European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2023:T042222.20231005 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 05 October 2023 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0422/22 | ||||||||
Anmeldenummer: | 16183954.3 | ||||||||
IPC-Klasse: | B62D 59/04 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | VERFAHREN ZUM BETREIBEN EINES HILFSANTRIEBS FÜR EINEN ANHÄNGER SOWIE SYSTEM ZUM ANTREIBEN WENIGSTENS EINES RADS EINES SOLCHEN ANHÄNGERS | ||||||||
Name des Anmelders: | Reich GmbH, Regel- und Sicherheitstechnik | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Truma Gerätetechnik GmbH & Co. KG | ||||||||
Kammer: | 3.2.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Ermessen Vorbringen nicht zuzulassen - Voraussetzungen des Art. 12 (3) VOBK 2020 erfüllt (nein) Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der der Einspruch gegen das europäische Patent 3135569 zurückgewiesen worden ist.
II. Folgende Entgegenhaltungen sind für diese Entscheidung relevant:
D1: DE 20 2012 006 089 U1,
D2: WO 2013/053776 A2, und
D3: US 2014/0336793 A1.
III. Die Einspruchsabteilung befand in ihrer Entscheidung unter anderem, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D1 in Kombination mit D2 beruhe.
IV. Am 5. Oktober 2023 fand eine mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz statt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte, das Patent unter Aufhebung der Entscheidung der Einspruchsabteilung zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufrechterhaltung in geändertem Umfang auf der Grundlage der folgenden Dokumente:
Ansprüche 1 bis 13 gemäß Hilfsantrag 1 wie vorgelegt mit der Beschwerdeerwiderung,
Beschreibung Spalten 1 bis 18 wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung, sowie
Figuren wie erteilt (in folgendem Hauptantrag).
V. Die unabhängigen Ansprüche 1 und 6 gemäß Hauptantrag lauten wie folgt (Merkmalsgliederung durch die Kammer):
1.1 Verfahren zum Betreiben eines Hilfsantriebs für einen
Anhänger,
1.2 insbesondere einen Wohnwagen, einen Bootsanhänger,
einen Verkaufswagen, einen Transportanhänger oder einen Autotransportanhänger, bei welchem zumindest ein mit dem Hilfsantrieb über eine drahtlose Kommunikationsverbindung verbundenes mobiles Endgerät (10)
1.2.1 wenigstens ein Funktionsbedienelement (26a-n), mittels
welchem wenigstens eine Funktion des Hilfsantriebs von einem Nutzer über das mobile Endgerät (10) und die drahtlose Kommunikationsverbindung bewirkbar ist, und
1.2.2 wenigstens ein von dem Funktionsbedienelement (26a-n)
unterschiedliches Sicherheitsbedienelement (28a,b) bereitstellt,
1.3 wobei das Funktionsbedienelement (26a-n) in
Abhängigkeit von wenigstens einer durch den Nutzer bewirkten Betätigung des Sicherheitsbedienelements (28a,b) für das Bewirken der wenigstens einen Funktion freigegeben wird,
dadurch gekennzeichnet, dass
1.4 das Sicherheitsbedienelement (28a,b) als Bedienfläche
auf einem berührungsempfindlichen Bildschirm (14) des mobilen Endgeräts (10) bereitgestellt wird, und
1.5 wobei eine durch den Nutzer bewirkte Betätigung des
freigegebenen Funktionsbedienelements (26a-n) mittels wenigstens eines Symbols (30) auf einer Anzeige (14) des mobilen Endgeräts (10) angezeigt wird, und wobei die durch den Nutzer bewirkte Betätigung des freigegebenen Funktionsbedienelements (26a-n) mittels des wenigstens einen Symbols (30) in einem vom Funktionsbedienelement (26a-n) und vom Sicherheitsbedienelement (28a,b) unterschiedlichen Bereich (32) des mobilen Endgeräts (10) angezeigt wird."
6.1 System zum Antreiben wenigstens eines Rads eines
Anhängers, insbesondere eines Wohnwagens, eines Bootsanhängers, eines Verkaufswagens, eines Transportanhängers oder eines Autotransportanhängers, mit wenigstens einem Hilfsantrieb zum Antreiben des Rads, und
6.2 mit zumindest einem über eine drahtlose
Kommunikationsverbindung mit dem Hilfsantrieb verbindbaren mobilen Endgerät (10), welches
6.2.1 wenigstens ein Funktionsbedienelement (26a-n), mittels
welchem wenigstens eine Funktion des Hilfsantriebs von einem Nutzer über das mobile Endgerät und die drahtlose Verbindung bewirkbar ist, und
6.2.2 wenigstens ein von dem Funktionsbedienelement (26a-n)
unterschiedliches Sicherheitsbedienelement (28a,b) aufweist,
6.3 wobei das System dazu ausgebildet ist, das
Funktionsbedienelement (26a-n) in Abhängigkeit von wenigstens einer durch den Nutzer bewirkten Betätigung des Sicherheitsbedienelements (28a,b) für das Bewirken der wenigstens einen Funktion freizugeben,
dadurch gekennzeichnet, dass
6.4 das Sicherheitsbedienelement (28a,b) als Bedienfläche
auf einem berührungsempfindlichen Bildschirm (14) des mobilen Endgeräts (10) bereitgestellt wird,
6.5 wobei das mobile Endgerät (10) eine Anzeige (14)
mit wenigstens einem von dem Funktionsbedienelement (26a-n) und von dem Sicherheitsbedienelement (28a,b) unterschiedlichen Anzeigebereich (32) aufweist, in welchem eine durch den Nutzer bewirkte Betätigung des freigegebenen Funktionsbedienelements (26a-n) mittels wenigstens eines Symbols (30) auf der Anzeige (14) des mobilen Endgeräts (10) anzeigbar ist."
Entscheidungsgründe
1. Hauptantrag - erfinderischen Tätigkeit
1.1 Der Anspruchsatz gemäß Hauptantrag entspricht dem Anspruchsatz des mit der Einspruchserwiderung eingereichten Hilfsantrags 1. Über diesen Antrag hat die Einspruchsabteilung nicht entschieden.
Die unabhängigen Verfahrens- und Systemansprüche dieses Antrags unterscheiden sich von den jeweiligen erteilten Verfahrens- und Systemansprüchen dadurch, dass der Verfahrensanspruch zusätzlich das Merkmal 1.5 enthält und der Systemanspruch das Merkmal 6.5 aufweist.
1.2 Mit der Beschwerdebegründung argumentierte die Beschwerdeführerin in allgemeiner Form, dass die zusätzlichen Merkmale in den unabhängigen Ansprüchen 1 und 6 des nun vorliegenden Hauptantrags (ehemaliger Hilfsantrag 1) aus D2 bekannt seien und dass somit der Gegenstand der geänderten unabhängigen Verfahrens- und Systemansprüche gegenüber D1 in Kombination mit D2 nicht erfinderisch sei.
1.2.1 Die Kammer teilte den Parteien in Bezug darauf in der Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK (Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, Amtsblatt EPA 2021, A35) ihre vorläufige Auffassung mit, dass dieser Einwand unzureichend begründet sei.
Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer räumte die Beschwerdeführerin ein, dass die Ausführungen in der Beschwerdebegründung nicht ausreichend seien, um den Gegenstand der Ansprüche des Hauptantrags in Frage zu stellen.
1.2.2 Gemäß Artikel 12(5) VOBK steht es im Ermessen der Kammer, Vorbringen eines Beteiligten nicht zuzulassen, soweit es die Erfordernisse nach Absatz 3 nicht erfüllt.
Absatz 3 dieser Bestimmung besagt, dass die Beschwerdebegründung das vollständige Beschwerdevorbringen der Beschwerdeführerin enthalten muss. Dementsprechend muss sie deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen; sie soll ausdrücklich alle geltend gemachten Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel im Einzelnen anführen.
1.2.3 Da das Beschwerdevorbringen der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Kombination von D1 mit D2 unvollständig ist - insbesondere wird in der Beschwerdebegründung nicht erläutert, weshalb der kennzeichnende Teil der unabhängigen Ansprüche (Merkmale 1.4 und 6.4) angesichts der Lehre von D2 naheliegend ist -, lässt die Kammer diesen Einwand in Ausübung ihres Ermessens nicht zu.
1.2.4 Darüber hinaus ist der Einwand erfolglos in der Sache, da D2 kein Sicherheitsbedienelement als Bedienfläche auf einem berührungsempfindlichen Bildschirm des mobilen Endgeräts offenbart (die Totmann-Taste 64 in Figur 12 von D2 ist ein mechanischer Schalter; Merkmale 1.4 und 6.4). Die Auffassung der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung ist in diesem Zusammenhang korrekt (siehe Punkt 7.1.4).
1.3 Mit Eingabe vom 10. August 2023 und somit nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung erhob die Beschwerdeführerin erstmals den Einwand der erfinderischen Tätigkeit unter Bezugnahme auf D1 in Kombination mit D3 und D2.
Dieser neue Einwand stellt eine Änderung des Vorbringens der Beschwerdeführerin dar, da mit der Beschwerdebegründung lediglich in unsubstanzierter Form ein Mangel an erfinderischer Tätigkeit unter Bezugnahme auf D1 in Kombination ausschließlich mit der Lehre von D2 geltend gemacht wurde.
1.3.1 Gemäß Artikel 13(2) VOBK bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
1.3.2 Im vorliegenden Fall begründete die Beschwerdeführerin die Einreichung des neuen Angriffs in diesem Stadium wie folgt: Zum Zeitpunkt der Einreichung der Beschwerdebegründung lagen noch keine Hilfsanträge der Beschwerdegegnerin vor, weshalb die Beschwerdeführerin keine Gelegenheit hatte, Einwände dagegen zu formulieren. Vorsorglich entschied sich die Beschwerdeführerin jedoch, bereits in der Beschwerdebegründung Einwendungen gegen die im Einspruchsverfahren gestellten Hilfsanträge der Patentinhaberin vorzubringen, obwohl weder eine Notwendigkeit noch eine Verpflichtung dazu bestand. Die mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsanträge wurden der Beschwerdeführerin am 7. Oktober 2022 mitgeteilt, wobei keine Frist zur Erwiderung auf die Beschwerdeerwiderung der Beschwerdegegnerin gesetzt wurde. Daher sei der neue Angriff nicht verspätet.
1.3.3 Dieses Vorbringen stellt jedoch keine stichhaltige Begründung für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände dar, weil es gemäß der Verfahrensordnung der Beschwerdekammer den Parteien obliegt, ihren Vortrag so rechtzeitig im Beschwerdeverfahren vorzubringen, dass die Beschwerdekammer ihn bereits bei der Erstellung der Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK berücksichtigen kann und aber auch aus Gründen der Fairness gegenüber der anderen Partei. Die Beschwerdeführerin hatte zwischen dem 7. Oktober 2022 und dem 28. April 2023 (Ladung zur mündlichen Verhandlung) ausreichend Zeit dafür. Die Festlegung einer Frist zur Erwiderung ist nicht vorgesehen. Beschwerdeführer müssen vielmehr selbst entscheiden, wann die Beschwerdeerwiderung des Gegners Gegenstände enthält, auf die noch eine eigene Replik erforderlich ist. Damit eine solche noch vor der für die Anwendung des Artikel 13(2) VOBK maßgeblichen Frist eingereicht werden kann, sieht die Verfahrensordnung in Artikel 15(1) VOBK vor, dass die Kammer nach Eingang der Beschwerdeerwiderung noch 2 Monate mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung abwartet (siehe hierzu etwa T 2843/19, Orientierungssatz und Gründe 1, 2 und 3.3).
Folglich wurde der Angriff unter Artikel 13(2) VOBK nicht berücksichtigt.
2. In der mündlichen Verhandlung reichte die Beschwerdegegnerin eine überarbeitete Beschreibung ein, gegen die die Beschwerdeführerin keine Einwände erhob.
3. Da keine weiteren Einwände gegen den Hauptantrag vorliegen und die Kammer auch keine solchen erkennen kann, stellt dieser eine geeignete Grundlage für die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Form dar.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtenen Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent in eingeschränkten Umfang aufrecht zu erhalten auf der Basis der folgenden Unterlagen:
- Ansprüche 1 bis 13 gemäß Hilfsantrag 1 wie vorgelegt mit der Beschwerdeerwiderung,
- Beschreibung: Spalten 1 bis 18 wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung,
- Figuren wie erteilt.