T 2063/21 () of 18.9.2023

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2023:T206321.20230918
Datum der Entscheidung: 18 September 2023
Aktenzeichen: T 2063/21
Anmeldenummer: 12184376.7
IPC-Klasse: B60T 13/66
B60T 13/68
B60T 17/00
B60T 8/17
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Druckluftaufbereitungseinheit
Name des Anmelders: Haldex Brake Products Aktiebolag
Name des Einsprechenden: Knorr-Bremse
Systeme für Nutzfahrzeuge GmbH
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2)
European Patent Convention Art 54
European Patent Convention Art 56
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(2)
Schlagwörter: Ermessen der Einspruchsabteilung hinweggesetzt - nein
Änderungen - unzulässige Erweiterung (nein)
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Änderung nach Ladung - berücksichtigt (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0007/93
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, wonach das Streitpatent in der geänderter Fassung des in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsantrags 1 den Erfordernissen des EPÜ genügt.

II. Die Einspruchsabteilung hat hinsichtlich der aufrechterhaltenen Fassung entschieden, dass der Gegenstand des geänderten Patents über den den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht hinausgehe, und dass der Gegenstand des Anspruchs 1 neu gegenüber D6 (DE 10 2004 051 309 B4) sei und im Hinblick auf die Kombination von D6 mit D16 (Kraftfahrtechnisches Taschenbuch, Robert Bosch GmbH, 2007,Seiten 870-909) oder D8 (DE 198 214 20 C1) auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.

Die folgenden Entgegenhaltung sind für diese Entscheidung auch relevant:

D9: DE 10 2009 045 191 A1;

D10: DE 197 52 147 A1; und

D11: DE 196 394 64 A1.

III. Es fand am 18. September 2023 eine mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz statt.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents im Umfang eines der Hilfsanträge 1 bis 11, eingereicht mit

der Beschwerdeerwiderung.

IV. Anspruch 1 des Hauptantrags, d.h. der aufrechterhaltenen Fassung, lautet wie folgt (Merkmalsgliederung gemäß der angefochtenen Entscheidung):

"Druckluftaufbereitungseinheit (1) für eine Druckluftanlage eines Nutzfahrzeugs mit einer mit einem Kompressor verbindbaren Versorgungsleitung und ausgangsseitigen Anschlüssen für Verbraucherkreise und einem integrierten Lufttrockner zur Reinigung und Entfeuchtung der vom Kompressor bereitgestellten Druckluft, dadurch gekennzeichnet, dass

a) die Druckluftaufbereitungseinheit (1) ein Anhängersteuerventil (53) besitzt,

b) das Anhängersteuerventil und die Druckluftaufbereitungseinheit in ein gemeinsames Gehäuse integriert sind oder das Anhängersteuerventil ein Modul der Druckluftaufbereitungseinheit ist, welches an ein anderes Modul angeflanscht ist, und

c) in die Druckluftaufbereitungseinheit (1) eine Notbremseinrichtung für eine Anhängerbremsanlage integriert ist."

Entscheidungsgründe

1. Zulassung des Hauptantrags - Ermessensausübung der Einspruchsabteilung

1.1 Die Einspruchsabteilung hat den seinerzeitigen Hilfsantrag 1 (und Hauptantrag im Beschwerdeverfahren) während der mündlichen Verhandlung zugelassen.

1.2 Die Beschwerdeführerin stimmte dieser Beurteilung nicht zu und führte im Wesentlichen an, dass der verspätete Antrag - einen Tag vor der mündlichen Verhandlung eingereicht - eine wesentliche Änderung des Sachverhalts durch die erstmalige Hinzufügung der Formulierung "für eine Anhängerbremsanlage" in Merkmal c) des Anspruchs 1 darstellte. Dies sei jedoch keine Reaktion auf neues, überraschendes oder unvorhersehbares Vorbringen seitens der Beschwerdeführerin gewesen. Dementsprechend fehle dem Antrag die prima facie Begründetheit.

1.3 Dem ist nicht zu folgen. Zum einen betrifft die prima facie Begründetheit nicht die Frage, welchen Anlass es zur Einreichung geänderter Ansprüche ggfs. gegeben hat, sondern die Frage, ob ein eingereichter Anspruch auf den ersten Blick gewährbar erscheint. Zum anderen ist vorliegend kein Ermessenfehlgebrauch erkennbar:

1.4 Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern sollte sich eine Beschwerdekammer nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nicht nach den richtigen Kriterien oder in unangemessener Weise ausgeübt und damit den ihr eingeräumten Ermessensspielraum überschritten hat. Ein erstinstanzliches Organ verfügt somit bei der Ausübung dieses Ermessens über einen gewissen Freiraum, in den die Beschwerdekammern nicht eingreifen (siehe G 7/93, Punkt 2.6).

1.5 Im vorliegenden Fall führt die Einspruchsabteilung in der Entscheidung aus, dass die Änderung keine wesentliche Veränderung des Sachverhalts darstelle, denn der Gegenstand des Anspruchs 1 baue auf der Fassung des Hilfsantrags 1 vom 13. Juni 2019 mit der Klarstellung "für eine Anhängerbremsanlage" auf.

Dass die Einspruchsabteilung den Einspruch ersichtlich für gewährbar hielt, ist der Entscheidung ebenso zu entnehmen.

Infolgedessen und unter Berücksichtigung des oben genannten Kriteriums ist die Kammer davon überzeugt, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nach den richtigen Grundsätzen und nicht willkürlich ausgeübt hat. Die erkennbar hinter der Entscheidung stehende Auffassung, dass die Beschränkung der Notbremseinrichtung auf eine "für eine Anhängerbremsanlage" die Beschwerdeführerin angesichts der Offenbarung des Streitpatents nicht überraschen durfte, und es ihr somit zugemutet werden konnte, auf diese einzugehen, scheint somit nicht zu beanstanden.

2. Unzulässige Erweiterung - Artikel 123(2) EPÜ

2.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 geht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht hinaus.

2.2 Die Beschwerdeführerin argumentierte in der Beschwerdebegründung erneut, dass die Aufnahme des Merkmals b) in den Anspruch 1 eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung des in Absatz [0018] der A-Schrift offenbarten Sachverhalts sei, da die folgenden, in strukturellem und funktionellem Zusammenhang mit Merkmal b) offenbarten Merkmale weggelassen wurden:

- "...ausschließlich der Bereitstellung des Bremssteuerdrucks für den Anhänger dienen,..."; und

- "...während aber auch durchaus möglich ist, dass das Anhängersteuerventil auch für die Bereitstellung eines Versorgungsdrucks für den Anhängerbremskreis zuständig ist.".

Darüber hinaus stelle die Aufnahme des Merkmals c) ebenfalls eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung des in Absatz [0021] der A-Schrift offenbarten Sachverhalts dar. Insbesondere wurden die Merkmale weggelassen, die in dem genannten Absatz als wesentliche Merkmale der Erfindung ("Die Erfindung schlägt hier vor...") erläutert werden, um eine Notbremsung im Falle eines Abrisses der Kupplungskopf-Bremse zu ermöglichen.

2.3 Die Einspruchsabteilung hat sich unter den Punkten 2 und 5 der angefochtenen Entscheidung ausführlich mit dem oben genannten Vorbringen der Beschwerdeführerin in ihrer Entscheidung auseinandergesetzt.

2.4 Gemäß Artikel 15(8) VOBK (Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, Amtsblatt EPA 2021, A35) kann die Kammer die Entscheidungsgründe hinsichtlich einer Frage in gekürzter Form abfassen, wenn die Kammer sich hinsichtlich dieser Frage den Feststellungen des Organs, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, sowie der Begründung in der angefochtenen Entscheidung anschließt.

2.5 Da die Kammer die Begründung der Einspruchsabteilung zu diesen Punkten teilt, schließt sich die Kammer insoweit der zutreffenden Begründung und den Feststellungen der Einspruchsabteilung an.

3. Neuheit - Artikel 54 EPÜ

3.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist neu im Vergleich zu der Druckluftaufbereitungseinheit in D6.

3.2 Es besteht Uneinigkeit zwischen den Parteien darüber, ob Merkmal c) des Anspruchs 1 in D6 offenbart wird.

3.3 Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass das Patent, insbesondere Absatz [0021], keine exakte Definition einer Notbremseinrichtung liefere. Folglich sei der Begriff so auszulegen, dass er nicht mehr als einen zusätzlichen Bedien-/Bremsmodus bedeute. Der im TCM-Modul vorhandene Backupdruck-Modus stelle einen derartigen Modus dar, da er im Notfall, d.h. im Falle eines Druckverlustes, einen notfallmäßigen Bremsdruck bereitstelle.

3.4 Dieses überzeugt aus folgenden Gründen nicht:

Erstens ist der Begriff "Notbremseinrichtung" nicht so breit auszulegen, dass damit jeglicher zusätzliche Bedien-/Bremsmodus der Druckluftaufbereitungseinheit gemeint sein kann oder dass auch eine Notbremsung des Fahrers durch eine harte Bremsung über die Betriebsbremse umfasst wäre. Unter "Notbremseinrichtung" versteht der Fachmann vielmehr eine Einrichtung, die so ausgestaltet ist, dass sie selbst als Reaktion auf eine detektierte Notsituation eine Bremsung auslösen kann.

Zweitens ist das TCM-Modul in D6 eine Komponente eines Elektronischen Bremssystem (EBS), das zur Ansteuerung des Anhängers dient. Daraus geht hervor, dass das TCM-Modul das elektronische Steuersignal zum Anhängerbremssystem liefert. Zusätzlich weist das TCM-Modul pneumatische Eingänge zum Anschluss an den EBS-Backupdruck (siehe Absatz [0021] von D6) auf. Dieser Backupdruck stellt - wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen und bei der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung festgestellt - lediglich eine übliche pneumatische Rückfallebene dar, die die EBS-Systeme besitzen, und die im Falle einer elektrischen Störung aktiv wird und dann eine herkömmliche, pneumatisch gesteuerte Abbremsung ermöglicht. Folglich führt diese Druckversorgung nicht zu einer Notbremsung, sondern gerade zur Fortsetzung des normalen Fahrbetriebs und somit der normalen Betriebsbremsung.

Daraus folgt, dass Merkmal c) in D6 nicht offenbart ist.

4. Erfinderischen Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ

4.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit gegenüber einer Kombination von D6 mit dem allgemeinen Fachwissen, D16 oder D8.

4.1.1 Der Gegenstand von Anspruch 1 unterscheidet sich von der Einheit der D6 durch Merkmal c).

4.1.2 Ausgehend von diesem Unterschied teilte die Beschwerdeführerin die von der Einspruchsabteilung formulierte technische Aufgabe nicht und formulierte sie stattdessen als die Erhöhung der Betriebssicherheit einer Druckluftaufbereitungseinheit mit funktional und/oder strukturell integriertem Anhängersteuerventil.

Vor diesem Hintergrund würde der Fachmann nach einer konkreten Lösung suchen, um die Betriebssicherheit eines integrierten Anhängersteuerventils zu erhöhen.

Der Fachmann sei in dieser Hinsicht bereits mit den Sicherheitsvorschriften für Anhängerbremsanlagen vertraut. Insbesondere gehöre es zum Fachwissen und sei ausdrücklich in D16 offenbart (siehe Seite 879 unter "Anhängersteuerventil"), dass zur Erhöhung der Sicherheit im Falle eines Abrisses der Bremsleitung zum Anhänger - in D6 der EBS-Backupsteuerdruck - der Druck in der Vorratsleitung zum Anhänger innerhalb einer vorgegebenen Zeit absinken müsse, um die Notbremsfunktion des Anhängerbremsventils zu aktivieren (siehe dazu Absatz [0021] des angegriffenen Patents). Dafür sei es üblich, ein zusätzliches Ventil in das Anhängersteuerventil zu integrieren, das die Druckluftzufuhr zur Vorratsleitung absperre - wie es im Streitpatent vorgeschlagen werde.

Weiterhin und angesichts der von der Beschwerdeführerin erläuterten Interpretation des Begriffs "Notbremseinrichtung" erklärte die Beschwerdeführerin gemäß einer zweiten Argumentationslinie, dass die Lehre in D8 (Spalte 13, Zeile 10-20 und Figur 7)) den Fachmann dazu veranlassen würde, das Merkmal c) in die Druckluftaufbereitungseinheit von D6 aufzunehmen. Insbesondere beziehe sich der Notbetrieb nach D8 ebenso wie der gemäß Absatz [0021] des Streitpatents, auf den Fall einer Leckage und damit auf einen Druckverlust, wobei ein reduziertes Druckniveau sichergestellt werde.

4.1.3 Die erste Argumentationslinie der Beschwerdeführerin (D6 mit dem Fachwissen bzw. D16) scheitert bereits daran, dass sie auf der Annahme beruht, dass das TCM-Modul von D6 auch Vorratsleitungen für den Vorratsdruck zum Anhänger enthält und steuert. Allerdings handelt es sich - wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen - bei dem TCM-Modul von D6 um eine Komponente eines EBS, das lediglich zur Ansteuerung des Anhängers dient (elektronische Steuerung bzw. Bremsleitung Back-up). Dass die elektro-pneumatische Zentraleinheit und insbesondere das TCM-Modul von D6 selbst Vorratsleitungen für den Vorratsdruck zum Anhänger aufweist und steuert, geht aus der Offenbarung in D6 weder implizit noch explizit hervor. Folglich würde der Fachmann aufgrund des Fehlens von Vorratsleitungen zum Anhänger in der Einheit von D6 nicht auf die Idee kommen, das behauptete Ventil in das TCM-Modul von D6 zu integrieren, da eine derartige Integration nicht die beabsichtigte Funktion des Ventils erfüllen könnte.

Die Kombination von D6 mit D8 kann auch keinen Erfolg haben, da sie auf der oben erwähnten falschen Auslegung des Begriffs "Notbremseinrichtung" durch die Beschwerdeführerin beruht. Die angegebene Passage von D8 auf Spalte 13 spricht einen Notbetrieb des Fahrzeuges und nicht eine Notbremsung gemäß Merkmal c) an.

4.2 Die von der Beschwerdegegnerin bestrittene Richtigkeit der Ermessensausübung der Einspruchsabteilung hinsichtlich der Zulassung von D16 kann daher dahingestellt bleiben.

4.3 Die Angriffslinien ausgehend von D6 in Kombination mit D9, D10 oder D11 wurden nicht berücksichtigt.

4.3.1 Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer und somit nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung erhob die Beschwerdeführerin erstmals den Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit unter Bezugnahme auf D6 in Kombination mit D9, D10 oder D11.

Dieser neue Einwand stellt eine Änderung des Vorbringens der Beschwerdeführerin dar, da mit der Beschwerdebegründung lediglich ein Mangel an erfinderischer Tätigkeit ausgehend von D6 in Kombination ausschließlich mit der Lehre von D16 oder D8 geltend gemacht wurde.

4.3.2 Gemäß Artikel 13(2) VOBK bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.

4.3.3 Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin keine Gründe angegeben für dieses verspätete Vorbringen, geschweige denn solche, die als stichhaltig zu qualifizieren wären.

4.3.4 Folglich bleiben unter Artikel 13(2) VOBK diese Angriffslinien unberücksichtigt.

5. Daraus ergibt sich, dass die Beschwerde der Einsprechenden nicht begründet ist.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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