgeräten ("process execution devices") der Anlage, wie Sensoren, Aktoren oder allgemein "Feldgeräte" ("field devices"; Absätze [0015] und [0016]).
1.2.2 Im Hinblick auf Merkmale a) bis c) umfasst das System ("process monitoring system 210") in einem Ausführungsbeispiel eine Leitstellenanordnung ("operator stations 250a, 250b"), Feldgeräte ("RTUs 220a, 220b, 220c are components of a primary system 262 that is monitored") und eine Fernwirkanordnung ("Each of the data centers 252a, 252b, 252c comprises a plurality of cloud nodes 258"), wobei diese Komponenten alle miteinander über ein Netzwerk ("network 214") verbunden sind (Absätze [0064] bis [0067]; Fig. 4). Die einzelnen Komponenten der Fernwirkanordnung ("data centers") können zudem in einer Datenverarbeitungs-Cloud ("cloud computing facility 260") ausgebildet sein (Absatz [0068]).
1.2.3 In Bezug auf Merkmale d) bis g) werden (zumindest implizit) feldgerätetypische Nachrichten von einem Feldgerät ("RTU") über einen feldgeräteseitigen Protokoll-Umsetzer ("protocol converters 256a, 256b, 256c"), das Netzwerk ("network 214"), die Datenverarbeitungs-Cloud ("cloud computing facility 260") und einen leitstellenseitigen Protokoll-Umsetzer ("protocol converters 254a, 254b") als (zumindest implizit) leitstellenspezifische Nachrichten an die Leitstellenanordnung ("operator stations 250a, 250b") übertragen (Absätze [0071] bis [0073]). Ebenso werden Nachrichten in umgekehrter Richtung gesendet (Absatz [0074]). Dabei setzt der feldgeräteseitige Protokoll-Umsetzer die Nachrichten von einem Feldbusprotokoll in ein Netzwerkprotokoll und der leitstellenseitige Protokoll-Umsetzer diese Nachrichten in ein Leitstellenprotokoll um (Absätze [0071] und [0073]). In der Datenverarbeitungs-Cloud bzw. der Fernwirkanordnung werden dann die Daten verarbeitet (Absatz [0072]). Somit findet ungeachtet der eigentlichen Protokoll-Umwandlungen in den beiden Protokoll-Umsetzern ein Veränderung der Nachrichten in der Fernwirkanordnung statt. Dort werden nämlich die von den Feldgeräten erhaltenen Nachrichten, d. h. feldgerätetypische Nachrichten, in für die Leitstellenanordnungen bestimmte Nachrichten, d. h. leitstellenspezifische Nachrichten, umgewandelt bzw. umgesetzt.
1.3 Die Patentinhaberin argumentierte, dass insbesondere gemäß Artikel 69 (1) EPÜ die Beschreibung bei der Auslegung der Patentansprüche zugrunde zu legen sei, da das Patent ein "eigenes Wörterbuch" darstelle. Der Fachmann würde daher den Merkmalen f) und g) entnehmen, dass implizit auch eine Protokollumsetzung vorliegen müsse. Diese Umsetzung sei jedoch in D1 nicht offenbart. Auch wenn grundsätzlich Fernwirkanordnungen mit Protokollumsetzern bekannt seien, sei das Neuartige bei der vorliegenden Erfindung, dass dies eben in der "Cloud" geschehe.
1.4 Die Kammer ist von diesem Argument nicht überzeugt. Weder der Wortlaut von Artikel 69 (1) EPÜ ("Die Beschreibung und die Zeichnungen sind [...] zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen") noch die gefestigte Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe z. B. T 169/20, Gründe 1.3.4) kann eine Grundlage für das vermeintliche Konzept des "Patents als sein eigenes Wörterbuch" bilden. Ein solches Konzept könnte sich nämlich der objektiven Vergleichbarkeit eines Patents mit dem jeweiligen Stand der Technik entziehen, was wiederum mit dem Gebot der Rechtssicherheit selbstredend nur schwer vereinbar wäre. Vielmehr kann nach Ansicht der Kammer die Beschreibung und die Zeichnungen bei der Anspruchsauslegung bestenfalls für die Bestimmung des fachkundigen Lesers und dessen Blickwinkels, aus dem ein Anspruch auszulegen ist, herangezogen werden (siehe z. B. T 1924/20, Gründe 2.7; T 1628/21, Gründe 1.1.15).
Im vorliegenden Fall würde der fachkundige Leser aus dem Gebiet der Automatisierungsanlagen (vgl. Absätze [0001] und [0002] des Streitpatents) eine "Umsetzung", wie von den Einsprechenden vorgebracht, allgemein als eine Veränderung der Nachrichten in Bezug auf die Eigenschaften "leitstellenspezifisch" bzw. "feldgerätespezifisch" verstehen. Diese Veränderungen können aber nicht notwendigerweise ein Protokoll festlegen, sondern sich beispielsweise auch auf den Inhalt, den Umfang der Information oder einfach nur den Ursprung oder das Ziel richten. Außerdem wird die Protokollumwandlung im Streitpatent selbst erst für eine vorteilhafte Ausführungsform eingeführt (siehe Absatz [0021]). Bei den Ansprüchen wird die Protokollumwandlung erst im abhängigen Anspruch 2 eingeführt. Dies stützt a fortiori die obige Auslegung, wonach Anspruch 1 auch implizit nicht auf eine Umsetzung der Nachrichten auf der Grundlage einer Protokollumwandlung beschränkt sein kann.
1.5 Die Patentinhaberin argumentierte weiterhin, dass im System von D1 die "RTUs" und die zugehörigen "Protokoll-Umsetzer" eine "Fernwirkanordnung" darstellten, an die die Feldgeräte angeschlossen seien. Dokument D1 offenbare somit weder in dem Ausführungsbeispiel gemäß Fig. 3 noch demjenigen gemäß Fig. 4 eine "Fernwirkanordnung", die als "Datenverarbeitungs-Cloud" ausgebildet ist. Ferner sei eine wesentliche Funktion der "Leitstellenanordnung" gemäß Anspruch 1 die Durchführung komplexer Algorithmen zur Beobachtung und/oder Steuerung der Anlage, wobei diese Aufgabe in D1 eindeutig von der "cloud computing facility" wahrgenommen werden würde. Somit lehre D1 auch keine anspruchsgemäße "Fernwirkanordnung", die mit den Feldgeräten feldgerätespezifische Nachrichten und mit der Leitstellenanordnung leitstellenspezifische Nachrichten austauschen würde. Eine solche Komponente würde in dem System von D1 vielmehr durch die "process communication unit" bzw. die "protocol converter" gebildet, die aber nicht in der Cloud ausgebildet, sondern den "remote terminal units" jeweils vorgeschaltet seien.
1.6 Die Kammer ist von diesen Argumenten nicht überzeugt. Die "RTUs" in D1 sind nämlich Teil der beobachteten bzw. gesteuerten Anlage (Absatz [0066]). Zudem liefern die "RTUs" Daten und stellen somit die dem beobachteten bzw. gesteuerten Prozess am nächsten stehende Komponente dar, wie aus den folgenden Stellen von D1 hervorgeht:
- Absatz [0051]: "[...] data acquisition from the RTU [...]",
- Absatz [0057]: "The front end of the SCADA system 110 comprises a plurality of RTUs [...]" und
- Absatz [0071]: "[...] sensor data is collected by one of the RTUs [...]").
Ob die "RTUs" tatsächlich selbst Sensoren oder Aktoren oder nur deren Schnittstellen darstellen, kann dahin gestellt bleiben, da die "Feldgeräte der Anlage" in Anspruch 1 auch nur dahingehend eingeschränkt sind, dass sie Teil der Anlage sind und diese eben beobachten bzw. steuern. Darüber hinaus entsprechen die "RTUs" der Ausführungsbeispiele von D1 den "process execution devices" im allgemeinen Teil der Beschreibung, die zweifellos als "Feldgeräte" ("sensors", "actors") angesehen werden können (Absatz [0015]). Die Kammer verweist zudem auf die Absätze [0003], [0013], [0015] bis [0017], [0026] bis [0028] und [0032], die ebenfalls alle Merkmale des Systems von Anspruch 1 offenbaren. Die "RTUs" können daher keinesfalls der "cloud computing facility" zugeordnet werden, sondern stellen "Feldgeräte" dar. Dokument D1 offenbart zudem dedizierte Protokoll-Umsetzer ("protocol converter") die zwischen dem Netzwerk ("network 114") und den Feldgeräten ("RTUs") zwischengeschaltet und nicht in der Cloud angeordnet sind. Diese Umsetzer müssen aber nicht die einzigen "umsetzenden" Komponenten sein.
In Anspruch 1 ist der in der "Cloud" ausgebildeten "Fernwirkanordnung" eine Umsetzung von feldgeräte-spezifischen in leitstellenspezifische Nachrichten und umgekehrt zugeschrieben. Nähere Angaben zu dieser "Umsetzung" werden hier jedoch nicht gemacht. Wie in Punkt 1.4 bereits ausgeführt, können sich die Begriffe "leitstellenspezifisch" und "feldgerätespezifisch" auch lediglich auf die Quelle bzw. das Ziel oder den Bezug der Nachrichten richten. Die "Umsetzung" gemäß Anspruch 1 kann in D1 auch dadurch erfolgen, dass die Fernwirkanordnung ("cloud computing facility") aus Nachrichten von einem Feldgerät Nachrichten für eine Leitstellenanordnung generieren kann und umgekehrt (vgl. Absatz [0072]). Im Übrigen stimmt die Kammer in diesem Zusammenhang grundsätzlich mit der Einschätzung der Einspruchsabteilung in Gründe 3.1.5 der angefochtenen Entscheidung überein.
1.7 Somit offenbart D1 ein System mit allen Merkmalen von Anspruch 1. Der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikel 54 EPÜ steht somit der Aufrechterhaltung des Streitpatents wie erteilt entgegen.
2. Hilfsantrag 1 - Neuheit (Artikel 54 EPÜ)
2.1 In Anspruch 1 von Hilfsantrag 1 wurden gegenüber Anspruch 1 des Hauptantrags die Merkmale h) und i) hinzugefügt.
2.2 Merkmal h) besagt im Wesentlichen, dass die Feldgeräte in der Nähe zur Anlage angeordnet sind und den Zustand der Anlage erfassen oder beeinflussen. Damit beschreibt dieses Merkmal lediglich die vorbekannten Funktionen von Feldgeräten ("process execution device" oder "field device") als Teil der Anlage, wie sie auch in D1 beschrieben sind (siehe z. B. Absätze [0015], [0016] und [0066]). Merkmal h) ist somit bereits aus D1 bekannt.
2.3 Darüber hinaus ist auch Merkmal i) aus D1 bekannt. Die "operator stations" besitzen nämlich ein "HMI" (human machine interface; Absatz [0069]). Um ferner Informationen für eine Bedienperson darzustellen und Bedieneingaben der Bedienperson zu erfassen und weitergeben zu können, ist implizit die Ausführung entsprechender Verfahren bzw. Algorithmen in der Leitstellenanordnung zwangsläufig erforderlich.
2.4 Die Merkmale h) und i) sind somit ebenfalls aus D1 bekannt und können keine Neuheit herstellen.
2.5 Auch der Gegenstand von Anspruch 1 von Hilfsantrag 1 ist daher nicht neu. Hilfsantrag 1 ist daher nicht gewährbar (Artikel 54 EPÜ).
3. Hilfsantrag 17 - erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)
3.1 Anspruch 1 von Hilfsantrag 17 fügt im Wesentlichen hinzu, dass
j) die Fernwirkanordnung dazu eingerichtet ist, die
Nachrichten gemäß einem Protokoll auszutauschen, das die Feldgeräte bzw. die Leitstellenanordnung unterstützen,
k) die Fernwirkanordnung mehrere getrennte unabhängig
voneinander verschlüsselte Datenbereiche aufweist,
l) die Fernwirkanordnung Funktionen, die sich auf
die Feldgeräte und Leitstellenanordnungen von unterschiedlichen Anlagen oder von unterschiedlichen Anlagenbetreibern beziehen, in jeweils unterschiedlichen Datenbereichen durchführt.
3.2 Merkmal j) wird auch im System von D1 verwirklicht, da die Fernwirkanordnung ("cloud computing facility") durchaus in der Lage ist, Nachrichten zu empfangen und auszusenden, die bei den Feldgeräten bzw. bei der Leitstellenanordnung gemäß dem jeweils unterstützten Protokoll vorliegen. So werden die Nachrichten von den Feldgeräten gemäß einem Feldbusprotokoll versendet und gemäß einem Leitstellenprotokoll an die entsprechende Leitstellenanordnung weitergeleitet (Absätze [0071] und [0073]). Merkmal j) besagt ja nicht, dass die Nachrichten über die gesamte Übertragungsstrecke, d. h. bis zur bzw. ab der Fernwirkanordnung, in dem jeweiligen Protokoll vorliegen müssen. Merkmal j) ist somit bereits aus D1 bekannt.
3.3 Merkmale k) und l)
3.3.1 Im System von D1 können die Daten des Überwachungs- und Steuerungssystems in der Cloud gespeichert werden, wobei die Daten auch in redundanter und ausfallsicherer Weise gespeichert werden (Absatz [0024]). Außerdem weist die "cloud computing facility" mehrere "cloud [computing] nodes" auf (Absätze [0067] und [0068], Anspruch 1). Die Anlage umfasst zudem mehrere räumlich verteilte Standorte ("sites"), die verschiedenen "cloud computing nodes" zugeordnet sind (Anspruch 11). Die verteilten Standorte können wiederum als unterschiedliche Anlagen angesehen werden und es ist davon auszugehen, dass jeder "cloud computing node" auch über einen eigenen "Datenbereich" verfügt, der von den Datenbereichen der anderen "cloud computing nodes" abgetrennt ist und in dem die Funktionen, die sich auf den jeweils zugeordneten Standort beziehen, ausgeführt werden.
3.3.2 Die Merkmale k) und l), insofern als die erste
ODER-Variante betroffen ist ("Feldgeräte und Leitstellenanordnungen unterschiedlicher Anlagen"), unterscheiden sich vom System von D1 dadurch, dass die "Datenbereiche" gegen einen Zugriff aufeinander abgesichert sind, so dass keine Schreib- und Lesezugriffe zwischen den Datenbereichen stattfinden können. Hierbei sind die in den verschiedenen Datenbereichen vorliegenden Daten mit unterschiedlichen Schlüsseln verschlüsselt.
3.3.3 Die Unterscheidungsmerkmale k) und l) bewirken, dass der Zugriff auf die Daten in den verschiedenen Bereichen gezielt eingeschränkt werden kann.
3.3.4 Die dem Anspruch 1 zugrunde liegende objektive Aufgabe kann nun darin gesehen werden, im System von D1 für den Fall von mehreren Anlagen Manipulationen von gespeicherten Daten zu verhindern oder zumindest zu erschweren.
3.3.5 Dokument D1 beschreibt als Anwendungsgebiet die Steuerung und Beobachtung von Anlagen zur Gas-, Wasser- und Stromversorgung sowie von Telekommunikations-anlagen, die allesamt systemkritische Infrastrukturen darstellen, bei denen mithin ein erhöhtes Maß an Sicherheit gefordert ist. Ausgehend von D1 und vor die oben genannte technische Aufgabe gestellt, hätte die Fachperson auf dem Gebiet der Automatisierungstechnik zum Prioritätszeitpunkt auch daran gedacht, die gespeicherten Daten nicht nur gegen Datenverlust abzusichern, sondern auch gegen beabsichtigte oder unbeabsichtigte Manipulationen. Eine zum damaligen Zeitpunkt bereits absolut übliche Maßnahme dazu war es, die Daten mit einem Schlüssel durch Verschlüsselung zu sichern. Dabei liegt es auf der Hand, nicht nur einen Schlüssel für alle Anlagen zu verwenden, sondern für jede Anlage einen eigenen Schlüssel, um das Risiko im Falle der Kompromittierung eines Schlüssels zu minimieren und um die Zugriffsrechte gezielt vergeben zu können.
3.3.6 Nach Ansicht der Kammer hätte eine Fachperson, ausgehend von D1 und vor die oben genannte Aufgabe gestellt, durchaus vorgesehen, dass die Datenbereiche der unterschiedlichen Anlagen gegen einen Zugriff abgesichert und die Daten in den verschiedenen Bereichen mit unterschiedlichen Schlüsseln verschlüsselt werden, so dass keine
Schreib- und Lesezugriffe zwischen den Datenbereichen stattfinden können, ohne erfinderisch tätig werden zu müssen.
3.3.7 Die Einspruchsabteilung hat für die oben behandelte ODER-Variante einen erfinderischen Beitrag mit der Begründung bejaht, bei einem (unterstellten) einzelnen "Betreiber" gebe es keine Motivation, die Schreib- und Leserechte für Datenbereiche einzuschränken und mit unterschiedlichen Schlüsseln zu verschlüsseln (vgl. angefochtene Entscheidung, Seite 32, Gründe 6.7).
Die Kammer stimmt dem nicht zu. Der "Betreiber" ist typischerweise eine Person oder eine Firma. Es handelt sich hierbei daher um eine nicht-technische Rahmenbedingung, die nach dem COMVIK-Ansatz (vgl. T 641/00, Leitsatz II) bei der Formulierung der objektiven technischen Aufgabe zu berücksichtigen ist. Außerdem lassen sich auch bei einem einzelnen Betreiber Gründe dafür finden, verschiedene Datenbereiche getrennt abzusichern, beispielsweise um verschiedene Personen oder Subunternehmer mit der Administration verschiedener Feldgeräte beauftragen zu können.
3.3.8 Die Patentinhaberin argumentierte in diesem Zusammenhang, dass Anspruch 11 von D1 nicht offenbare, dass die verschiedenen "sites" von verschiedenen Betreibern bedient würden und dass D1 nicht auf Probleme mit einem "Hosten" von mehreren Kunden bzw. Betreibern einginge. Dokument D1 würde nämlich immer von einem zusammenhängenden System mit möglicherweise mehreren Anlagen ausgehen. Die Probleme eines gegeneinander abgesicherten Ablegens von Daten verschiedener Kunden stellten sich somit nicht, so dass das Dokument D1 die beanspruchte Erfindung auch nicht nahelegen könne.
3.3.9 Die Kammer sieht das anders. Wie oben bereits ausgeführt, hätte es auch ohne die Berücksichtigung verschiedener Kunden/Betreiber genügend Motivation für die Fachperson gegeben, die Zugriffsrechte auf die verschiedenen Datenbereiche feinteilig zu vergeben. Die oben dargelegte Einschätzung gilt ebenso für die zweite ODER-Variante in Merkmal l), da der Zusatz, dass die Feldgeräte und Leitstellenanordnungen zu "unterschiedlichen Betreibern von Anlagen" gehören, keine technische Einschränkung darstellt und mithin bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit keine Rolle spielt.
3.4 Der Gegenstand von Anspruch 1 von Hilfsantrag 17 beruht daher auch nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Hilfsantrag 1 ist daher ebenfalls nicht gewährbar (Artikel 56 EPÜ).
4. Hilfsantrag 19 - erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)
4.1 In Anspruch 1 von Hilfsantrag 19 wurde gegenüber Anspruch 1 von Hilfsantrag 17 Merkmal m) hinzugefügt.
4.2 Dieses Merkmal beschreibt nun in sehr allgemeiner Form, dass die "Fernwirkanordnung" aus eingehenden feldgerätespezifischen Nachrichten unter Anwendung von Regeln "leitstellen- oder feldgerätespezifische Nachrichten" erzeugt. Dies geschieht aber implizit auch in dem System von D1, wenn die "cloud computing facility" Daten von den Feldgeräten liest, verarbeitet und an die Leitstellenanordnung weiterleitet (Absätze [0071] bis [0073]). Das dabei eingesetzte "Applikationsmodul" kann nämlich ein beliebiger Teil des Programms sein, das in der "cloud computing facility" abläuft.
4.3 Merkmal m) ist somit auch aus D1 bereits bekannt und kann nicht zu einer erfinderischen Tätigkeit beitragen. Die negative Einschätzung zur Frage der erfinderischen Tätigkeit des Systems gemäß Anspruch 1 von Hilfsantrag 17 gilt daher mutatis mutandis auch für das "System" gemäß Anspruch 1 von Hilfsantrag 19.
4.4 Auch der Gegenstand von Anspruch 1 von Hilfsantrag 19 beruht daher nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Hilfsantrag 19 ist somit ebenfalls nicht gewährbar (Artikel 56 EPÜ).
5. Hilfsantrag 20 - Zulassung (Artikel 12 VOBK)
5.1 Der Hilfsantrag 20 wurde von der Einspruchsabteilung nicht in das Einspruchsverfahren zugelassen. Gemäß Artikel 12 (6) Satz 1 VOBK lässt die Kammer Anträge, die im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassen wurden, nicht zu, es sei denn, die Entscheidung über die Nichtzulassung war ermessensfehlerhaft oder die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen deren Zulassung.
5.2 Die in Anspruch 1 von Hilfsantrag 20 hinzugefügten Merkmale sind vollumfänglich der Beschreibung entnommen worden, so dass die Zulassung von diesem Hilfsantrag dem Gebot der Verfahrensökonomie entgegengestanden hätte. Es wurde von der Patentinhaberin auch nicht in Zweifel gezogen, dass der Hilfsantrag 20 keine Reaktion auf eine nicht vorhersehbare Entwicklung während der Einspruchsverhandlung war (vgl. Gründe H.1.3 der angefochtenen Entscheidung). Die Kammer kann daher weder eine fehlerhafte Ausübung des Ermessens von Seiten der Einspruchsabteilung noch besondere Umstände der Beschwerdesache erkennen, die die Zulassung rechtfertigten.
5.3 In sachlicher Hinsicht wurde hier in Merkmal c') von Anspruch 1 im Wesentlichen hinzugefügt, dass eine Anpassung an die Kommunikationsprotokolle der Leitstellenanordnung und/oder der Feldgeräte durch eine entsprechende Programmierung der Fernwirkanordung erfolgen kann.
5.4 Dazu wird prima facie festgestellt, dass die "cloud computing facility" im System von D1 "Server" umfasst, deren Funktion von ihrer Programmierung bestimmt ist und die geeignet sein müssen, die Informationen von und zu den "Feldgeräten" bzw. der "Leitstellenanordnung" verarbeiten zu können. Darüber hinaus werden im System von D1 die Daten zwischen den Feldgeräten und den nachfolgenden "Protokoll-Umsetzern" in einem Feldbusprotokoll übertragen (Absätze [0026] und [0071]). Somit werden also die Daten zwischen der Leitstellenanordnung und dem Protokoll-Umsetzer über ein Leitstellenanordnungs-Protokoll übertragen (Absatz [0073]). Für die Übertragung über das Netzwerk werden die Nachrichten zudem in ein Netzwerkprotokoll umgesetzt (Absätze [0071] und [0073]). Die Kammer ist jedoch der Ansicht, dass die Daten, auch wenn sie im Netzwerkprotokoll vorliegen, Informationen enthalten müssen, die eine Umsetzung der Daten in ein lokales Protokoll (Feldbus- oder Leitstellenanordnungs-protokoll) oder deren Interpretation ermöglichen. Ferner ist die Kammer der Ansicht, dass die "cloud computing facility" von D1 die lokalen Protokolle zwangsläufig kennen und berücksichtigen muss, um die erhaltenen Nachrichten verstehen und Nachrichten an die Feldgeräte und die Leitstellenanordnung senden zu können. Daraus ergibt sich, dass bei Änderungen der lokalen Protokolle die Programmierung der "Datenverarbeitungs-Cloud" angepasst werden können muss. Merkmal c') scheint somit schon implizit in D1 offenbart zu sein und kann daher prima facie nicht zu einer erfinderischen Tätigkeit beitragen.
5.5 Aus den oben genannten Gründen hat die Kammer Hilfsantrag 20 nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen.
6. Da kein gewährbarer Anspruchssatz vorliegt, ist das Streitpatent zu widerrufen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.