European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2025:T146022.20250116 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 16 Januar 2025 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1460/22 | ||||||||
Anmeldenummer: | 08104718.5 | ||||||||
IPC-Klasse: | H04R 25/00 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Hörgerät mit visualisierter psychoakustischer Größe und entsprechendes Verfahren | ||||||||
Name des Anmelders: | Sivantos Pte. Ltd. | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Oticon A/S | ||||||||
Kammer: | 3.5.05 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag und Hilfsantrag (nein): Wiedergabe von Information | ||||||||
Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Streitpatent in geänderter Fassung gemäß dem damaligen "Hauptantrag" der Patentinhaberin aufrecht zu erhalten (Artikel 101 (3) a) EPÜ). Die Einspruchsabteilung war insbesondere der Ansicht, dass dieser Hauptantrag den Erfordernissen von Artikel 54, 56, 83, 123(2) und 123(3) EPÜ genüge.
II. In der angefochtenen Entscheidung wurde unter anderem der folgende Stand der Technik herangezogen:
P1: EP 1 676 529 A1.
III. Am 16. Januar 2025 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt. Die Schlussanträge der Parteien waren wie folgt:
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte, das Streitpatent unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, als Hauptantrag, die Beschwerde zurückzuweisen oder, hilfsweise, das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage eines Hilfsantrags (Hilfsantrag 4) aufrecht zu erhalten.
Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.
IV. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt (mit einer von der Kammer vorgenommenen Merkmalsgliederung):
a) "Hörsystem, umfassend
b) ein Hörgerät (10, 20) mit
c) - einer Signalverarbeitungseinrichtung zur Verarbeitung eines Eingangsschalls (E1) zu einem Ausgangsschall (A1, A2), und
d) - einer Analyseeinrichtung, um eine aktuelle Hörsituation zu analysieren,
e) und eine Fernbedienung (15) mit einer Visualisierungseinrichtung (17) und einer Verarbeitungseinrichtung,
f) - wobei das Hörgerät (10, 20) und die Fernbedienung (15) jeweils eine Kommunikationseinrichtung besitzen,
g) - wobei in der Signalverarbeitungseinrichtung oder in der mit ihr in Datenverbindung stehenden Verarbeitungseinrichtung der Fernbedienung (15) ein perzeptives Modell (14) implementiert ist, mit dem bezogen auf den Ausgangsschall (A1, A2) eine psychoakustische Größe (P) bereitstellbar ist, und
h) - wobei die Visualisierungseinrichtung (17) mit der Signalverarbeitungseinrichtung oder der Verarbeitungseinrichtung verbunden ist, um einen Wert der psychoakustischen Größe (P) zu visualisieren,
i) dadurch gekennzeichnet, dass
- aus entsprechenden Analysewerten der Analyseeinrichtung mit dem perzeptiven Modell (14) der Signalverarbeitungseinrichtung oder Verarbeitungseinrichtung mindestens ein psychoakustischer Referenzwert (R) unabhängig von einer Einstellung der Signalverarbeitungsein-richtung erzeugbar ist,
j) welcher durch die Visualisierungseinrichtung (17) zusammen mit einem psychoakustischen Wert betreffend eine aktuelle Einstellung der Signalverarbeitungseinrichtung optisch dargestellt wird."
V. Anspruch 1 von Hilfsantrag 4 umfasst die Merkmale a) bis e) und die folgenden Merkmale (mit einer von der Kammer vorgenommenen Merkmalsgliederung sowie mit der Hervorhebung von Änderungen gegenüber dem Hauptantrag, insbesondere mit Bezug auf Merkmale g), h) und i)):
k) "- wobei in der Signalverarbeitungseinrichtung [deleted: oder in einer mit ihr in Datenverbindung stehenden Verarbeitungseinrichtung der Fernbedienung (15) ]ein perzeptives Modell (14) implementiert ist, mit dem bezogen auf den Ausgangsschall (A1, A2) eine psychoakustische Größe (P) bereitstellbar ist, [deleted: und]
l) - wobei die Visualisierungseinrichtung (17) mit der Signalverarbeitungseinrichtung [deleted: oder der Verarbeitungseinrichtung verbunden ist], um einen Wert der psychoakustischen Größe (P) zu visualisieren, und
m) - wobei das Hörgerät (10, 20) und die Fernbedienung (15) jeweils eine Kommunikationseinrichtung besitzen, mit denen der jeweils aktuelle Wert der von der Signalverarbeitungseinrichtung bereitgestellten psychoakustischen Größe (P) von dem Hörgerät (10, 20) zu der Fernbedienung (15) zur optischen Darstellung übertragbar ist,
n) dadurch gekennzeichnet, dass
- aus entsprechenden Analysewerten der Analyseeinrichtung mit dem perzeptiven Modell (14) der Signalverarbeitungseinrichtung [deleted: oder Verarbeitungseinrichtung] mindestens ein psychoakustischer Referenzwert (R) unabhängig von einer Einstellung der Signalverarbeitungseinrichtung erzeugbar ist,
o) welcher durch die Visualisierungseinrichtung (17) zusammen mit einem psychoakustischen Wert betreffend eine aktuelle Einstellung der Signalverarbeitungseinrichtung optisch dargestellt wird."
Entscheidungsgründe
1. Technischer Hintergrund
1.1 Das Streitpatent betrifft ein Hörgerät und insbesondere die Anpassung eines Hörgeräts durch eine den Nutzer betreuende Person.
1.2 Die Hörgeräteversorgung von Menschen mit Mehrfachbehinderungen oder die Versorgung von Kindern basiert laut Streitpatent im Wesentlichen darauf, dass die betreuenden Personen in den Anpassprozess und auch in den späteren Nachsorgeprozess eingebunden sind. So spielen diese Personen im Alltag eine wesentliche Rolle, in dem sie z. B. die (allgemeine) Lautstärke des Hörgeräts anpassen. Wie dem Absatz [0008] des Streitpatents zu entnehmen ist, wissen sie jedoch nicht, welches Problem der entsprechende Schwerhörige tatsächlich hat. Damit sind ihre Eingriffe in die Hörgeräteeinstellung nicht notwendigerweise "richtig".
1.3 Entsprechend ist gemäß dem Streitpatent die (subjektive) Aufgabe der vorliegenden Erfindung darin zu sehen, die Einstellung oder die Anpassung eines Hörgeräts für einen Nutzer oder für eine den Nutzer betreuende Person zu erleichtern.
1.4 Diese Aufgabe wird im beanspruchten Hörsystem erfindungsgemäß dadurch gelöst, dass eine psychoakustische Größe, die angibt, wie der Nutzer einen Schall wahrnimmt, optisch dargestellt wird, so dass die betreuende Person das Hörgerät für den Nutzer so angenehm wie möglich einstellen kann.
1.5 Konkret wird im Beispiel von Figur 2 die psychoakustische Größe P bzw. der entsprechende Wert von dem Hörgerät 10 über eine nicht dargestellte Drahtlosschnittstelle zu einer Fernbedienung 15 übertragen. Diese Fernbedienung besitzt nun neben einigen Bedienelementen 16 einen kleinen Bildschirm 17 als Visualisierungseinrichtung. Gegebenenfalls genügt zur Visualisierung auch ein eindimensionaler Anzeigebalkenbestehend aus einer Reihe von LEDs oder Ähnlichem. Im vorliegenden Beispiel ist der Bildschirm 17 in der Lage, die Werte mehrerer psychoakustischer Größen P darzustellen, die von dem Hörgerät 10 geliefert werden.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
1.6 Die über die Wahrnehmung des Schwerhörenden angebotenen Größen können betreuende Personen dann nutzen, um gegebenenfalls die Einstellung des Hörsystems zu ändern.
2. Hauptantrag: Anspruch 1 - erfinderische Tätigkeit
2.1 Es ist unstrittig, dass das Dokument P1 als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit geeignet ist. Die Kammer sieht keinen Grund, dies anzuzweifeln.
2.2 In Gründe 8.2 der angefochtenen Entscheidung kam die Einspruchsabteilung zum Schluss, dass das Dokument P1 die Merkmale d), e) und i) nicht und die Merkmale f), g) und j) nur teilweise offenbare. In der angefochtenen Entscheidung wird jedoch nicht angegeben, wie die Einspruchsabteilung zu diesem Schluss gelangen konnte. Anstatt hierbei eine eingehende Analyse durchzuführen hat sich die Einspruchsabteilung - aus für die Kammer nicht nachvollziehbaren Gründen - in der angefochtenen Entscheidung lediglich auf den bloßen Versuch einer Widerlegung der Parteienargumente beschränkt.
2.3 Die Kammer ist hingegen der Ansicht, dass, ausgehend von P1, die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hauptantrags zu verneinen ist. Die Gründe hierfür sind wie folgt.
2.4 Zur Offenbarung von Dokument P1 ist zunächst Folgendes festzuhalten:
2.4.1 Nach Einschätzung der Kammer zeigt P1 in Figur 9 ein Hörsystem nach Merkmal a) mit zwei Hörgeräten 27 gemäß Merkmal b). Solche Hörgeräte weisen implizit eine "Signalverarbeitungseinrichtung" gemäß Merkmal c) auf.
2.4.2 Die Kammer stimmt überdies der Beschwerdeführerin zu, dass die in Absatz [0028] von Dokument P1 offenbarte "Transformation" zwangsläufig eine "Analyseeinrichtung" nach Merkmal d) beinhaltet. Das beruht primär darauf, dass die in den Figuren 8a bis 8c von P1 dargestellten Ergebnisse dieser Transformation allesamt unterschiedliche Hörempfindungen in einer bestimmten Hörsituation darstellen. Die in Absatz [0028] von P1 erwähnte "effektive Darstellung des empfundenen Hörvermögens" kann lediglich aufgrund einer vorangehenden Analyse der jeweiligen Hörsituation erfolgen.
Hierzu argumentierte die Beschwerdegegnerin, dass die in P1 beschriebene "Analyseeinrichtung" keine realistische Hörsituation erfasse, sondern nur eine künstliche Situation im Akustikerraum mit Testtönen abbilde. Die Kammer hält dem jedoch entgegen, dass sich der breite Begriff "aktuelle Hörsituation" aus Merkmal d) auf jede beliebige Hörsituation beziehen kann, die der Analyseeinrichtung zur Analyse vorgelegt wird, und nicht nur auf "typische" Hörsituationen wie z. B. eine "Cocktailparty".
2.4.3 Darüber hinaus hat die Beschwerdeführerin überzeugend dargelegt, dass die in den Absätzen [0039] bis [0043] von Dokument P1 beschriebene Hörgeräte-Anpassung eine Fernbedienung im Sinne von Merkmal e) zumindest implizit offenbart. Das beruht vor allem darauf, dass der fachkundige Leser aufgrund seines allgemeinen Fachwissens ohne Weiteres verstehen würde, dass ein Akustiker eine solche Anpassung üblicherweise mit einem Computer ("PC") vornimmt. Diese Anpassung bzw. "Bedienung" erfolgt eindeutig aus der "Ferne". Wie von der Beschwerdeführerin ausgeführt, erfüllt der "PC" somit die Grundfunktion einer "Fernbedienung". Die Kammer betont in dieser Hinsicht, dass das Streitpatent bezüglich der für die Visualisierung von psychoakustischen Kenngrößen heranzuziehenden Geräte keinerlei Einschränkungen vorsieht (vgl. Absatz [0020] des Streitpatents, letzter Satz). Daher sieht die Kammer vorerst auch keinen objektiven Grund, sich auf die von der Beschwerdegegnerin vorgenommene Auslegung von "Fernbedienung" im Sinne eines "Handapparats" festzulegen (siehe aber auch Punkt 2.8 unten).
2.4.4 Die in Figur 9 von P1 gezeigten gestrichelten Pfeile zu den beiden Hörgeräten 27 weisen zudem unmittelbar auf eine in den Hörgeräten 27 vorhandene "Kommunikations-einrichtung" im Sinne von Merkmal f) hin. Darüber hinaus kann die in Absatz [0015] von P1 mit Bezug auf Figur 1 erwähnte Lautheitswahrnehmung mit Hörverlust (Kurven "B" und "C") und ohne Hörverlust (Kurve "A") als "perzeptives Modell" nach Merkmal g) angesehen werden. Sie stellt nämlich auf logische und objektive Weise die Hörwahrnehmung einer normal- bzw. schwerhörenden Person dar und muss zwangsläufig im PC implementiert sein, damit die Kurven A bis C und die damit einhergehende bildliche Darstellung in den Figuren 3, 4 und 8 von P1 überhaupt ermittelt werden können.
2.4.5 Mit der in den Figuren 1 bis 4 und 8 aus P1 dargestellten Lautheitswahrnehmung wird, bezogen auf einen von den Hörgeräten 27 abgegebenen Ausgangsschall, eine "psychoakustische Größe" nach Merkmal g), d. h. die empfundene "Lautheit", bereitgestellt. Der zuvor erwähnte PC umfasst dafür notwendigerweise eine "Verarbeitungseinrichtung" im Sinne von Merkmal e), die mit dem Bildschirm verbunden ist, um diese psychoakustische Größe bzw. deren Wert, gemäß Merkmal h) zu visualisieren.
2.4.6 Wie von der Beschwerdeführerin überzeugend vorgebracht, kann die bildliche Darstellung von Kurve "A" als ein "Referenzbild" betrachtet werden, da es sich dabei um die "Empfindlichkeitskurve für Normalhörende" (vgl. Absatz [0016] von P1) handelt. Die Kurven "A", "B" und "C" werden üblicherweise mit den gleichen, oben erwähnten, "Testtönen" ermittelt. Durch einen Vergleich der Kurven "B" und "C" mit der Kurve "A" für die verschiedenen Testtöne wird dann letztendlich die Schwerhörigkeit der Testperson festgestellt. Dies bedeutet wiederum, dass aus Analysewerten der Analyseeinrichtung mit dem perzeptiven Modell der Verarbeitungseinrichtung ein "psychoakustischer Referenzwert" nach Merkmal i) erzeugbar ist.
2.5 Die Beschwerdegegnerin verwies zurecht darauf, dass die in P1 offenbarte Vorrichtung auf die bildliche Darstellung von komplexen Szenen fokussiert (vgl. Figuren 3, 4 und 8 sowie Absatz [0019] von P1, erster Satz). Es ist daher fraglich, ob der fachkundige Leser von P1 eine solche bildliche Darstellung eindeutig und unmittelbar als eine Darstellung von "Werten" gemäß Merkmal j) erkennen würde. Zugunsten der Beschwerdegegnerin geht die Kammer jedoch im Folgenden davon aus, dass dieses Merkmal nicht in P1 offenbart wird.
2.6 Die Beschwerdeführerin hat in diesem Zusammenhang zutreffend erkannt, dass es sich bei der optischen Darstellung nach Merkmal j) um eine "Wiedergabe von Information" handelt. Sie verwies dabei auf die Entscheidung T 1741/08. Dort wird in Gründe 2.1.6 erläutert, dass eine "unterbrochene technische Kette" vorliegt, wenn die Darstellung von Information lediglich eine Auswirkung auf die Kognition des betreffenden Nutzers hat, ohne dass diese zu einer weiteren technischen Wirkung führt. Analog verhält es sich mit Merkmal j) im vorliegenden Fall. Die gemeinsame optische Darstellung des psychoakustischen Referenzwerts und des aktuellen psychoakustischen Werts erzeugt nämlich keine unmittelbare technische Wirkung.
2.7 Die Beschwerdegegnerin entgegnete diesem Argument mit einem Verweis auf die Absätze [0008] und [0030] des Streitpatents. Sie betonte, dass die dem Streitpatent zugrunde liegende Erfindung davon ausgehe, dass die Hörgeräteversorgung von Menschen mit Mehrfachbehin-derungen oder aber die Versorgung von Kindern im Wesentlichen darauf basiere, dass die betreuenden Personen in den Anpassprozess und auch in den späteren Nachsorgeprozess eingebunden werden (vgl. Punkt 1.2 oben). Die Darstellung von Information nach Merkmal j) sei nach ihrer Auffassung eine notwendige Bedingung, damit die betreuende Person überhaupt in den Anpassprozess eingreifen könne. Insbesondere könne sie mittels der Darstellung nach Merkmal j) vermeiden, dass die durch das Hörgerät vorgenommene Verstärkung andauernd "hoch- und runterspringe".
Die Beschwerdeführerin hat jedoch hierzu zutreffend angemerkt, dass aus Anspruch 1 nicht zwingend hervorgeht, dass eine betreuende Person bei der Bedienung eines Hörgeräts einer zu betreuenden Person eingreifen bzw. unterstützt werden soll. Darüber hinaus ist die Kammer der Ansicht, dass die Interpretation der nach Merkmal j) dargestellten Information und die daraus resultierende Handlung dem Nutzer überlassen bleiben. Eine etwaige technische Wirkung wäre somit lediglich, wenn überhaupt, eine indirekte Folge der kognitiven Verarbeitung der dargestellten Information durch den Nutzer, da ja hier durch die bloße Wiedergabe der Information (d. h. der psychoakustischen (Referenz-)Werte gemäß Merkmal j)), der entsprechende Nutzer nicht durch eine ständige und/oder geführte Mensch-Maschine-Interaktion glaubhaft bei der Ausführung einer technischen Aufgabe unterstützt wird (vgl. T 336/14 und T 1802/13). Somit wird die von der Beschwerdegegnerin geltend gemachte objektive technische Aufgabe, nämlich "es zu ermöglichen, dass eine betreuende Person bei der Bedienung des Hörgeräts eines Menschen mit Mehrfachbehinderungen oder eines gehörgeschädigten Kindes unterstützt wird", durch die Merkmale a) bis j) nicht glaubhaft gelöst. Mangels Lösung einer solchen technischen Aufgabe ist die erfinderische Tätigkeit in Bezug auf die besagten Merkmale mithin nicht anzuerkennen.
2.8 Auch die von der Beschwerdegegnerin geltend gemachte Auslegung des Begriffs "Fernbedienung" im Sinne eines "Handapparats" kann daran nichts ändern:
2.8.1 Bei dieser Auslegung kann der in Dokument P1 implizierte "PC" nicht als "Fernbedienung" betrachtet werden (vgl. Punkt 2.4.3 oben) und somit kommen mit Bezug auf P1 weitere Unterscheidungsmerkmale hinzu, nämlich, dass das beanspruchte Hörsystem
- eine Fernbedienung umfasst mit einer Visualisierungseinrichtung, einer Verarbeitungseinrichtung und einer mit der Verarbeitungseinrichtung für die Visualisierung eines Werts der psychoakustischen Größe verbundenen Kommunikationseinrichtung (vgl. Merkmale e), f) und h)),
- wobei das perzeptive Modell in der Signalverarbeitungseinrichtung des Hörgeräts oder in der Verarbeitungseinrichtung der Fernbedienung implementiert ist (vgl. Merkmal g)).
Die im letzten Absatz von Punkt 2.6 oben genannte, von der Beschwerdegegnerin herangezogene objektive technische Aufgabe trifft dennoch aus denselben wie in Punkt 2.6 oben genannten Gründen nicht zu. Zugunsten der Beschwerdegegnerin geht die Kammer jedoch in Anwendung des etablierten COMVIK-Ansatzes (vgl. T 641/00, Leitsatz II) von der folgenden zu lösenden objektiven technischen Aufgabe aus: "Wie ist die in Absatz [0007] von P1 angesprochene Visualisierung des Hörvermögens einer Person auch für andere Personen (statt z. B. nur für den Akustiker) praktisch auszuführen".
2.8.2 Zur Lösung dieser objektiven technischen Aufgabe hätte der Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens durchaus auf den Einsatz einer "Fernbedienung" gemäß Merkmal e) mit einer "Kommunikationseinrichtung" nach Merkmal f), z. B. eines Mobiltelefons, bei einem Hörgerät am Prioritätsdatum des Streitpatents zurückgegriffen. Auch der Einsatz von peripheren Geräten, um die Funktionalität einer bestimmten elektronischen Vorrichtung zu verbessern bzw. eine gewisse Funktionalität dieser Vorrichtung auszulagern, war damals schon aufgrund des allgemeinen Fachwissens des Fachmanns bekannt. Daher wäre es für diesen Fachmann durchaus möglich gewesen, die gestellte objektive technische Aufgabe durch Auslagern einer gewissen Funktionalität der Hörgeräte 27 oder des PC in Dokument P1 zu lösen. Diese Funktionalität könnte z. B. die Implementierung des "perzeptiven Modells" nach Merkmal g) oder auch das Erzeugen eines Ausgangssignals für die Visualisierung nach Merkmal h) und j) umfassen. Dabei ist festzuhalten, dass für den die Visualisierung 23 in Figur 9 von P1 ausführenden Bildschirm entsprechend den in Figuren 8a bis 8c von P1 gezeigten komplexen Szenen typischerweise einer der "heute üblicherweise verwendeten grossen Bildschirmen" (vgl. Absatz [0038] in P1) eingesetzt wird. Diese komplexen Szenen und der damit einhergehende "große" Bildschirm sind typischerweise primär für den Akustiker gedacht und nicht für einen Laien, wie die zuvor genannte "betreuende Person". Sie sind in Dokument P1 jedoch lediglich für einen dort erwähnten "weiteren Fortschritt" notwendig, wobei "die erzielten Verbesserungen bei der Verwendung einer Hörhilfe visualisiert werden können" (vgl. Absatz [0011] von P1). Die Lehre in P1 ist jedoch nicht, entgegen der Behauptung der Beschwerdegegnerin, auf "komplexe Szenen" beschränkt. So geht aus dem ersten Satz von Absatz [0019] von P1 hervor, dass die Darstellung in Figur 2 von P1 zumindest als - im Vergleich zu der in den Figuren 3, 4 und 8 gezeigten Darstellung - weniger komplex angesehen wird. Des Weiteren ist dem Absatz [0007] von P1 zu entnehmen, dass für den Fall, dass nur das Hörvermögen einer Person an sich sichtbar gemacht werden soll, Bildparameter wie "Helligkeit, Kontrast, Bildschärfe, Farbton und/oder -sättigung" auszureichen scheinen. Die Visualisierung dieses Hörvermögens bzw. dieser Bildparameter könnte für die betreuende Person durchaus sinnvoll sein. Demnach wäre der Fachmann auf dem Gebiet der Hörgeräte mühelos in der Lage gewesen, sowohl einen Referenzwert als auch das Hörvermögen einer Person durch zwei unterschiedliche Farbtöne zusammen auf dem Bildschirm der Fernbedienung anzuzeigen - zumal auch Anspruch 1 keinerlei Details über die entsprechenden Bildschirmeigenschaften (Größe, Auflösung, etc.) angibt. Folglich wäre er, ohne erfinderisch tätig zu werden, auch zu einer gleichzeitigen, optischen Darstellung von "Referenzwerten" und "psychoakustischen Größen" nach Merkmal j) auf einer Fernbedienung gelangt.
2.9 Somit beruht der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).
3. Hilfsantrag 4: Anspruch 1 - erfinderische Tätigkeit
3.1 Bezüglich Hilfsantrag 4 konnte die Beschwerdegegnerin in P1 keine eindeutige und unmittelbare Offenbarung der Merkmale e), k), l) und n) erkennen. Insbesondere konnte sie nicht erkennen, dass in P1 offenbart wäre, dass das "perzeptive Modell" nach Merkmal k) in der Signalverarbeitungseinrichtung des Hörgeräts zu implementieren wäre. Sie verwies bezüglich der zu lösenden objektiven technischen Aufgabe auf die von ihr für den Hauptantrag genannte Aufgabe (siehe Punkt 2.3 oben), aber mit dem Zusatz, dass die dort genannte Unterstützung "mit einem einfach(er)en Gerät" bzw. "mit einfach(er)en Mitteln" erfolgen solle.
3.2 Die Beschwerdeführerin verwies zurecht darauf, dass es nach dem Wortlaut von Anspruch 1 nur erforderlich ist, dass die "Signalverarbeitungseinrichtung" des Hörgeräts das "perzeptive Modell" umfasst. Es wird dabei in der Tat offen gelassen, ob dieses Modell in einer anderen Komponente zusätzlich oder stattdessen implementiert wäre. Dies könnte z. B. der Fall sein, um bei einem Wechsel des Hörgeräts oder einem Update der Firmware dafür Sorge zu tragen, dass die Fernbedienung die gespeicherten Einstellungen und das perzeptive Modell an das neue Gerät übertragen kann. Die Kammer stimmt demnach der Beschwerdeführerin zu, dass eine - wie auch immer geartete - Unterstützung des Nutzers mit einfache(re)n Mitteln aus dem Anspruchswortlaut nicht zwingend hervorgeht.
3.3 Zugunsten der Beschwerdegegnerin wird die Kammer auch hier von der Auslegung des Begriffs "Fernbedienung" im Sinne eines "Handapparats" ausgehen (vgl. Punkt 2.8 oben). Sie sieht aber keine Veranlassung, die in Punkt 2.8.1 oben formulierte objektive technische Aufgabe im Lichte der Merkmale e), k), l), n) und o) zu ändern. Somit wäre der Fachmann zur Lösung dieser gestellten Aufgabe ähnlich wie in Punkt 2.8.2 oben dargestellt vorgegangen. Davon ausgehend, dass die Implementierung des "perzeptiven Modells" nach Merkmal k) tatsächlich nur in der Signalverarbeitungs-einrichtung des Hörgeräts stattfindet, stimmt die Kammer der Beschwerdeführerin insbesondere darin zu, dass die Implementierung des "perzeptiven Modells" nach Merkmal k) eine Auswahl aus gleichartigen Alternativen betrifft: ob die Funktionalität bezüglich des perzeptiven Modells in die Signalverarbeitungsein-richtung des "Hörgeräts" nach Merkmal c) oder in die Verarbeitungseinrichtung der "Fernbedienung" aus Merkmal e) ausgelagert wird, wären, wie von der Beschwerdeführerin vorgebracht, für den Fachmann gleichartige Implementierunsoptionen gewesen, zumindest für jene perzeptiven Modelle, wofür der beanspruchte Gegenstand überhaupt ausführbar wäre.
Die von der Beschwerdegegnerin ins Feld geführten "Kurven nach Fletcher-Munson" können in diesem Kontext als ein illustratives Beispiel herangezogen werden. Sie verkörpern ein bekanntes perzeptives Modell, welches die frequenzabhängige Lautheitswahrnehmung beschreibt und ermöglichen so eine frequenzabhängige Verstärkungsanpassung des Hörgeräts. Da diese
"Fletcher-Munson-Kurven" auf den Durchschnittswerten der menschlichen Lautheitswahrnehmung basieren, erscheint es hierbei weniger angezeigt, sich bei der
Hörgeräte-Anpassung auf die subjektive Rückmeldung des Hörgeräteträgers zu verlassen, die bei den oben in Punkt 1.2 angesprochenen Mehrfachbehinderungen möglicherweise schwierig zu erhalten ist. Sie sind in so einem Fall als eine Alternative für das übliche Ermittlungsverfahren mittels Testtönen (vgl. Punkte 2.4.2 und 2.4.6 oben) einzusetzen. Darüber hinaus lassen sie sich durch mathematische Funktionen oder Lookup-Tabellen darstellen, die wenig Speicherplatz benötigen und dadurch relativ einfach zu implementieren sind. Folglich ist ihre Implementierung sowohl im "Hörgerät" als auch in der "Fernbedienung" denkbar. Beide Alternativen haben somit Vor- und Nachteile, mit denen der Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens zum relevanten Datum durchaus vertraut gewesen wäre. So ermöglicht die Integration im Hörgerät z. B. eine Echtzeitverarbeitung und eine geringe Latenz, während die Umsetzung in einer "Fernbedienung" den Bedienkomfort erhöhen könnte. Die Überlegungen zur Implementierung des "perzeptiven Modells" nach Merkmal k) gelten analog für die Visualisierungsfunktionalität gemäß Merkmal l) und die Erzeugung des "psychoakustischen Referenzwerts" nach Merkmal n). Die Kammer bemerkt des Weiteren, dass die Merkmale j) und o) den gleichen Sachverhalt beschreiben: der Fachmann wäre in Bezug auf Merkmal o) in gleicher Weise vorgegangen, wie bereits in Punkt 2.8.2 oben für Merkmal j) erläutert.
3.4 Mithin beruht auch der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 4 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.