T 0204/22 () of 17.4.2024

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2024:T020422.20240417
Datum der Entscheidung: 17 April 2024
Aktenzeichen: T 0204/22
Anmeldenummer: 17702558.2
IPC-Klasse: F16J 15/447
F16J 15/3292
F16H 57/029
H02K 5/124
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Dichtung
Name des Anmelders: Flender GmbH
Name des Einsprechenden: SEW Eurodrive GmbH & Co.
Kammer: 3.2.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2)
Schlagwörter: Unzulässige Erweiterung - Hautpantrag und Hilfsanträge 1 bis 5 (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0170/87
T 0410/91
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, dass unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen gemäß dem am 17. November 2021 eingereichten Hilfsantrag 4 das europäische Patent Nr. 3 387 298 den Erfordernissen des EPÜ genügt.

II. Der Einspruch war gegen das Patent in vollem Umfang eingelegt und auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikel 54 EPÜ (fehlende Neuheit) und Artikel 56 EPÜ (mangelnde erfinderische Tätigkeit), Artikel 100 b) EPÜ und Artikel 100 c) EPÜ gestützt worden.

III. Am 17. April 2024 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.

IV. Anträge

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag) und hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung gemäß einem der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 5.

V. Der Wortlaut des unabhängigen Anspruchs 1 des der Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrags 4 (im Folgenden: Hauptantrag) lautet wie folgt (die von der Beschwerdeführerin verwendete Merkmalsgliederung ist in eckigen Klammern eingefügt):

"1. [M1.1] Dichtungsanordnung zur Abdichtung eines radialen Spalts zwischen einer inneren ersten Komponente (8) und einer äußeren zweiten Komponente (15), die relativ zueinander rotierbar sind,

[M1.2] wobei die erste Komponente (8) um eine Rotationsachse drehbar und die zweite Komponente (15) koaxial zur ersten Komponente (8) angeordnet ist,

[M1.3] wobei die Dichtungsanordnung ein dynamisches Dichtungsteil (14) aufweist, welches mit der ersten Komponente (8) verbunden ist,

[M1.4] wobei die Dichtungsanordnung ein statisches Dichtungsteil (15) aufweist, welches mit der zweiten Komponente (15) verbunden ist,

[M1.5] wobei die Dichtungsanordnung eine erste Labyrinthdichtung (1) aufweist, welche durch einen Spalt zwischen einem ersten Abschnitt von gegenüberliegenden Oberflächen des dynamischen Dichtungsteils (14) und des statischen Dichtungsteils (15) geformt wird,

[M1.6] wobei die Dichtungsanordnung eine Lamellendichtung (2) aufweist, welche radial innerhalb der ersten Labyrinthdichtung (1) angeordnet ist,

[M1.7] wobei die Dichtungsanordnung einen mit der zweiten Komponente (15) verbundenen Staubschutzdeckel (3) aufweist, welcher radial außerhalb der ersten Labyrinthdichtung (1) angeordnet ist, dadurch gekennzeichnet, [M1.8**(HA4)] dass der Staubschutzdeckel (3) nur einseitig und axial kontaktierend an der zweiten Komponente (15) befestigt ist, wobei zwischen dem Staubschutzdeckel (3) und dem dynamischen Dichtungsteil (14) ein Ringspalt (19) ausgebildet ist, welcher radial nach Außen [sic] ansteigt, gesehen in Richtung eines Durchgangs durch die Dichtungsanordnung von einer Staubumgebung (100) hin zu dem abzudichtenden radialen Spalt."

VI. Hilfsanträge

Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags im Merkmal M1.8**(HA4), das folgendermaßen lautet (Änderungen sind unterstrichen): "dass der Staubschutzdeckel (3) nur einseitig und axial kontaktierend an der zweiten Komponente (15) befestigt ist und an der anderen Seite ein freies Ende aufweist, wobei zwischen dem Staubschutzdeckel (3) und dem dynamischen Dichtungsteil (14) ein Ringspalt (19) ausgebildet ist, welcher radial nach Außen [sic] ansteigt, gesehen in Richtung eines Durchgangs durch die Dichtungsanordnung von einer Staubumgebung (100) hin zu dem abzudichtenden radialen Spalt."

Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags in den Merkmalen M1.7 und M1.8**(HA4), die folgendermaßen lauten (Änderungen sind unterstrichen): "[M1.7] wobei die Dichtungsanordnung einen mit der zweiten Komponente (15) verbundenen einstückigen Staubschutzdeckel (3) aufweist, welcher radial außerhalb der ersten Labyrinthdichtung (1) angeordnet ist, dadurch gekennzeichnet, [M1.8**(HA4)] dass der Staubschutzdeckel (3) nur einseitig und axial kontaktierend an der zweiten Komponente (15) befestigt ist und an einer von der zweiten Komponente (15) wegweisenden Seite unbefestigt ist, wobei zwischen dem Staubschutzdeckel (3) und dem dynamischen Dichtungsteil (14) ein Ringspalt (19) ausgebildet ist, welcher radial nach Außen [sic] ansteigt, gesehen in Richtung eines Durchgangs durch die Dichtungsanordnung von einer Staubumgebung (100) hin zu dem abzudichtenden radialen Spalt."

Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags im Merkmal M1.8**(HA4), das folgendermaßen lautet (Änderungen sind unterstrichen): "dass der Staubschutzdeckel (3) nur einseitig und axial kontaktierend an der zweiten Komponente (15) befestigt ist, wobei zwischen dem Staubschutzdeckel (3) und dem dynamischen Dichtungsteil (14) ein Ringspalt (19) ausgebildet ist, welcher radial nach Außen [sic] ansteigt, gesehen in Richtung eines Durchgangs durch die Dichtungsanordnung von einer Staubumgebung (100) hin zu dem abzudichtenden radialen Spalt, wobei der Staubschutzdeckel (3) zur Verhinderung eines Eindringens von Schmutz aufgrund eines negativen Gefälles zur inneren ersten Komponente (8) konisch ausgeführt ist".

Anspruch 1 des Hilfsantrags 4 unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags im Merkmal M1.8**(HA4), das folgendermaßen lautet (Änderungen sind unterstrichen): "dass der Staubschutzdeckel (3) nur einseitig und axial kontaktierend an der zweiten Komponente (15) durch Verschrauben befestigt ist, wobei zwischen dem Staubschutzdeckel (3) und dem dynamischen Dichtungsteil (14) ein Ringspalt (19) ausgebildet ist, welcher radial nach Außen [sic] ansteigt, gesehen in Richtung eines Durchgangs durch die Dichtungsanordnung von einer Staubumgebung (100) hin zu dem abzudichtenden radialen Spalt."

Anspruch 1 des Hilfsantrags 5 unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags im Merkmal M1.8**(HA4), das folgendermaßen lautet (Änderungen sind unterstrichen): "dass der Staubschutzdeckel (3) nur einseitig und axial kontaktierend an der zweiten Komponente (15) befestigt ist, wobei zwischen dem Staubschutzdeckel (3) und dem dynamischen Dichtungsteil (14) ein Ringspalt (19) ausgebildet ist, welcher radial nach Außen [sic] ansteigt, gesehen in Richtung eines Durchgangs durch die Dichtungsanordnung von einer Staubumgebung (100) hin zu dem abzudichtenden radialen Spalt, wobei der Staubschutzdeckel (3) zur Begrenzung des Ringspalt [sic] (19) konisch ausgebildet ist und einen nach radial außen abstehenden und axial kontaktierend an der zweiten Komponente (15) anliegenden Ansatz aufweist, wobei der Ansatz mit der zweiten Komponente (15) verschraubt ist."

VII. Die Beteiligten haben bezüglich des Erfordernisses des Artikels 123 (2) EPÜ im Wesentlichen Folgendes vorgetragen (Bei den im Folgenden genannten Figuren 1, 8 und 9 handelt es sich jeweils um Figuren der ursprünglich eingereichten Anmeldung, auf der das vorliegende Patent beruht.):

a) Beschwerdeführerin (Einsprechende)

Der erste Teil des Merkmals M1.8**(HA4)des Anspruchs 1 des Hauptantrags, "dass der Staubschutzdeckel nur einseitig und axial kontaktierend an der zweiten Komponente befestigt ist", sei den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht unmittelbar und eindeutig zu entnehmen.

Das Merkmal sei so zu verstehen, dass die Befestigung nur an einer Seite und nicht an irgendeiner der anderen Seiten erfolge.

Ein negatives Merkmal wie "nur einseitig" könne einer Schnittzeichnung ohne weitere Stützung in der Beschreibung nicht unmittelbar und eindeutig entnommen werden. Eine Schnittzeichnung stelle nur eine Schnittebene dar, weshalb daraus keine Informationen über andere Schnittebenen abgelesen werden könnten. Beispielsweise wisse man nicht, wie der Staubschutzdeckel und/oder die zweite Komponente der Figur 8 bzw. 9 um 90° gedreht aussähen. Die Beschreibung enthalte keine weiteren Informationen über die konstruktive Gestaltung dieser Komponenten. Ebenso wenig könne wegen des angeblich fehlenden Platzes an der Stirnseite der zweiten Komponente darauf geschlossen werden, dass kein Absatz für eine eventuelle weitere Befestigung vorgesehen sei. Der in der Figur 8 dargestellte Gewindebolzen 17 sei, auch wenn es mehrere davon gebe, nicht über den gesamten Umfang verteilt, so dass sehr wohl eine zusätzliche Befestigung des Staubschutzdeckels an der zweiten Komponente vorgesehen sein könnte, wie es in den beiden Skizzen auf Seiten 5 und 6 der Beschwerdebegründung dargestellt sei.

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK|FORMEL/TABELLE/GRAPHIK|

Skizzen auf Seiten 5 und 6 der Beschwerdebegründung

Ein derartiger Vorsprung bzw. eine derartige Befestigung könnten für eine verdrehsichere Montage des Staubschutzdeckels sogar wünschenswert sein. Auf jeden Fall gäbe es mehrere Möglichkeiten, wie der Staubschutzdeckel an der zweiten Komponente befestigt werden könnte, so dass für eine "nur einseitige und axial kontaktierende Befestigung" keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung vorliege. Es sei zwar sehr wahrscheinlich, dass bei einer wie in der Figur 8 dargestellten Flanschverbindung keine zusätzliche Befestigung vorliege, aber eine solche sei nicht unmittelbar und eindeutig ausgeschlossen.

Die Tatsache, dass in der Schnittzeichnung der Figur 8 auch Schmiernippel und Schmierkanäle, die sich außerhalb der Schnittebene befänden, eingezeichnet seien, lasse keine Aussage über deren Anzahl zu. Mit einer eventuell vorhandenen zusätzlichen Befestigung des Staubschutzdeckels an der zweiten Komponente verhalte es sich ebenso, da die Schnittdarstellung der Figur 8 nur einen begrenzten Umfangsbereich darstelle. Auch wenn in der Figur 8 unmittelbar und eindeutig eine axiale Befestigung auf einer Seite gezeigt sei, so sei die konstruktive Ausgestaltung an den anderen Seiten in der Figur 8 nicht erkennbar.

In der von der Beschwerdegegnerin erwähnten Figur 1 sei die zweite Komponente anders gestaltet, so dass aus dieser Figur keine weiterreichenden Informationen für die Befestigung des Staubschutzdeckels der Figur 8 abgeleitet werden könnten.

Aus den obigen Gründen erfülle auch der Anspruch 1 der Hilfsanträge 1 bis 5 die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ nicht.

b) Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin)

Der Begriff "nur einseitig" im Merkmal M1.8**(HA4) schließe eine mehrseitige Befestigung aus, welche außerdem überflüssig sei. Auch wenn das Merkmal, "dass der Staubschutzdeckel nur einseitig und axial kontaktierend an der zweiten Komponente befestigt ist", nicht in der Beschreibung erwähnt werde, so sei es den Figuren 8 und 9, die ebenfalls wie die Beschreibung zur Offenbarung der ursprünglich eingereichten Anmeldung gehörten und auch als alleinige Offenbarungsquelle dienen könnten, unmittelbar und eindeutig zu entnehmen.

Zunächst fehle auf der in der Figur 8 dargestellten zweiten Komponente der Platz für eine weitere Befestigung. Auf der Stirnseite der zweiten Komponente wäre radial außerhalb der Labyrinthdichtung wegen der Verschraubung kein Platz vorhanden und eine Anordnung einer zusätzlichen Befestigung radial innerhalb der Labyrinthdichtung würde der Funktion des Staubschutzdeckels widersprechen. An der von der zweiten Komponente abgewandten Fläche des Staubschutzdeckels mache eine zusätzliche Befestigung technisch keinen Sinn und würde eine Montage der zweiten Komponente unmöglich machen. Die von der Beschwerdeführerin ins Spiel gebrachten Ausführungen gemäß den Seiten 5 und 6 der Beschwerdebegründung seien nur hypothetisch möglich. Der Fachmann würde diese auf Grund seines Fachwissens und des oben diskutierten Platzmangels ausschließen.

Der Fachmann würde vielmehr der Figur 8 die Information entnehmen, dass es sich bei der Verbindung des Staubschutzdeckels mit der zweiten Komponente um eine ringförmige Flanschverbindung handle, bei der es sich per se um eine axial kontaktierende Befestigung handle und bei der von Haus aus keine zusätzlich radiale Befestigung vorliege. Für eine von der Beschwerdeführerin ins Spiel gebrachte mögliche Verdrehsicherung des Staubschutzdeckels müsste der Fachmann erfinderisch tätig werden. Außerdem sei es bei einer Flanschverbindung fachüblich, dass die Verbindung nur axial sei und keine zusätzlichen radialen Verbindungen vorgesehen seien.

Für eine unmittelbare und eindeutige Offenbarung des Merkmals "nur einseitig" spreche ferner, dass in den Figuren 8 und 9 nicht sichtbare Teile, wie beispielsweise der Schmierkanal 13 und der Schmiernippel 4, in die Schnittebene gedreht worden seien, um diese Teile sichtbar zu machen. Aus diesem Grund wäre ein Vorsprung für eine eventuelle zusätzliche Befestigung ebenfalls in die Schnittebene gedreht worden, sofern eine zusätzliche Befestigung vorhanden wäre. Da dem nicht so sei, ergebe sich folglich die nur einseitige und axial kontaktierende Befestigung aus den Figuren 8 und 9 in unmittelbarer und eindeutiger Weise.

Des Weiteren baue die Figur 8 auf der Figur 1 auf (siehe ursprünglich eingereichte Beschreibung, Seite 10 unten bis Seite 11 oben). Dies bedeute, dass die Figur 1 der Figur 8 entspreche mit dem einzigen Unterschied, dass in der Figur 1 kein separater Staubschutzdeckel vorhanden sei. Der Fachmann hätte die Figur 1 mit kleineren Abwandlungen für das Ausführungsbeispiel der Figur 8 übernommen. Das der zweiten Komponente entsprechende Bauteil 15 habe in der Figur 1 keinen Vorsprung, weshalb der Fachmann auch im Ausführungsbeispiel der Figur 8 keinen Vorsprung vorsehen würde.

Ein vergleichbarer Fall in der Rechtsprechung sei die Entscheidung T 170/87. In dieser Entscheidung sei festgestellt worden, dass der Begriff "einbautenfrei" unzulässig erweitert sei, da aus der Zeichnung nicht hervorgehe, dass für eventuelle Einbauten kein Platz wäre. Vorliegend verhalte es sich umgekehrt, da aus der Zeichnung hervorgehe, dass für eine weitere Befestigung kein Raum vorhanden sei.

Die Entscheidung T 410/91 sei zu dem Schluss gekommen, dass eine unzulässige Änderung vorliege, da es fachüblich sei, dass eine Turbinenwelle auch Nebenaggregate antreibe. Daher könne das Merkmal, dass die Turbinenwelle nur das in der Zeichnung dargestellte Aggregat antreibe, der Zeichnung nicht entnommen werden. Wenn es gemäß dieser Entscheidung für den Fachmann möglich sei, in Zeichnungen fachübliche Merkmale hineinzudenken, dann müsse dies auch umgekehrt möglich sein.

Fazit dieser beiden Entscheidungen sei, dass zu unterscheiden sei, ob etwas in einer Zeichnung nur zufällig nicht dargestellt sei, oder ob es absichtlich nicht dargestellt sei. Übertragen auf die vorliegende Sache bedeute dies, dass der Fachmann aus den Figuren 8 und 9 unmittelbar und eindeutig erkenne, dass keine weitere Kontaktfläche zwischen dem Staubschutzdeckel und der zweiten Komponente vorläge.

Somit erfülle der Anspruch 1 des Hauptantrags das Erfordernis des Artikel 123 (2) EPÜ.

Die obige Schlussfolgerung gelte analog für den Anspruch 1 der Hilfsanträge 1 bis 5.

Entscheidungsgründe

1. Vorbemerkung

Bei den Figuren 1, 8 und 9, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, handelt es sich um die jeweiligen Figuren der ursprünglich eingereichten Anmeldung, auf der das vorliegende Patent beruht.

2. Hauptantrag: Unzulässige Erweiterung (Artikel 123 (2) EPÜ)

2.1 Gegenüber dem ursprünglich eingereichten Anspruch 1 ist im Anspruch 1 des vorliegenden Hauptantrags das Merkmal M1.8**(HA4) ergänzt worden.**()Laut der Beschwerdeführerin sei der erste Teil des Merkmals M1.8**(HA4), "dass der Staubschutzdeckel nur einseitig und axial kontaktierend an der zweiten Komponente befestigt ist", nicht unmittelbar und eindeutig den ursprünglich eingereichten Unterlagen zu entnehmen.

2.2 Auslegung des Begriffs "nur einseitig und axial kontaktierend"

Der Begriff "nur einseitig und axial kontaktierend" wird von den Beteiligten übereinstimmend so ausgelegt, dass die Befestigung sowohl nur auf einer Seite als auch axial kontaktierend ist. Demnach würde sich die Befestigung also nur auf einer der insgesamt sechs Seiten des Staubschutzdeckels, wie sie von der Beschwerdeführerin in ihrer Zeichnung auf Seite 4 der Beschwerde­begründung dargestellt sind, und zwar auf einer axial kontaktierenden befinden. In der unten dargestellten Zeichnung wäre das die Seite 1:

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Zeichnung der Beschwerdeführerin (siehe Beschwerdebegründung, Seite 4)

2.3 Für die Frage der unzulässigen Erweiterung kommt es vorliegend darauf an, ob der Fachmann dieses Merkmal M1.8**(HA4) der Gesamtheit der Anmeldeunterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens - objektiv und bezogen auf den Anmeldetag - unmittelbar und eindeutig entnehmen kann ("Goldstandard", siehe Kapitel II.E.1.1. der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 10. Auflage, Juli 2022 ("Rechtsprechung")). Demnach ist zu beurteilen, ob der Fachmann der ursprünglich eingereichten Anmeldung unmittelbar und eindeutig entnehmen kann, dass der Staubschutzdeckel nur einseitig und axial kontaktierend an der zweiten Komponente befestigt ist.

2.4 Die ursprünglich eingereichte Beschreibung offenbart einen mit der zweiten Komponente verbundenen Staubschutzdeckel, die Reihenfolge der Bauteile, den Strömungspfad für die Staubpartikel und wie - bezogen auf die Figur 8 - das Eintreten von Staub verhindert wird. Seite 11, Zeilen 2 bis 18 der ursprünglich eingereichten Beschreibung offenbart allgemein, dass der Staubschutzdeckel mittels Schrauben an dem nicht-rotierenden Bauteil, also der zweiten Komponente, befestigt ist. Es ist unstreitig, dass der ursprünglich eingereichten Beschreibung für sich genommen keine weiteren Informationen über die konstruktive Ausführung der zweiten Komponente und des Staubschutz­deckels sowie dessen Befestigung an der zweiten Komponente entnommen werden können. Hierfür sind laut der Beschwerdegegnerin die Figuren 8 und 9 heranzuziehen.

2.5 Gemäß der ständigen Rechtsprechung können Merkmale dann aus den Zeichnungen abgeleitet werden, wenn die Merkmale bezüglich Struktur und Funktion vollständig und unmittelbar in klarer und eindeutiger Weise den Zeichnungen entnommen werden können und keinerlei Widersprüche mit den übrigen Offenbarungsstellen der Anmeldung bestehen. Laut Rechtsprechung darf außerdem kein Verzicht ausgesprochen worden sein (siehe Rechtsprechung, II.E.1.13.1). Ferner hängt es immer auch von den Umständen des Einzelfalls ab, ob und wie das Fehlen eines Merkmals in einer Figur, die lediglich der schematischen Erläuterung des Prinzips des Patentgegenstands dient, einen sicheren Schluss darauf zulässt, dass die offenbarte Lehre ein nicht dargestelltes Merkmal gezielt ausschließt (siehe Rechtsprechung, II.E.1.13.3).

2.6 Bei den Figuren 8 und 9 handelt es sich um schematische und nicht maßstabsgetreue Zeichnungen (siehe ursprünglich eingereichte Anmeldung, Seite 9, Zeile 32 ff). Figur 9 zeigt eine alternative Ausgestaltung der Erfindung, bei der die zum Getriebeinnern hin angeordnete Schulter des nicht-rotierenden Bauteils, an welcher der Wellendichtring zum Getriebe hin anliegt, radial weniger weit zur Antriebswelle hin gezogen ist als in der in Figur 8 gezeigten Konstruktion (siehe ursprünglich eingereichte Anmeldung, Seite 11, dritter Absatz). Alle Elemente im Zusammenhang mit der Befestigung des Staubschutzdeckels an der zweiten Komponente sind identisch, weshalb im Folgenden nur auf die unten reproduzierte Figur 8 Bezug genommen wird.

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Figur 8 der ursprünglich eingereichten Anmeldung

2.7 Die Kammer gelangt zu der Schlussfolgerung, dass aus der Figur 8 für den Fachmann nicht unmittelbar und eindeutig hervorgeht, dass an einer anderen Seite keine weitere Befestigung des Staubschutzdeckels an der zweiten Komponente vorhanden ist. Eine weitere Befestigung an einer anderen Seite ist deshalb nicht ausgeschlossen, da aus der Figur 8 nicht hervorgeht, wie der Staubschutzdeckel, die zweite Komponente und deren Verbindung außerhalb der Schnittebene gestaltet sind.

2.8 Die Argumente der Beschwerdegegnerin haben die Kammer aus folgenden Gründen nicht überzeugt:

2.8.1 Auch wenn die Kammer der Beschwerdegegnerin zustimmt, dass eine weitere Befestigung an den Seiten mit der Nummer 3 bis 6 gemäß der oben reproduzierten Zeichnung der Beschwerdeführerin (siehe Beschwerdebegründung, Seite 4) technisch nicht sinnvoll wäre, so kann eine eventuelle weitere Befestigung an der Seite 2 nicht unmittelbar und eindeutig ausgeschlossen werden. Das Argument der Beschwerdegegnerin, dass allein aus platztechnischen Gründen dort keine weitere Befestigung vorgesehen sein kann, überzeugt nicht, da die Gewindebolzen nicht über den gesamten Umfang verteilt angebracht sind. Daher sind die von der Beschwerde­führerin ins Spiel gebrachten Ausführungen mit einem Vorsprung an der zweiten Komponente und einer zusätzlichen radialen Befestigung nicht ausgeschlossen.

2.8.2 Bei den von der Beschwerdeführerin skizzierten zusätzlichen radialen Befestigungen gemäß den Seiten 5 und 6 ihrer Beschwerdebegründung handelt es sich nicht um "aus der Luft gegriffene Spekulationen über mögliche in der Patentschrift nicht dargestellte Abwandlungen des Erfindungsgegenstands" (siehe Beschwerdeerwiderung, Seite 4, zweiter Absatz), sondern um mögliche Ausführungsformen, die kompatibel sind mit der Darstellung in der Figur 8 und somit nicht unmittelbar und eindeutig ausgeschlossen sind.

2.8.3 Der Fachmann entnimmt der Figur 8, dass der Staubschutzdeckel über eine Flanschverbindung mit der zweiten Komponente verbunden ist, da der Staubschutzdeckel einen Rand, an dem Schrauben zur Befestigung angeordnet sind, aufweist. Flanschverbindungen sind weit verbreitet und ermöglichen eine einfache Montage. Allerdings sind Flanschverbindungen nicht zwangsläufig rotations­symmetrisch. Weder aus der ursprünglich eingereichten Beschreibung noch aus den ursprünglich eingereichten Figuren ist eine rotationssymmetrische Ausführung des Staubschutzdeckels und der zweiten Komponente ableitbar. Dies bedeutet, dass auch das Vorliegen einer Flanschverbindung dem Fachmann keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung dafür liefert, dass es sich bei der Verbindung des Staubschutzdeckels mit der zweiten Komponente um eine nur einseitige und axial kontaktierende Befestigung handelt.

2.8.4 In der Figur 8 sind Elemente außerhalb der Schnittebene in diese gedreht worden, um diese sichtbar zu machen. Allerdings ist nicht offenbart, ob für alle nicht sichtbaren Elemente so verfahren worden ist. Aus der Tatsache, dass ein Schmiernippel und ein Schmierkanal in die Schnittebene verlegt worden sind, kann weder unmittelbar und eindeutig auf deren Anzahl geschlossen werden, noch können andere in dieser Schnittebene nicht sichtbare Elemente ausgeschlossen werden.

2.8.5 Die von der Beschwerdegegnerin erwähnte Analogie zu der Figur 1 trägt nicht zu einer unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung des streitigen Merkmals bei. Zwar baut die Figur 8 auf dem Ausführungsbeispiel der Figur 1 auf, aber in der Figur 8 wird im Gegensatz zu der Figur 1 der Eintritt der Labyrinthdichtung durch einen ringförmigen Staubschutzdeckel abgeschirmt (siehe ursprünglich eingereichte Beschreibung, Seite 11, Zeilen 1 bis 5). In Figur 1 ist kein Staubschutzdeckel vorhanden, weshalb diese Figur keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung für den Ausschluss einer (weiteren) Befestigung des Staubschutzdeckels an der zweiten Komponente liefern kann.

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Figur 1 der ursprünglich eingereichten Anmeldung

2.8.6 Der in Bezug auf die Entscheidungen T 170/87 (ABl. EPA 1989, 441) und T 410/91 von der Beschwerdegegnerin getroffene Umkehrschluss ist so nicht zutreffend. Im Gegenteil bestätigen beide Entscheidungen, dass die Tatsache, dass ein Merkmal in einer Figur nicht gezeigt ist, nicht notwendigerweise einer unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung für dessen Ausschluss entspricht. Der 1. Leitsatz der Entscheidung T 170/87 (siehe auch Punkt 8.3 der Entscheidungsgründe) fasst dies zusammen: "Eine Figur, die lediglich der schematischen Erläuterung des Prinzips des Patentgegenstands und nicht dessen Darstellung in all seinen Einzelheiten dient, läßt keinen sicheren Schluß darauf zu, daß die offenbarte Lehre ein nicht dargestelltes Merkmal gezielt ausschließt. Ein solches "negatives" Merkmal (hier: "einbautenfrei") darf nicht nachträglich in den Anspruch aufgenommen werden." Die Entscheidung T 410/91, die sich auf die Entscheidung T 170/87 bezieht, sagt unter Punkt 2.1 der Entscheidungsgründe Folgendes aus: "Bei einer solchen schematischen Darstellung kann aus dem Umstand, daß eine bestimmte Baukomponente nicht abgebildet ist, nicht schlüssig gefolgert werden, daß ein solches Merkmal auszuschließen ist (vgl. hierzu die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, z. B. T 170/87 - 3.3.1, veröffentlicht in ABl. EPA 1989, 441)."

2.9 Schlussfolgerung in Bezug auf den Hauptantrag

Das Merkmal M1.8**(HA4), "dass der Staubschutzdeckel nur einseitig und axial kontaktierend an der zweiten Komponente befestigt ist", ist nicht unmittelbar und eindeutig in der ursprünglich eingereichten Anmeldung, auf der das vorliegende Patent beruht, offenbart. Der Hauptantrag erfüllt daher nicht das Erfordernis des Artikels 123 (2) EPÜ.

3. Hilfsanträge 1 bis 5: Unzulässige Erweiterung (Artikel 123 (2) EPÜ)

Der Anspruch 1 der Hilfsanträge 1 bis 5 enthält wie der Anspruch 1 des Hauptantrags das Merkmal der nur einseitigen und axialen Befestigung des Staubschutzdeckels an der zweiten Komponente. Die obigen Ausführungen gelten daher analog. Folglich ist für den Anspruch 1 der Hilfsanträge 1 bis 5 das Erfordernis des Artikels 123 (2) EPÜ ebenso wenig erfüllt.

4. Schlussfolgerung

Da der Hauptantrag und die Hilfsanträge 1 bis 5 nicht das Erfordernis des Artikels 123 (2) EPÜ erfüllen, liegt kein gewährbarer Antrag der Patentinhaberin vor. Das Patent ist daher zu widerrufen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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