European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2024:T172922.20241001 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 01 October 2024 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1729/22 | ||||||||
Anmeldenummer: | 16189515.6 | ||||||||
IPC-Klasse: | C09D 163/10 C09D 167/08 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | LÖSEMITTELHALTIGE BESCHICHTUNGSMASSE | ||||||||
Name des Anmelders: | DAW SE | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Akzo Nobel Coatings International BV PPG Industries, Inc. |
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Kammer: | 3.3.02 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Mit der Beschwerdebegründung eingereichte Beweismittel - wären bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorzubringen gewesen (nein) - zugelassen (ja) Erfinderische Tätigkeit - alle Anträge (nein) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerden der Patentinhaberin und der Einsprechenden 1 und 2 richten sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, nach der das europäische Patent Nr. 3 296 372 (das "Streitpatent") in geänderter Fassung gemäß Hilfsantrag 3, dessen Ansprüche während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht wurden, und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ genügen.
II. Anspruch 1 in erteilter Fassung lautet wie folgt:
"1. Lösemittelhaltige Beschichtungsmasse für Lackbeschichtungen, enthaltend oder bestehend aus
a) mindestens einem oxidativ trocknenden organischen Bindemittel,
b1) mindestens einem ersten Primärtrockner basierend auf Eisen, insbesondere umfassend oder bestehend aus mindestens einer Komplexverbindung des Eisens, insbesondere einem Komplexsalz des Eisens,
b2) mindestens einem zweiten Primärtrockner basierend auf Mangan, insbesondere umfassend oder bestehend aus einer Komplexverbindung des Mangas [sic], insbesondere einem Komplexsalz des Mangans,
c1) mindestens einem ersten Sekundärtrockner umfassend oder bestehend aus mindestens einem organischen Salz des Zirkoniums, und/oder Strontiums,
d1) mindestens einem ersten Hautverhinderungsmittel und
d2) mindestens ein zweites Hautverhinderungsmittel, wobei das zweite Hautverhinderungsmittel bei 20°C über einen höheren Dampfdruck verfügt als das erste Hautverhinderungsmittel,
e) gegebenenfalls mindestens einem Additiv,
ferner umfassend Liganden, die Eisen- und/oder Manganspezies komplexieren können, die ausgewählt sind aus mindestens einem mono-, di-, tri-, tetra-, penta- und/oder hexadentaten Stickstoffdonorliganden."
III. Es wurden zwei Einsprüche unter Berufung auf die Einspruchsgründe gemäß Artikel 100 a) bis c) EPÜ gegen das Streitpatent eingelegt. Im Einspruchsverfahren wurden unter anderem folgende Dokumente genannt (siehe die der angefochtenen Entscheidung angehängte Konkordanzliste):
D1: WO 2015/082553 A1
D2: WO 2016/102464 A1
Während der mündlichen Verhandlung reichte zudem die Einsprechende 1 folgendes Beweismittel ein:
D44: "Bentone® for Paints, Coatings & Inks Supplied by Elementis", Copyright © SpecialChem 2022, Seiten 1 bis 10
IV. Mit ihrer Erwiderung vom 28. April 2021 auf die Einspruchsschriften reichte die Patentinhaberin Anspruchssätze gemäß Hilfsanträgen 1 bis 39 ein. Während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung reichte die Patentinhaberin unter anderem Hilfsantrag 3 ein, der dem am 28. April 2021 eingereichten Hilfsantrag 13 entsprach. Die angefochtene Entscheidung beruht auf den erteilten Ansprüchen als Hauptantrag so wie unter anderem auf den Ansprüchen gemäß diesem in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrag 3. Die Einspruchsabteilung kam unter anderem zu folgendem Schluss:
- Das Beweismittel D44 sei zum Verfahren nicht zuzulassen.
- Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 sei gegenüber der Offenbarung in D1 nicht neu.
- Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 3 sei erfinderisch im Lichte der D1 als nächstliegendem Stand der Technik.
V. In ihrem Beschwerdevorbringen bestritt die Patentinhaberin die Begründung der Einspruchsabteilung hinsichtlich der mangelnden Neuheit des Gegenstandes des erteilten Anspruchs 1. Außerdem brachte sie vor, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 so wie des Anspruchs 1 gemäß dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrag 3 erfinderisch sei. Sie stützte ihre Argumente unter anderem auf folgende neu eingereichte Beweismittel (von der Patentinhaberin als D37, D38 und D44 bezeichnet; neue Nummerierung durch die Kammer):
A055: WorléeAdd 2700, Auszug aus dem Internet, gefunden unter www.worlee.de
A056: EP 2 935 471 B1
A057: K.P. Skrzypek, "Austauschprozesse von organischen Umweltchemikalien mit biogenen Tensiden in quellfähigen Tonmineralien", Dissertation, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, 2003, Seiten 37 bis 43
Insbesondere wurden die Beweismittel A055 und A056 von der Patentinhaberin eingereicht, um die Neuheit des im erteilten Anspruch 1 definierten Gegenstands gegenüber D1 zu belegen. Diese Beweismittel sind für die vorliegende Entscheidung unerheblich und werden daher im Folgenden nicht mehr berücksichtigt.
Die Patentinhaberin reichte ferner mit ihrer Beschwerdeerwiderung Anspruchssätze gemäß den Hilfsanträgen 4 bis 6 ein. Zudem bestritt sie die Zulassung der von den Einsprechenden im Beschwerdeverfahren eingereichten Beweismittel A045 bis A054 (siehe unten).
VI. In ihren Beschwerdevorbringen bestritten die Einsprechenden 1 und 2 die Begründung der Einspruchsabteilung bezüglich der Gewährbarkeit des Hilfsantrags 3. Sie vertraten unter anderem die Ansicht, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 so wie des Anspruchs 1 gemäß aller Hilfsanträge 3 bis 6 nicht erfinderisch sei. Die Einsprechenden stützen ihre Argumente unter anderem auf folgende neu eingereichte Beweismittel (von den Einsprechenden als D45 bis D47 (Einsprechende 1) bzw. D45 bis D51 (Einsprechende 2) bezeichnet; neue Nummerierung durch die Kammer):
A045: "Organoclay", Auszug aus Wikipedia, 11 August 2016
A046: In "Industrial Minerals and their Uses", A Handbook & Formulary, 1996, Noyes Publications: Chapter two, P.A. Ciullo, "The Industrial Minerals", Seiten 17 und 63 bis 67, and Chapter four, F. McGonigle and P.A. Ciullo, "Paints & Coatings", Seiten 99 und 143
A047: EUTM file Information: "Bentone 000276782", Trade mark Information from EUIPO
A048: USPTO, Trade mark Information on "Bentone"
A049: USPTO, "Bentone", Registration No. 544,075, 19. Juni 1951
A050: UK Intellectual Property Office, Trade mark number UK00900276782, "Bentone"
A051: J.V. Koleske et al., "Additives Guide", Mai 2006, Seiten 94, 106, 108 bis 110, 112 bis 114
A052: J.V. Koleske, "Paint and Coating Testing Manual", 1995, ASTM, Chapter 30, "Thickeners and Rheology Modifiers", Seite 281
A053: J. Bieleman, "Additives for Coatings", 2000, Wiley-VCG Verlag, Seiten 20 und 21
A054: Erklärung vom Herrn M. Rosso vom 5. Oktober 2022
VII. Die Parteien wurden antragsgemäß zu einer mündlichen Verhandlung geladen. Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung erging eine Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15 (1) VOBK.
VIII. Am 1. Oktober 2024 fand die mündliche Verhandlung vor der Kammer in Anwesenheit aller Beteiligten als Videokonferenz statt.
IX. Anträge
Die abschließenden Anträge der Beteiligten, die für die vorliegende Entscheidung relevant sind, lauten wie folgt:
Die Patentinhaberin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Streitpatents in erteilter Fassung (Hauptantrag). Hilfsweise beantragte sie die Zurückweisung der Beschwerden der Einsprechenden 1 und 2 und die Aufrechterhaltung des Streitpatents in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche gemäß dem von der Einspruchsabteilung als gewährbar angesehenen Hilfsantrag 3. Weiter hilfsweise beantragte die Patentinhaberin die Aufrechterhaltung des Streitpatents in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche gemäß den mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsanträgen 4 bis 6. Außerdem beantragte die Patentinhaberin die Nichtzulassung der Beweismittel A045 bis A054.
Beide Einsprechenden beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Streitpatents. Sie beantragten zudem, die Beweismittel A045 bis A054 in das Verfahren zuzulassen.
X. Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Ausführungen der Parteien wird auf die nachstehende Begründung der Entscheidung verwiesen.
Entscheidungsgründe
Hilfsantrag 3 - Beweismittel A045 bis A054 - Zulassung zum Verfahren unter Artikel 12 (4) und (6) VOBK
1. Anspruch 1 des von der Einspruchsabteilung als gewährbar erachteten Hilfsantrags 3 unterscheidet sich vom erteilten Anspruch 1 (Ziffer II oben) dadurch, dass die beanspruchte Beschichtungsmasse zusätzlich folgendes Merkmal aufweist:
"f) mindestens ein Rheologiemodifizierungsmittel, welches ein organisch modifiziertes Schichtsilikat darstellt".
1.1 In Bezug auf Hilfsantrag 3 haben die Einsprechenden in ihren jeweiligen Beschwerdebegründungen die Beweismittel A045 bis A054 eingereicht. Die Patentinhaberin beantragte, diese nicht in das Verfahren zuzulassen.
1.2 Es ist unbestritten, dass die Einreichung der Beweismittel A045 bis A054 eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Einsprechenden im Sinne des Artikels 12 (4) VOBK darstellt. Es steht somit im Ermessen der Kammer, diese Beweismittel zuzulassen. Gemäß Artikel 12 (6) VOBK lässt die Kammer außerdem u.a. Beweismittel nicht zu, die vor der Einspruchsabteilung vorzubringen gewesen wären, es sei denn, die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen eine Zulassung.
1.3 Hinsichtlich der Zulassung der Beweismittel A045 bis A054 ist die Fallhistorie relevant:
1.3.1 Mit ihrer Einspruchserwiderung vom 28. April 2021 reichte die Patentinhaberin Anspruchssätze gemäß den Hilfsanträgen 1 bis 39 ein. Die in Anspruch 1 gemäß dem damals eingereichten Hilfsantrag 2 definierte Beschichtungsmasse enthielt im Vergleich zum erteilten Anspruch 1 (Ziffer II oben) folgendes zusätzliches Merkmal:
"f) mindestens ein Rheologiemodifizierungsmittel"
Auf Seite 18 der Einspruchserwiderung machte die Patentinhaberin geltend, dass es durch dieses eingeführte Merkmal gelinge, zu sogenannten Dickbeschichtungen unproblematisch zu gelangen. Diese Dickbeschichtungen würden trotz ihrer Dicke nach dem Auftrag an vertikalen Wänden nicht ablaufen, d.h. das Phänomen des "sagging" könne vermieden werden. Sie verwies diesbezüglich auf Absatz [0054] des Streitpatents.
In Anspruch 1 gemäß dem mit der Einspruchserwiderung eingereichten Hilfsantrag 12 wurde das Rheologiemodifizierungsmittel (Merkmal f)) im Vergleich zu Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 dahingehend eingeschränkt, dass es ausgewählt sein muss
"aus der Gruppe bestehend aus Schichtsilikaten ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus Bentoniten, modifizierten Schichtsilikaten, insbesondere organisch modifizierten Schichtsilikaten, thioxotropen Alkydharzen und beliebigen Mischungen hiervon"
In der Einspruchserwiderung (Seite 21) führte die Patentinhaberin aus, dass durch das in Anspruch 1 dieses Hilfsantrags eingeführte Merkmal das Rheologiemodifizierungsmittel weitergehend eingegrenzt werde, und dass die gleichen Ausführungen wie vorangehend zum Hilfsantrag 2 greifen würden.
Anspruch 1 gemäß dem mit der Einspruchserwiderung eingereichten Hilfsantrag 13 ist mit Anspruch 1 gemäß dem vorliegenden der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrag 3 identisch.
Auf Seite 21 der Einspruchserwiderung führte die Patentinhaberin diesbezüglich aus, dass die Spezifizierung des Rheologiemodifizierungsmittels in Form von organisch modifizierten Schichtsilikaten den Abstand zum Stand der Technik vergrößere, und dass die gleichen Ausführungen wie vorangehend zum Hilfsantrag 2 greifen würden.
1.3.2 Die Kammer stellt fest, dass die Patentinhaberin in ihrer Einspruchserwiderung somit keine besondere technische Wirkung des Merkmals f) gemäß Anspruch 1 des vorliegenden Hilfsantrags 3 (siehe oben) geltend machte, die über diejenige eines Rheologiemodifizierungsmittels im Allgemeinen hinausgeht. Insbesondere wurde keine Wirkung geltend gemacht, die spezifisch auf die in Anspruch 1 des damaligen Hilfsantrags 13 (jetziger Hilfsantrag 3) geforderte organische Modifizierung des Schichtsilikats zurückgeht.
1.3.3 Am 1. September 2021 erging die Ladung zur mündlichen Verhandlung. Hinsichtlich des Anspruchs 1 gemäß dem Hilfsantrag 12 teilte die Einspruchsabteilung unter anderem die vorläufige Meinung mit (siehe Ziffer 4.10 auf Seiten 11 und 12), dass das oben genannte Merkmal f) im Stand der Technik nicht explizit offenbart, und dass das Naheliegen der Unterscheidungsmerkmale zu erörtern sei. Hinsichtlich des Hilfsantrags 13 wurde keine vorläufige Meinung mitgeteilt (Ziffer 4.11 auf Seite 13). Von der Einspruchsabteilung wurde der 7. Januar 2022 als Zeitpunkt festgelegt, bis zu dem gemäß Regel 116 (1) EPÜ Schriftsätze und/oder Unterlagen hätten eingereicht werden können.
1.3.4 Am 21. Dezember 2021 reagierte die Einsprechende 1 auf die oben genannte vorläufige Meinung der Einspruchsabteilung zum Hilfsantrag 12 und verwies (siehe letzter Absatz) auf die Beispiele der D2, wonach "Bentone clay" in den hergestellten Beschichtungsmassen verwendet werde.
1.3.5 Am 7. Januar 2022, d.h. am letzten von der Einspruchsabteilung gemäß Regel 116 (1) EPÜ festgelegten Zeitpunkt, reichte die Patentinhaberin einen Schriftsatz ein. Hinsichtlich der vorläufigen Meinung zum Hilfsantrag 12 machte sie geltend (siehe letzte Seite, 2. Absatz), dass es mit Rheologiemodifizierungsmitteln in Form organisch modifizierter Schichtsilikate gelinge, besonders gut zu einwandfreien dicken Beschichtungen zu gelangen. Zum ersten Mal wurde somit von der Patentinhaberin eine technische Wirkung von Rheologiemodifizierungsmitteln in Form organisch modifizierter Schichtsilikate geltend gemacht. Die Patentinhaberin ging dabei auf die oben genannte Aussage der Einsprechenden 1 bezüglich der Verwendung von "Bentone clay" in den Beispielen der D2 nicht ein.
1.3.6 Eine Diskussion hinsichtlich der technischen Wirkung von organisch modifizierten Schichtsilikaten in Beschichtungsmassen so wie der Frage, ob der in D2 offenbarte "Bentone clay" ein solches organisch modifiziertes Schichtsilikat darstellt, fand somit erst in der mündlichen Verhandlung im Rahmen der Erörterung der erfinderischen Tätigkeit des vorliegenden Hilfsantrags 3 (identisch mit dem mit der Erwiderung auf die Einspruchsschriften eingereichten Hilfsantrag 13, siehe oben) statt (Niederschrift zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, Seiten 10 und 11). Während dieser Diskussion reichte die Einsprechende 1 in der mündlichen Verhandlung das Dokument D44 ein, das jedoch von der Einspruchsabteilung als verspätet angesehen und nicht zugelassen wurde (angefochtene Entscheidung, Ziffer 13.3 auf Seiten 4 und 5).
1.4 Mit ihren Beschwerdebegründungen haben die Einsprechenden die Beweismittel A045 bis A054 eingereicht, um zu zeigen, dass "Bentone clay" ein organisch modifiziertes Schichtsilikat darstellt, und dass der Zusatz von organisch modifizierten Schichtsilikaten in Beschichtungsmassen vor dem Zeitpunkt des Streitpatents Teil des allgemeinen Fachwissens war.
1.5 Die Patentinhaberin führte aus, dass A045 bis A054 Dokumente unterschiedlichster Art seien, und dass sie für die Frage der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands nicht prima facie relevant seien. Die Patentinhaberin vertrat ferner die Auffassung, dass die Einsprechenden A045 bis A054 vor der Einspruchsabteilung als Reaktion auf den mit der Einspruchserwiderung eingereichten Hilfsantrag 13 (siehe oben) hätten einreichen müssen. Wenn nicht bereits zu diesem Zeitpunkt hätten sie diese Beweismittel jedoch spätestens vor der mündlichen Verhandlung als Reaktion auf den oben genannten Schriftsatz der Patentinhaberin vom 7. Januar 2022 einreichen müssen.
1.6 Nach Auffassung der Kammer war es jedoch nicht die Aufgabe der Einsprechenden, zu spekulieren, welche technische Wirkung das in Anspruch 1 des mit der Einspruchserwiderung eingereichten Hilfsantrag 13 aufgenommene Merkmal f) (siehe oben) hätte haben können. Im Gegenteil obliegt es einer Patentinhaberin, die geänderte Ansprüche einreicht, rechtzeitig darzulegen, weshalb die Änderungen die Einwände gegen höherrangige Anträge ausräumen. Wie aus der oben zusammengefassten Fallhistorie jedoch klar hervorgeht, hat die Patentinhaberin eine technische Wirkung von organisch modifizierten Schichtsilikaten erst zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung geltend gemacht. Auf das Argument der Einsprechenden 1 bezüglich der Offenbarung von "Bentone clay" in der D2 ist die Patentinhaberin sogar erst in der mündlichen Verhandlung eingegangen.
1.7 Unter solchen Umständen konnte von den Einsprechenden nicht erwartet werden, bereits vor oder während der mündlichen Verhandlung geeignete Dokumente als Reaktion auf das neue Vorbringen der Patentinhaberin vorzubringen. Es würde insbesondere dem Gebot der Fairness zuwiderlaufen, der Patentinhaberin zu gestatten, erst gegen Ende des mehr als eineinhalb Jahre dauernden Einspruchsverfahren substantiiert zu einem Anspruchssatz und einem damit verbundenen Angriff der Einsprechenden vorzutragen, und von der Einsprechenden gleichzeitig zu verlangen, hierauf innerhalb der bis zur mündlichen Verhandlung zur Verfügung stehenden zwei Monate zu reagieren.
1.8 Vor diesem Hintergrund stellte die Beschwerdebegründung die erste mögliche Gelegenheit für die Einsprechenden dar, um das oben genannte Argument bezüglich der Einführung organisch modifizierter Schichtsilikate in Anspruch 1 gemäß dem vorliegenden von der Einspruchsabteilung als gewährbar angesehenen Hilfsantrag 3 durch die Beweismittel A045 bis A054 zu unterstützen.
1.9 Die Kammer hat daher entschieden, die Beweismittel A045 bis A054 unter Berücksichtigung der Erfordernisse des Artikels 12 (4) und (6) VOBK in das Verfahren zuzulassen.
1.10 Angesichts dieser Entscheidung ist es nicht mehr erforderlich, zu prüfen, ob die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das während der mündlichen Verhandlung von der Einsprechenden 1 eingereichte Dokument D44 nicht zuzulassen, gerechtfertigt war.
1.11 Ebenso kann die von der Patentinhaberin im Rahmen der Zulassungsdiskussion angeführte fehlende Relevanz der Dokumente A045 bis A054 offen bleiben. Entscheidend ist, ob die Einreichung dieser Dokumente eine rechtzeitige Reaktion auf das im Einspruchsverfahren eingereichte neue Vorbringen der Patentinhaberin darstellt. Für diese Frage ist die Relevanz der Dokumente unerheblich.
Hilfsantrag 3 - Anspruch 1 - erfinderische Tätigkeit gemäß Artikel 56 EPÜ
2. Der nächstliegende Stand der Technik
2.1 Alle Parteien waren darüber einig, dass D1 als der nächstliegende Stand der Technik angesehen werden kann. Die Kammer teilt diese Einschätzung.
2.2 D1 offenbart (Seite 4, Zeile 15 bis Seite 5, Zeile 5) Beschichtungsmassen, die insbesondere für die Herstellung von Lackbeschichtungen verwendet werden können. Tabelle 2 der D1 (Seite 56) offenbart verschiedene Beschichtungsmassen gemäß verschiedener Beispiele und Vergleichsbeispiele. Die Beschichtungsmasse gemäß Beispiel 7 (letzte Spalte der Tabelle 2) enthält einen Grundlack ("base paint"), sowie unter anderem Methylethylketoxim (entsprechend einem ersten Hautverhinderungsmittel gemäß Anspruch 1, siehe Absatz [0015] des Streitpatents), das Handelsprodukt Borchi® OXY-Coat und das Handelsprodukt WorléeAdd VP 2500. Der Grundlack enthält unter anderem (siehe Tabelle 1 und Zeile 18 auf Seite 54) ein langöliges Alkydharz (entsprechend dem anspruchsgemäßen oxidativ trocknenden organischen Bindemittel (a), siehe Absatz [0017] des Streitpatents) und Zirkonium 2-Ethylhexanoat (entsprechend dem anspruchsgemäßen ersten Sekundärtrockner (c1)). Das Handelsprodukt Borchi® OXY-Coat enthält (Seite 55, Zeilen 5 bis 9) einen Primärtrockner basierend auf einer Komplex-Verbindung des Eisens (entsprechend dem anspruchsgemäßen ersten Primärtrockner (b1)). Diese Verbindung ist insbesondere ein pentadentater Stickstoffdonorligand. Das Handelsprodukt WorléeAdd VP 2500 enthält (Seite 55, Zeilen 30 bis 31) eine Mischung aus Mangan-2-Ethylhexanoat (entsprechend dem anspruchsgemäßen zweiten Primärtrockner (b2)) und Tolyldiethanolamin. Es war unbestritten, dass Tolyldiethanolamin ein Hautverhinderungsmittel darstellt.
3. Die Unterscheidungsmerkmale
3.1 Es war zwischen den Parteien strittig, ob diese Beschichtungsmasse des Beispiels 7 der D1 lediglich ein oder, wie anspruchsgemäß gefordert, zwei Hautverhinderungsmittel mit unterschiedlichen Dampfdrücken bei 20°C aufweist. Die Patentinhaberin führte aus, dass Mangan 2-Ethylhexanoat und Tolyldiethanolamin im Handelsprodukt WorléeAdd VP 2500 nicht als getrennte individuelle Verbindungen, sondern als oktaedrischer Koordinationskomplex vorlägen. Freies Tolyldiethanolamin, entsprechend dem anspruchsgemäßen zweiten Hautverhinderungsmittel, sei daher im WorléeAdd VP 2500 nicht vorhanden.
Nachfolgend wird zugunsten der Patentinhaberin davon ausgegangen, dass die oben beschriebene Beschichtungsmasse gemäß Beispiel 7 der D1 nur ein Hautverhinderungsmittel enthält.
3.2 Es war unbestritten, dass das oben genannte in Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 erwähnte Merkmal f) in Beispiel 7 der D1 nicht offenbart war, und es somit ein Unterscheidungsmerkmal darstellt.
3.3 Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 3 unterscheidet sich somit von der Beschichtungsmasse des Beispiels 7 der D1 durch
- ein zweites Hautverhinderungsmittel und
- mindestens ein Rheologiemodifizierungsmittel, welches ein organisch modifiziertes Schichtsilikat darstellt.
4. Die objektive technische Aufgabe
4.1 Die Patentinhaberin hatte schriftlich vorgebracht, dass die aus den erwähnten Unterscheidungsmerkmalen ableitbare objektive technische Aufgabe in der Bereitstellung von Beschichtungsmassen liege, die Beschichtungen mit guter Filmhärte erlaubten, und die selbst noch bei relativ großen Schichtdicken auch bei niedrigen Temperaturen gleichmäßig und zügig abtrocknen würden.
4.2 In der zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung ergangenen Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK hatte die Kammer allerdings darauf hingewiesen (Ziffer 10.4.2 und 14.3.2), dass kein Vergleich der erfindungsgemäßen Beschichtungsmasse mit einer Beschichtungsmasse gemäß Beispiel 7 der D1 vorlag, aus dem eine technische Wirkung der Unterscheidungsmerkmale ableitbar wäre.
4.3 In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat sich die Patentinhaberin nicht mehr auf eine technische Wirkung der oben genannten Unterscheidungsmerkmale gestützt.
4.4 Hieraus folgt, dass, wie von den Einsprechenden ausgeführt, die objektive technische Aufgabe lediglich in der Bereitstellung einer alternativen Beschichtungsmasse zu sehen ist.
5. Naheliegen der beanspruchten Lösung
5.1 Hinsichtlich des ersten Unterscheidungsmerkmals vertrat die Patentinhaberin die Auffassung, dass der Zusatz eines zweiten Hautverhinderungsmittels zur Beschichtungsmasse gemäß Beispiel 7 der D1 nicht naheliegend sei. In D1 befinde sich kein Hinweis, der die Fachperson veranlasst hätte, in der Beschichtungsmasse des Beispiels 7 das explizit genannte Methylethylketoxim durch eine Kombination mindestens zweier Hautverhinderungsmittel zu ersetzen. Im Gegenteil ziele D1 darauf ab, die Trocknungsleistung der beschriebenen Beschichtungsmassen zu verbessern, ohne auf zusätzliche Hautverhinderungsmittel zurückzugreifen. Diesbezüglich verwies die Patentinhaberin auf Seite 4, Zeilen 11 bis 20 der D1. Diese Aufgabenstellung der D1 weise diametral weg vom Gegenstand der mit dem Streitpatent geschützten Erfindung. Die Ausführungsform des Beispiels 7 der D1 sei zweifelsfrei bevorzugt. Daher würde die Fachperson dieser Beschichtungsmasse nicht ein zweites Hautverhinderungsmittel hinzufügen, weil die Beschichtungsmasse schon gute Trocknungszeiten und eine geringe Tendenz zur Hautbildung besitze, wie in der Tabelle 2 der D1 gezeigt werde.
In Bezug auf das zweite Unterscheidungsmerkmal führte die Patentinhaberin aus, dass in den Beispielen der D1, die als best-mode Varianten anzusehen seien, kein Rheologiemodifizierungsmittel, Verdicker oder Thixotropiermittel zum Einsatz käme. Diese Substanzen fänden lediglich in einer im allgemeinen Teil der Beschreibung verorteten umfangreichen Liste an Additiven Erwähnung, nämlich auf Seite 51, Zeilen 23 bis 37 der D1. Außerdem seien organisch modifizierte Schichtsilikate in der D1 nicht einmal erwähnt. Die Einsprechenden hätten sich unter anderem auf das Beweismittel A051 bezogen, das solche organisch modifizierte Schichtsilikate als mögliche Additive von Beschichtungsmassen erwähne. Allerdings stelle A051 ein Kompendium von hunderten von Seiten dar, das eine extrem umfangreiche Liste an Additiven unterschiedlichster Natur offenbare. Zudem könnten Silikate in verschiedener Art und Weise modifiziert werden, zum Beispiel auch durch den Einsatz von anorganischen Ionen wie Aluminium oder Magnesium, siehe das Beweismittel A057, Seite 40. Es sei somit nicht plausibel gewesen, dass die Fachperson gerade organisch modifizierte Schichtsilikate ausgewählt hätte, um eine realistische und vernünftige Alternative zur Beschichtungsmasse des Beispiels 7 der D1 bereitzustellen. Aus diesem Grund gebe es für die Fachperson keine Veranlassung, die best-mode Variante des Beispiels 7 der D1 zu modifizieren, geschweige denn durch den Zusatz von organisch modifizierten Schichtsilikaten. Für einen derartiger Ansatz bedürfe es zwangsläufig einer unzulässigen rückschauenden Betrachtung.
5.2 Die Kammer hält diese Argumente aus folgenden Gründen für nicht überzeugend.
5.2.1 Wenn die objektive technische Aufgabe lediglich in der Bereitstellung einer Alternative besteht, ist kein Hinweis oder Anreiz in Richtung der beanspruchten Lösung erforderlich. Es reicht aus, dass die Fachperson die beanspruchte Lösung als vernünftige Alternative zu der Beschichtungsmasse des nächstliegenden Standes der Technik angesehen hätte (siehe T 1968/08, Gründe, Ziffer 5.5; T 12/07, Gründe, Ziffer 4.1.6; T 1045/12, Gründe, Ziffer 4.7.7).
5.2.2 Die Kammer stimmt der Patentinhaberin zwar zu, dass laut Seite 4, Zeilen 11 bis 20 der D1 auf den Einsatz von zusätzlichen Hautverhinderungsmitteln neben einem Ketoxim verzichtet werden kann. Allerdings ist die Möglichkeit eines solchen Zusatzes in D1 nicht ausgeschlossen, sondern sogar explizit offenbart, siehe zum Beispiel Seite 45, Zeilen 21 bis 34 und Anspruch 11 der D1, auf die die Einsprechenden verwiesen haben.
5.2.3 Zudem stimmt die Kammer mit den Einsprechenden darin überein, dass D1 auf Seite 51, Zeilen 23 bis 37 offenbart, dass die erfindungsgemäßen Beschichtungsmassen weitere Additive, unter anderem Rheologiemodifizierungsmittel aufweisen können, und dass geeignete Additive für die erfindungsgemäßen Beschichtungsmassen in A051 zu finden sind, auf das D1 explizit Bezug nimmt.
5.2.4 A051 stellt einen Leitfaden für Zusatzstoffe in Beschichtungsmassen dar und offenbart auf Seite 94, dass Rheologiemodifizierungsmittel Anwendung als Additive in Beschichtungsmassen finden. Zu den herkömmlichen Rheologiemodifizierungsmittel für lösemittelhaltige Beschichtungen gehören unter anderem Organotone ("organoclays"), d.h. organisch modifizierte Schichtsilikate (Seite 94, rechte Spalte, unten). Spezifische in Beschichtungsmassen anzuwendende organisch modifizierte Schichtsilikate sind dann auf Seite 110 der A051 in Verbindung mit ihren jeweiligen Eigenschaften genannt.
5.2.5 Aus diesem Grund würde die mit der oben genannten technischen Aufgabe befasste Fachperson den Einsatz eines zusätzlichen Hautverhinderungsmittels neben Methylethylketoxim so wie eines Rheologiemodifizierungsmittels in Form organisch modifizierter Schichtsilikate in der Beschichtungsmasse gemäß Beispiel 7 der D1 als eine vernünftige Alternative ansehen. Dadurch würde die Fachperson ohne erfinderisches Zutun zum Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 3 gelangen.
5.2.6 Die Tatsache, dass A051 eine Vielzahl von Additiven unterschiedlichster Natur offenbart, ist unerheblich, da diese Vielzahl lediglich gleichermaßen naheliegende Lösungen der gestellten technischen Aufgabe darstellt. Die willkürliche Auswahl einer dieser naheliegenden Lösungen kann nicht zu einer erfinderischen Tätigkeit beitragen.
5.3 Aus diesen Gründen kommt die Kammer zum Schluss, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 3 ausgehend von D1 als nächstliegendem Stand der Technik und in Kombination mit A051 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Artikel 56 EPÜ). Hilfsantrag 3 ist daher nicht gewährbar.
Hauptantrag - das Streitpatent in erteilter Fassung - Anspruch 1 - Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 a) EPÜ - erfinderische Tätigkeit gemäß Artikel 56 EPÜ
6. Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 (Ziffer II oben) ist breiter als der des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 3, da er eine Beschichtungsmasse definiert, die das oben genannte Merkmal f) nicht enthält.
Daraus folgt, dass die obigen Erwägungen der Kammer zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 3 gleichfalls für den Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 zutreffen (Artikel 56 EPÜ).
Der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 a) EPÜ steht somit der Aufrechterhaltung des Streitpatents in erteilter Fassung entgegen. Der Hauptantrag ist nicht gewährbar.
Hilfsanträge 4 bis 6 - Anspruch 1 - erfinderische Tätigkeit gemäß Artikel 56 EPÜ
7. Anspruch 1 der Hilfsanträge 4 bis 6 ist mit Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 identisch.
Daraus folgt, dass die obigen Erwägungen der Kammer zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 3 auch für den Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß jedem der Hilfsanträge 4 bis 6 zutreffen (Artikel 56 EPÜ). Keiner der Hilfsanträge 4 bis 6 ist daher gewährbar.
Schlussfolgerung
8. Keiner der Anträge der Patentinhaberin ist unter Artikel 56 EPÜ gewährbar.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Streitpatent wird widerrufen.