T 0323/22 () of 23.4.2024

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2024:T032322.20240423
Datum der Entscheidung: 23 April 2024
Aktenzeichen: T 0323/22
Anmeldenummer: 16174589.8
IPC-Klasse: B60R 1/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: SICHTSYSTEM FÜR EIN NUTZFAHRZEUG ZUR DARSTELLUNG VON GESETZLICH VORGESCHRIEBENEN SICHTFELDERN EINES HAUPTSPIEGELS UND EINES WEITWINKELSPIEGELS
Name des Anmelders: MEKRA LANG GmbH & Co. KG
Name des Einsprechenden: SMR Patents S.à.r.l.
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(2)
European Patent Convention Art 100(b)
European Patent Convention Art 83
Schlagwörter: Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Ausreichende Offenbarung - (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0063/06
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerden der Patentinhaberin und der Einsprechenden richten sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, wonach das Streitpatent in der geänderter Fassung des Hilfsantrags 1 EPÜ-konform ist.

II. Die folgende Entgegenhaltung ist für diese Entscheidung relevant:

D14: DE 10 2013 220 669 A1.

III. In ihrer Entscheidung stellte die Einspruchsabteilung unter anderem fest, dass das Streitpatent die Erfindung so deutlich und vollständig offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen kann.

IV. Am 24. April 2024 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.

Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in geänderter Fassung auf Grundlage des in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichten Hauptantrags aufrechtzuerhalten, hilfsweise das Patent auf der Grundlage eines der mit Schreiben vom 11. März 2024 vorgelegten Hilfsanträge I bis IV aufrechtzuerhalten.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte, die Entscheidung aufzuheben und das Streitpatent zu widerrufen.

V. Der unabhängige Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet wie folgt (Merkmalsgliederung nach der angefochtenen Entscheidung und zusätzliche Merkmale gegenüber dem erteilten Anspruch 1 unterstrichen):

1 Sichtsystem (10) für ein Nutzfahrzeug (1)

1.1 zur Darstellung von gesetzlich vorgeschriebenen

Sichtfeldern (51, 52, 61, 62) eines Hauptspiegels und eines Weitwinkelspiegels derselben Fahrzeugseite in einem Fahrerhaus des Nutzfahrzeugs (1 ), enthaltend

1.2 eine Anzeigeeinheit (20) im Fahrerhaus;

1.3 eine Erfassungseinheit (40, 41, 42, 43, 44, 45);

1.3" eine Umwandlungseinheit (39); und

1.4 eine Berechnungseinheit (38),

1.4.1 die von der Erfassungseinheit (40, 41, 42, 43, 44, 45)

erfasste Bilder verarbeitet und zur Anzeige an die Anzeigeeinheit (20) zuführt, wobei

1.5 die Erfassungseinheit (40, 41, 42, 43, 44, 45)

angepasst ist, mehrere Bilder mit mindestens einem ersten Bild (22), das das Sichtfeld des Hauptspiegels beinhaltet, und einem zweiten Bild (23), das zumindest den Teil des Sichtfelds des Weitwinkelspiegels beinhaltet, der nicht Teil des Sichtfelds des Hauptspiegels ist, zu erfassen, und

1.5" die Erfassungseinheit (40, 41, 42, 43, 44, 45) eine

gemeinsame Aufnahmeeinheit zum Aufnehmen eines Bildes, das die mehreren Bilder beinhaltet, aufweist, wobei die Umwandlungseinheit (39) die mehreren Bilder aus dem aufgenommenen Bild extrahiert; wobei

1.6 die Berechnungseinheit (38) angepasst ist, die mehreren

Bilder derart zu einem gemeinsamen Bild (21) nahtlos unmittelbar aneinander angrenzend zusammenzusetzen, dass das erste Bild (22) und das zweite Bild (23) eine gemeinsame Perspektive haben, wobei

1.7 die Darstellungen des ersten Bilds (22) und des zweiten

Bilds (23) in der Längsrichtung des Nutzfahrzeugs senkrecht zur Weitwinkelrichtung fluchten,

1.8 zumindest das zweite Bild (23) in zumindest einer

Weitwinkelrichtung, die im Wesentlichen senkrecht zur Bildblickrichtung und horizontal ist, einen Weitwinkelbildwinkel hat, der größer ist als es dem natürlichen Eindruck des menschlichen Auges entspricht, und damit verzerrt ist, und

1.9 das erste Bild (22) in der Weitwinkelrichtung des

zweiten Bilds (23) im Wesentlichen unverzerrt ist, wobei

1.10 zumindest das zweite Bild (23) zumindest in einem

ersten Modifikationsbereich (24) in der Weitwinkelrichtung modifiziert ist, dass die Bilderstreckung in der Weitwinkelrichtung verringert ist,

dadurch gekennzeichnet, dass

1.11 eine Grenzlinie (31) zwischen einem

Modifikationsbereich (24, 26, 28, 30) und einem nicht modifizierten Bereich durch eine nicht-lineare Funktion beschrieben wird,

1.11.1 die vorzugsweise bogenförmig ist, oder dass

1.12 eine Grenzlinie (31) zwischen einem

Modifikationsbereich (24, 26, 28, 30) und einem nicht modifizierten Bereich durch eine nicht konstante, lineare Funktion beschrieben wird.

Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 entspricht der Kombination von den erteilten Ansprüchen 1 und 2.

Anspruch 1 des Hilfsantrags II unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags I dadurch, dass er zusätzlich die folgenden Merkmale umfasst:

wobei zumindest ein zweiter Modifikationsbereich (26) in einem oberen Bildbereich und/oder zumindest ein zweiter Modifikationsbereich (28) in einem unteren Bildbereich angrenzend in Längsrichtung des Nutzfahrzeugs an das erste Bild (22) und angrenzend in Längsrichtung des Nutzfahrzeugs an das zweite Bild (23) liegt und an den ersten Modifikationsbereich (24) in Längsrichtung des Nutzfahrzeugs angrenzt, und/oder wobei zumindest ein zweiter Modifikationsbereich (26) in einem oberen Bildbereich und/oder zumindest ein zweiter Modifikationsbereich (28) in einem unteren Bildbereich angrenzend in Längsrichtung des Nutzfahrzeugs an nur das erste Bild (22) liegt und in Weitwinkelrichtung des zweiten Bilds (23) an den ersten Modifikationsbereich (24) angrenzt, und/oder wobei zumindest ein zweiter Modifikationsbereich (26) in einem oberen Bildbereich und/oder zumindest ein zweiter Modifikationsbereich (28) in einem unteren Bildbereich angrenzend in Längsrichtung des Nutzfahrzeugs an nur das erste Bild (22) liegt und den zweiten Modifikationsbereich (24) zumindest teilweise überlappt, und/oder wobei zumindest ein zweiter Modifikationsbereich (28) angrenzend in Weitwinkelrichtung des zweiten Bilds (23) an nur das erste Bild (22) und in der Nähe des Fahrzeugs liegt.

Anspruch 1 des Hilfsantrags III unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags II dadurch, dass er zusätzlich die folgenden Merkmale umfasst:

wobei die Erfassungseinheit (40, 41, 42, 43, 44, 45) eine gemeinsame Aufnahmeeinheit (45) zum Aufnehmen eines Bilds, das zumindest zwei der mehreren Bilder beinhaltet, aufweist,

Anspruch 1 des Hilfsantrags IV unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags III dadurch, dass er zusätzlich die folgenden Merkmale umfasst:

wobei die Berechnungseinheit (38) ferner angepasst ist, mindestens eins der mehreren Bilder dem gemeinsamen Bild (21), in dem das mindestens erste Bild (22) und das zweite Bild (23) nahtlos unmittelbar aneinander grenzend zusammengesetzt sind, zu überlagern, wobei bevorzugt sich der zweite Modifikationsbereich (30) in dem mindestens einen der mehreren Bilder, das das gemeinsame Bild (21) überlagert, befindet, und/oder wobei bevorzugt die Berechnungseinheit (38) ferner angepasst ist, mindestens eins der mehreren Bilder dem gemeinsamen Bild (21), in dem das mindestens erste Bild (22) und das zweite Bild (23) nahtlos unmittelbar aneinander grenzend zusammengesetzt ist, zu überlagern, wenn das Nutzfahrzeug einen vorbestimmten Fahrzustand aufweist.

Entscheidungsgründe

1. Zulassung des Hauptantrags

1.1 Der erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer gestellte Hauptantrag wurde im Beschwerdeverfahren nicht zugelassen.

1.2 Der Hauptantrag stellt eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Patentinhaberin dar, da der mit dem Hauptantrag beanspruchte Gegenstand von keinem der im Beschwerdeverfahren bisher gestellten Anträgen umfasst war.

1.3 Gemäß Artikel 13(2) VOBK (Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, Amtsblatt EPA 2024, A15) bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung einer Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.

1.4 Die Patentinhaberin argumentierte, dass der Hauptantrag keine Änderung ihres Beschwerdebegehrens bedeute, da sich der Gegenstand des Anspruchs 1 auf eine einzige Aufnahmeeinheit beziehe, die bereits Bestandteil des Hilfsantrags III sei. Artikel 13(2) VOBK sei daher nicht anwendbar.

1.5 Anspruch 1 des Hauptantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrag III jedoch zusätzlich dadurch, dass Merkmale betreffend die Umwandlungseinheit erstmals aus der Beschreibung aufgenommen wurden. Folglich unterscheidet sich der Gegenstand des Hauptantrags vom Gegenstand des Hilfsantrags III, so dass eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Patentinhaberin vorliegt.

Artikel 13(2) VOBK ist daher anzuwenden, und da die Patentinhaberin keine stichhaltigen Gründe dafür aufgezeigt hat, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, bliebt der Hauptantrag unberücksichtigt.

2. Hilfsantrag I - Ausreichende Offenbarung

2.1 Das Patent offenbart die im Anspruch 1 definierte Erfindung nicht so deutlich und vollständig, dass sie ein Fachmann ausführen kann (Artikel 100 b) und 83 EPÜ).

2.2 Insbesondere ist im gesamten Patent nicht offenbart, wie der Fachmann die Merkmale 1.6 und 1.7 ausführen kann.

2.3 Die Patentinhaberin machte im Wesentlichen geltend, das Streitpatent unterscheide klar zwischen "Zusammensetzen von Bildern" und "Modifizieren von Bildern". In diesem Sinne verlangten die Merkmale 1.6 und 1.7 von Anspruch 1 lediglich, dass die Erfassungseinheit dazu geeignet sei, das erste unverzerrte Bild und das zweite verzerrte Bild (Weitwinkelbild), d.h. Bilder mit unterschiedlichen Bildwinkeln, nahtlos und unmittelbar nebeneinander zu einem Bild so zusammenzusetzen, dass sie eine gemeinsame Perspektive und eine fluchtende Darstellung aufwiesen.

Diese Art des Zusammensetzens von Bildern sei dem Fachmann bereits bekannt, wie D14 belege (vgl. Absatz [0093]).

Hingegen befasse sich Merkmal 1.10 mit dem Modifizieren des Weitwinkelbildes zur Reduzierung seiner Verzerrung. Es bestehe daher kein Zusammenhang zwischen dem Zusammensetzen von Bildern und dem Modifizieren von Bildern. Dies ergebe sich eindeutig aus den Absätzen [0071] und [0082] der Patentschrift. Das Streitpatent lehre somit allgemein, dass der Modifikationsbereich zwar am Übergang zwischen den beiden Bildern liegen könne, dort aber nicht liegen müsse.

Der Modifikationsbereich diene daher nicht dazu, die Merkmale 1.6 und 1.7 zu verwirklichen.

Folglich sei die Erfindung ausführbar offenbart, da dem Fachmann das Zusammensetzen von Bildern bereits bekannt gewesen sei und er zudem aus dem Streitpatent lerne, wie das stärker verzerrte Bild zu modifizieren sei, um die Verzerrung zu reduzieren.

2.4 Dies überzeugt aus folgenden Gründen nicht.

Nach Ansicht der Patentinhaberin handelt es sich bei der "Zusammensetzung von Bildern" und der "Veränderung von Bildern" im Patent um unterschiedliche Aspekte. Dem ist auch die Einspruchsabteilung gefolgt (vgl. Punkt 4.6 der angefochtenen Entscheidung). Sowohl die Patentinhaberin als auch die Einspruchsabteilung haben sich ausschließlich auf die Offenbarung in D14 gestützt, um zu belegen, dass das Zusammensetzen zweier Bilder mit unterschiedlichen Blickwinkeln nahtlos und unmittelbar nebeneinander, so dass sie eine gemeinsame Perspektive und eine fluchtende Darstellung aufweisen, dem Fachmann geläufig sei.

D14 ist Patentliteratur und kein Lehrbuch oder Handbuch. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern gehören Patenschriften in der Regel nicht zum allgemeinen Fachwissen (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 10. Auflage 2022, I.D.8.3 und I.C.2.8.2). Keine der anerkannten Ausnahmen sind ersichtlich. Folglich kann D14 nicht als Beweis für Fachwissen dienen. Auf die Tatsache, ob D14 überhaupt eine konkret nachvollziehbare Lehre enthält, was mehr als zweifelhaft erscheint, kommt es daher nicht mehr an.

Die Patentinhaberin konnte somit nicht nachweisen, dass ein derartiges Zusammensetzen von Bildern zum Prioritätstag des Streitpatent tatsächlich schon zum allgemeinen Fachwissen gehörte. Dies hätte ihr aber oblegen, da die Patentschrift keinerlei Information zum Aneinanderfügen der Bilder enthält und daher nur eine schwache Vermutung der Ausführbarkeit dieses Teils des Patentanspruchs enthält, die von der Einsprechenden durch die detaillierte Angabe der sich bei der Umsetzung stellenden Ausführungsschwierigkeiten erfolgreich erschüttert wurde. Zur Erfüllung der damit der Patentinhaberin obliegenden Darlegungs- und Beweislast (vgl. T 63/06, Gründe 3.3.1) genügt der bloße Verweis auf angebliches Fachwissen nicht, da dieses von der Einsprechenden bestritten wurde.

Im Ergebnis offenbart das Patent die in Anspruch 1 definierte Erfindung daher nicht so hinreichend, dass ein Fachmann sie ausführen kann.

3. Hilfsantrage II bis IV

Das zu Hilfsantrag I Ausgeführte gilt auch für die Hilfsanträge II bis IV, da die zusätzlichen Merkmale im jeweiligen Anspruch 1 der Hilfsanträge nicht zur Behebung der unzureichenden Offenbarung beitragen können. Dies hat auch der Patentinhaber eingeräumt.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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