European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2023:T137021.20230130 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 30 Januar 2023 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1370/21 | ||||||||
Anmeldenummer: | 13805321.0 | ||||||||
IPC-Klasse: | F03D 13/10 F15B 15/18 F15B 15/26 F15B 15/02 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | TURNANTRIEB FÜR EINE WINDENERGIEANLAGE UND VERFAHREN ZUM DREHEN DER ROTORWELLE EINER WINDENERGIEANLAGE | ||||||||
Name des Anmelders: | Siemens Gamesa Renewable Energy Service GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Nordex Energy SE & Co. KG | ||||||||
Kammer: | 3.2.04 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Neuheit - Hauptantrag (nein) Neuheit - Hilfsantrag (ja) Änderungen - zulässig (ja) Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag (ja) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden 1 richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent nach Artikel 101(2) EPÜ zurückzuweisen.
II. Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass keiner der erhobenen Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents entgegensteht.
In ihrer Entscheidung hat die Einspruchsabteilung unter anderem die folgenden Entgegenhaltungen zitiert:
E2-O1 EP 2 116 722 A2
E3-O1 Sauer Danfoss_"Generelles, Orbitalmotoren,
Technische Information", 2001, Seiten 1-32
E4-O1 EP 2 466 124 A2
E7-O1 EP 2 159 472 A1
E14-O1 Wikipedia, "Liste der Schaltzeichen
Fluidtechnik)", Auszug vom 6. Juni 2019,
Seiten 1-10
E19-O2 DE 202 01 623 U1
III. Die Beschwerdeführerin Einsprechende 1 beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
IV. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf der Grundlage der Ansprüche eines der Hilfsanträge 1 bis 4 (eingereicht mit Schreiben vom 6. November 2019) zu erteilen.
V. Die Verfahrensbeteiligte Einsprechende 2 hat ihren Einspruch am 28. Januar 2020 zurückgenommen. Sie ist darum nicht mehr am Verfahren beteiligt.
VI. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK als Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Auffassung mit. Die mündliche Verhandlung fand am 30. Januar 2023 in Anwesenheit der beiden Parteien statt.
VII. Der unabhängige Anspruch 1 der für diese Entscheidung relevanten Anträge hat den folgenden Wortlaut:
Hauptantrag (erteilte Fassung)
"Turnantrieb für eine Windenergieanlage, umfassend eine Welle (52), einen Hydromotor (27) zum Antreiben der Welle (52) und eine Antriebsleitung (39), um dem Hydromotor (27) eine unter Druck stehende Hydraulik-flüssigkeit zuzuführen, wobei die Antriebsleitung (39) mit einem einstellbaren Druckbegrenzungsventil (30) versehen ist, dadurch gekennzeichnet, dass der Turnantrieb zum Anschließen an eine schnelle Welle (19) eines Getriebes der Windenergieanlage vorgesehen ist und eine mechanische Bremse (40) für die Welle (52) vorgesehen ist."
Hilfsantrag 1
Wie im Hauptantrag, wobei das folgende Merkmal am Ende des Anspruchs eingefügt wurde:
"wobei die Bremse (40) auf ein vorgegebenes Durchrutschmoment einstellbar ist"
VIII. Die Beschwerdeführerin Einsprechende 1 hat zu den entscheidungserheblichen Punkten im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Anspruch 1 des Hauptantrags enthalte unzulässige Änderungen. Sein Gegenstand sei nicht neu gegenüber E19-O2. Gegen den Hilfsantrag 1 gebe es keine Einwände.
IX. Die Beschwerdegegnerin Patentinhaberin hat zu den entscheidungserheblichen Punkten im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags sei neu gegenüber der E19-02. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 enthalte zulässige Änderungen. Sein Gegenstand sei neu und beruhe gegenüber dem angezogenen Stand der Technik auf erfinderischer Tätigkeit.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Anwendungsgebiet der Erfindung
Die Erfindung betrifft einen Turnantrieb für eine Windenergieanlage. Ein solcher Antrieb wird z.B. während der Montage der Rotorblätter mit dem Getriebe der Windenergieanlage verbunden, um das zum Drehen des Rotors in die Montageposition eines Rotorblattes benötigte Drehmoment unter Nutzung der Getriebe-übersetzung zu verringern, siehe die Absätze 0002 und 0003 der Patentschrift.
Der Turnantrieb ist zum Anschließen an die schnelle Welle 19 des Getriebes der Windenergieanlage vorgesehen. Er umfasst eine Welle 52, einen Hydromotor 27 zum Antreiben der Welle, eine mechanische Bremse 40 für die Welle und ein einstellbares Druckbegrenzungs-ventil 30 in der Antriebsleitung 39 des Hydromotors. Die Bremse 40 arretiert den Rotor der Windenergieanlage trotz des unvermeidlichen Leckflusses des Hydromotors 27 in einer bestimmten Position. Das Druckbegrenzungs-ventil begrenzt das auf das Getriebe übertragbare Drehmoment, um eine Überlastung des Getriebes zu vermeiden, wenn z.B. bei der Montage der Rotorblätter eine Windbö auf den Rotor einwirkt. Die Einstellbarkeit des Druckbegrenzungsventils erlaubt eine Anpassung des Turnantriebs an unterschiedliche Rotorblätter und/oder Umgebungsbedingungen, siehe die Absätze 0004, 0006 und 0009 der Patentschrift.
Ein Verfahren zum Drehen der Rotorwelle einer Windenergieanlage unter Verwendung eines solchen Turnantriebs wird ebenfalls beansprucht.
3. Hauptantrag - Neuheit
Die angefochtene Entscheidung befand, dass der Turnantrieb für eine Windenergieanlage nach dem erteilten Anspruch 1 neu gegenüber der E19-O2 sei, siehe Absatz 3 der Entscheidungsgründe. Die Beschwerdeführerin Einsprechende 1 bestreitet diesen von der Patentinhaberin unterstützten Befund.
3.1 Für die Neuheit von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag ist das einzige Ausführungsbeispiel der E19-O2 relevant, das die Anwendung einer Bremse an einem Anbaugerät eines Gabelstaplers betrifft, siehe den drittletzten Absatz auf Seite 3 des Dokuments. Das Anbaugerät ist durch einen in zwei Drehrichtungen drehbaren Hydraulikmotor bewegbar, so dass E19-02 unbestritten einen Drehantrieb mit einer Welle (Figur 2: Drehteil 28), einem Hydromotor zum Antreiben der Welle (Figur 1: Hydraulikmotor 21) und einer mechanischen Lamellenbremse für die Welle offenbart (Figur 1: Bremse 20; Figur 2: Lamellen 29, 30).
3.2 Die Antriebsleitung des Hydromotors 21 der E19-O2 ist mit Druckbegrenzungsventilen versehen, siehe die in Figur 1 dargestellten Ventile in den Versorgungs-leitungen 13, 14 oberhalb des Bezugszeichens 15. Die Beschwerdegegnerin bestreitet jedoch, dass diese Ventile einstellbar seien, siehe Absatz III.9 der Beschwerdebegründung. Dazu hat die Kammer bereits in Abschnitt 4.3 ihrer Mitteilung eine gegenteilige Auffassung vertreten und die folgende vorläufige Meinung geäußert:
"4.3 Im Hinblick auf das Merkmal 1.4 ("einstellbares Druckbegrenzungsventil") verweist das in Figur 1 verwendete Schaltsymbol für die Druckbegrenzungsventile in den beiden Versorgungsleitungen auf ein einstellbares Druckbegrenzungsventil, siehe zur Erklärung die erste Abbildung auf Seite 7 der E14-O1. Nach ständiger Rechtsprechung gehören ausschließlich zeichnerisch dargestellte Merkmale dann zum Stand der Technik gehören, wenn der Fachmann dem nur gezeichneten Merkmal auch ohne Beschreibung eine technische Lehre entnehmen kann, siehe RdBK, 10. Auflage 2022, I.C.4.6. Außerdem ist eine zum Stand der Technik gehörende Offenbarung dann neuheitsschädlich ist, wenn sie den fraglichen Gegenstand unmittelbar und eindeutig offenbart, und zwar bei Zugrundelegung des allgemeinen Wissens des Fachmanns am Veröffentlichungstag des angeführten Dokuments, siehe I.C.4.1. Da eine Schaltzeichentabelle zum Fachwissen eines Fachmannes auf dem Gebiet der Hydraulik gehört, offenbart Figur 1 aus Sicht der Kammer unmittelbar und eindeutig ein schaltbares Druckbegrenzungsventil. Ob die ebenfalls in dieser Figur gezeigte Drossel 17 entgegen etwaiger Angaben in der Beschreibung dargestellt ist, hat auf die getrennt davon dargestellten Druckbegrenzungs-ventile keinen Einfluss."
Die Beschwerdegegnerin hat zu dieser Sichtweise nicht weiter Stellung genommen. Mangels weiterer Ausführungen sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer Sichtweise abzuweichen. Daher sieht sie auch ein einstellbares Druckbegrenzungsventil als in E19-02 offenbart an.
3.3 Somit hängt die Entscheidung zur Neuheit davon ab, ob die in E19-O2 offenbarte Kombination aus Lamellenbremse 20 und Hydraulikmotor 21 als Turnantrieb für eine Windenergieanlage geeignet ist. Die Beschwerdegegnerin bestreitet das mit den Argumenten, dass der Hydraulik-motor 21 kein ausreichend hohes Drehmoment zum Antrieb eines unwuchtbehafteten Rotors während der sukzessiven Montage der Rotorblätter bereitstelle, und dass die Kombination aus Lamellenbremse 20 und Hydraulikmotor 21 keine eigenständige Vorrichtung sei, die selbständig in einer Windenergieanlage verwendet werden könne.
3.3.1 Bezüglich der Konfiguration bzw. Unwucht des Rotors der Windenergieanlage hat die Kammer bereits in ihrer Mitteilung, siehe Abschnitt 4.2, eine gegenteilige Auffassung vertreten und die folgende vorläufige Meinung geäußert:
"4.2 Im Hinblick auf das Merkmal 1.1 ("Turnantrieb für eine Windenergieanlage") ist die Kammer nicht von dem Befund der Entscheidung bzw. der Sichtweise der Beschwerdegegnerin überzeugt, dass der Begriff "Turnantrieb" im Lichte der Absätze 0002-0004 der Patentschrift auf eine Eignung des Antriebs zum Drehen eines Rotors mit Unwucht während der Blattmontage beschränkt sei. Der Begriff "Turn- oder Törn-Vorrichtung", siehe beispielsweise die in Absatz 0007 der E2-O1 genannte EP-A-1 659 286, scheint nämlich auch für Vorrichtungen gebraucht zu werden, die bei der Wartung einer Windenergieanlage eingesetzt werden und dabei den unwuchtfreien Rotor mit einem entsprechend schwächeren Motor drehen können. Zu diesem Zweck reicht laut Absatz 0014 der E2-O1 ein Kraft- oder Drehmoment-schrauber aus. Auch vermag die Kammer aus der rein schematischen Darstellung des Antriebs nach Figur 1 der E19 (vgl. die Figuren 7 und 8 der Patentschrift) nicht abzuleiten, dass dieser nicht geeignet wäre für eine Windenergieanlage. Daher ist die Kammer der vorläufigen Meinung, dass die in E19-O2 offenbarte Verwendung in einem Anbaugerät eines Gabelstaplers oder einen Windenantrieb mindestens das Drehmoment eines Kraft- oder Drehmomentschraubers benötigt, so dass dieser Hydraulikmotor zur Verwendung als Turnantrieb für eine Windenergieanlage geeignet erscheint."
Die Beschwerdegegnerin hat zu dieser Sichtweise nicht weiter Stellung genommen. Mangels weiterer Ausführungen sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer Sichtweise abzuweichen. Daher sieht sie die in E19-O2 offenbarte Kombination aus Lamellenbremse 20 und Hydraulikmotor 21 als geeignet für das "Turnen", also Drehen des vollständig montierten und daher weitgehend unwuchtfreien Rotors einer Windenergieanlage an.
3.3.2 Die Kammer muss darum noch den von der Beschwerde-gegnerin bestrittenen weiteren Aspekt prüfen, wonach E19-O2 keine in sich abgeschlossene, eigenständige Vorrichtung betreffe, die an die schnelle Welle eines Windenergieanlagengetriebes angeschlossen werden könne. Dabei stimmt die Kammer der Beschwerdegegnerin darin zu, dass das Dokument weder einen Rahmen oder ein ähnliches Bauteil zur Verbindung der Lamellenbremse 20 mit dem Hydraulikmotor 21 noch eine Kupplung zum Anschluss der Motorwelle "Drehteil 28" an ein davon anzutreibendes weiteres Bauteil zeigt. Aus dem Fehlen einer expliziten Offenbarung dieser Bauteile in E19-O2 kann die Kammer jedoch im Gegensatz zur Beschwerde-gegnerin nicht folgern, dass das Dokument bloß auf eine Lamellenbremse an sich gerichtet sei oder die Lamellenbremse 20 und den Hydraulikmotor 21 als Einzelteile irgendwo in einem Gabelstapler offenbare. Stattdessen enthält die Vorrichtung zur Steuerung eines in beide seiner Drehrichtungen drehbaren Hydraulikmotors (siehe die Formulierung in Anspruch 1 der E19-O2) die Lamellenbremse 20 und den Hydraulikmotor 21 als gemeinsame Bestandteile eines Anbaugeräts, siehe die Formulierungen "Anwendung der Bremse an einem Anbaugerät, beispielsweise eines Gabelstaplers" im drittletzten Absatz auf Seite 3 und "Hydraulikmotor 21 eines Anbaugerätes" im vorletzten Absatz auf Seite 4.
Die Kammer muss darum nun klären, was eine Fachperson im Kontext der E19-O2 unter einem Anbaugerät versteht.
3.3.3 Wegen der normalen Wortbedeutung des im Begriff Anbaugerät enthaltenen Verbs anbauen handelt es sich dabei nach Auffassung der Kammer um eine vom Gabelstapler gesonderte Baugruppe, die an diesen angebaut ist und deswegen eine eigenständige Vorrichtung bildet. Die von der Beschwerdegegnerin behauptete integrale Anordnung von Bremse und Motor irgendwo im Gabelstapler hätte nämlich zur Folge, dass diese Bauteile dort eingebaut, nicht aber an den Gabelstapler angebaut wären. Die alternative Auslegung der Beschwerdegegnerin, wonach es sich bei dem Anbaugerät um den Gabelstapler selbst handele, lässt sich aus grammatikalischen Gründen nicht aus der Formulierung "an einem Anbaugerät, beispielsweise eines Gabelstaplers" ableiten. Das Anbaugerät steht nämlich im Dativ, der Gabelstapler jedoch im Genitiv. Durch den Genitiv wird die Zugehörigkeit des Anbaugeräts zum Gabelstapler, nicht aber eine Identität von Gabelstapler und Anbaugerät ausgedrückt. Diese Auslegung wird durch die Formulierung "[s]tatt eines Gabelstaplers könnte auch ein anderes Zusatzaggregat.." im letzten Absatz auf Seite 8 der E19-O2 bestätigt. Wegen des Bestandteils "anderes" lässt diese Passage des Dokuments nur den Schluss zu, dass das vorher im Zusammenhang mit einem Gabelstapler Beschriebene dessen Zusatzaggregat betraf. Mithin bildet das Anbaugerät ein Zusatzaggregat des Gabelstaplers. Dabei folgt aus der normalen Wortbedeutung von Zusatz, dass ein zweiter Gegenstand (das Anbaugerät) zu einem ersten Gegenstand (dem Gabelstapler) hinzukommt, ohne dass der zweite Gegenstand ein integraler Bestandteil des ersten Gegenstands wird.
3.3.4 Darüber hinaus stützt der Hydraulikplan in Figur 1 des Ausführungsbeispiels die Auslegung des Anbaugeräts als eigenständige, vom Gabelstapler trennbare Vorrichtung. Dort sind nämlich Steckverbindungen 23 in den Versorgungsleitungen 13, 14 zwischen dem mit der Hydraulikpumpe 11 verbundenen Steuerelement 12 und dem von der Lamellenbremse 20 gebremsten Hydraulikmotor 21 vorhanden. Da die Steckverbindungen auch im Beschreibungstext der E19-O2 genannt werden, siehe den zweiten Absatz auf Seite 4 des Dokuments, handelt es sich nicht um eine der Phantasie des Illustrators entsprungene Darstellung, sondern um eine bewusst gewählte technische Ausgestaltung der Steuer-vorrichtung. Nach Auffassung der Kammer versteht eine Fachperson diese Steckverbindungen als Verweis auf zwei voneinander getrennte, miteinander koppelbare Baugruppen. Daher wird die Fachperson die in der rechten Hälfte der Figur 1 dargestellte Anordnung der Lamellenbremse 20 und des über diverse Hydraulik-leitungen und Ventile damit verbundenen Hydraulikmotors 21 als eine abgeschlossene, eigenständige Vorrichtung ansehen.
3.4 Aus diesen Gründen bildet die in E19-O2 offenbarte Kombination aus Lamellenbremse 20 und Hydraulikmotor 21 nach Auffassung der Kammer eine eigenständige Vorrichtung. Dabei versteht es sich für die Kammer von selbst, dass die Fachperson ein Gehäuse/einen Rahmen für das Anbaugerät und eine Kupplung zur Verbindung mit einem vom Hydraulikmotor anzutreibenden Element mitliest, so dass diese Bauteile implizit im Dokument offenbart werden. Zudem folgt für die Kammer aus den Begriffen Zusatzaggregat bzw. Anbauteil unmittelbar und eindeutig, dass das Anbaugerät erheblich kleiner als ein Gabelstapler ist. In Anbetracht der Größe einer Windenergieanlagengondel besteht daher für die Kammer kein Zweifel daran, dass dort genug Platz vorhanden ist, um ein solches Anbaugerät an die schnelle Getriebewelle der Windenergieanlage anzuschließen. Dabei wird die Fachperson das Gehäuse/den Rahmen der Kombination aus Lamellenbremse 20 und Hydraulikmotor 21 zur Aufnahme von Momenten auch an der Struktur der Windenergieanlage (beispielsweise am Getriebegehäuse) abstützen, siehe das diesbezügliche Gegenargument der Beschwerdegegnerin in Absatz III.5 ihrer Erwiderung auf die Beschwerde. Schließlich muss die Fachperson das bereits beim Gabelstapler bzw. der Winde machen, damit der Hydraulikmotor 21 sich nicht frei um seine Antriebsachse dreht. Da zudem Anspruch 1 auf keine bestimmte Reaktionszeit des Turnantriebs gerichtet ist, steht selbst die potentiell kurze Reaktionszeit eines Gabelstapler-Hydraulikmotors der Eignung zur Nutzung als Turnantrieb für eine Windenergieanlage nicht entgegen, siehe das Gegenargument der Beschwerde-gegnerin in Absatz III.7 ihrer Erwiderung auf die Beschwerde.
3.5 Die Kammer schließt aus alledem, dass die in E19-O2 als Teil eines Anbaugeräts eines Gabelstaplers offenbarte Kombination aus Lamellenbremse 20 und Hydraulikmotor 21 zur Nutzung als Turnantrieb für eine Windenergieanlage geeignet ist. Mithin weist diese Vorrichtung alle Merkmale von Anspruch 1 des Hauptantrags auf, so dass dessen Gegenstand nicht neu gegenüber der Offenbarung des Dokuments E19-O2 ist, Artikel 100(a) i.V.m. Artikel 54 EPÜ.
4. Hilfsantrag 1 - Zulassung
4.1 Die Kammer hat bereits in ihrer Mitteilung, siehe die Abschnitte 2.3 und 2.4, die Auffassung vertreten, dass die Hilfsanträge zum Verfahren zuzulassen seien. Die Kammer hat dazu die folgende vorläufige Meinung geäußert:
"2.3 Im Hinblick auf die Hilfsanträge 1-4 enthält die angefochtene Entscheidung zwar die Aussage, dass sie "auf den folgenden Anträgen", und damit auf dem nachfolgend aufgeführten Hauptantrag sowie den Hilfsanträgen 1-4 beruhe, siehe Absatz 10 des Sachverhalts. Jedoch betrifft die angefochtene Entscheidung die Zurückweisung des Einspruchs, so dass sie nur auf Basis des Hauptantrags erging. Die Hilfsanträge 1-4 waren nicht Gegenstand der Entscheidung im Sinne von Artikel 12(2) VOBK 2020, da dem Hauptantrag untergeordnet.
2.4 Dessen ungeachtet wurden die Hilfsanträge 1 bis 4 im Einspruchsverfahren eingereicht, um Einwände unter Art 100(a) bzw. Art 54 und 56 EPÜ, welche die Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren weiterverfolgt, zu beheben. Die Beschwerdegegnerin hat in ihrer Erwiderung die Grundlage der Änderungen angegeben und hat ausgeführt, warum die Änderungen die Einwände ausräumen. Zudem hat die Beschwerdeführerin bereits erstinstanzlich ausreichend Gelegenheit gehabt, zu den Hilfsanträgen Stellung zu nehmen. Daher ist die Kammer der Auffassung, dass die Hilfsanträge 1 bis 4 gemäß Artikel 12(4) VOBK in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten wurden und somit nicht als Änderung zu betrachten sind. Es kann daher ggf. auch über diese Hilfsanträge entschieden werden."
Die Beschwerdegegnerin hat zu dieser Sichtweise nicht weiter Stellung genommen. Mangels weiterer Ausführungen sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer Sichtweise abzuweichen. Somit entschied die Kammer, dass der für die vorliegende Entscheidung einzig relevante Hilfsantrag 1 im Verfahren vor der Einspruchsabteilung in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten wurde, Artikel 12(4) VOBK 2020.
5. Hilfsantrag 1 - Änderungen
5.1 Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 enthält gegenüber Anspruch 1 des Hauptantrags (erteilte Fassung) das zusätzliche Merkmal "wobei die Bremse (40) auf ein vorgegebenes Durchrutschmoment einstellbar ist".
5.2 Zu Anspruch 1 des Hauptantrags hat die Kammer bereits in ihrer Mitteilung, Abschnitt 3, die Auffassung vertreten, dass die Änderungen darin zulässig seien. Die Kammer hat dazu die folgende vorläufige Meinung geäußert:
"3.1 Die Beschwerdeführerin erhebt den Einwand der unzulässigen Erweiterung gegen das Merkmal 1.5 ("der Turnantrieb zum Anschließen an eine schnelle Welle eines Getriebes der Windenergieanlage vorgesehen ist") von Anspruch 1 des Hauptantrags. Dabei räumt sie ein, dass die Passage im ersten Absatz auf Seite 2, Zeilen 4-11 der ursprünglich eingereichten Anmeldung eine Stütze sein könnte, sich jedoch auf den Stand der Technik beziehe.
3.2 Die Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin sieht das als neue Angriffslinie an, die nach Artikel 12(4)VOBK 2020 nicht zuzulassen sei. Die Kammer ist von diesem Argument nicht überzeugt, da die Einsprechende bereits während der mündlichen Verhandlung diese Sichtweise vertrat, siehe Absatz 2.2 der Niederschrift ("0 erklärt bzgl. M1 .5: S.2, Z.4-5. in der ursprünglich offenbarten Beschreibung des Streitpatents bezieht sich auf den Stand der Technik und ist nicht als zur Erfindung zugehörig offenbart.").
3.3 Aus Sicht der Kammer ist die Passage auf Seite 2 der Anmeldung nicht auf den Stand der Technik beschränkt. Die Formulierung "dieser Vorgehensweise" im Zusammenhang mit dem im zweiten Absatz von Seite 2 angesprochenen Problem einer Überlastung des Getriebes scheint eine Verbindung zu dem im ersten Absatz angesprochenen Anschluss eines Turnantriebs an die schnelle Welle des Getriebes zwischen Rotor und Generator herzustellen. Wenn dann im dritten Absatz darauf verwiesen wird, dass bei der Erfindung eine Überlastung des Getriebes vermieden wird, bezieht ein am Verständnis orientierter Leser das wohl ebenfalls auf die Anordnung des Turnantriebs an dieser schnellen Welle. Folglich scheint auch das im vierten Absatz als erfindungsgemäß beschriebene einstellbare Druckbegrenzungsventil eine Anordnung des Turnantriebs an der schnellen Welle eines Getriebes zwischen Rotor und Generator zu betreffen.
3.4 Daher scheinen die Änderungen in Anspruch 1 nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinauszugehen."
5.3 Die Beschwerdeführerin hat zu dieser Sichtweise nicht weiter Stellung genommen. Mangels weiterer Ausführungen sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer Sichtweise abzuweichen.
5.4 Nach Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist für Ansprüche, die der Patentinhaber durch die Aufnahme von Merkmalen aus der Beschreibung geändert hat, die jedoch im Einspruchs-verfahren nicht überprüft wurden, im Beschwerde-verfahren von Amts wegen zu prüfen, ob sie im Einklang mit Art. 123 (2) EPÜ stehen. Anderenfalls würde unter Umständen ein Gegenstand gewährt, der allein der Disposition der Parteien unterläge, weil er zu keinem Zeitpunkt einer amtlichen Prüfung unterzogen worden wäre (siehe RdBK 10. Auflage 2022, V.A.3.2.3.k) und die darin genannte Entscheidung T 996/18). Dies ist im Einklang mit der Entscheidung G10/91, siehe dort Gründe 19. Diese Situation trifft im vorliegenden Fall zu, da das zusätzliche Merkmal in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 auf Seite 5, Absatz 2 der ursprünglich eingereichten Anmeldung offenbart ist. Da diese Passage des allgemeinen Teils der Beschreibung die gesamte Patentanmeldung betrifft, kann die auf Seite 5 offenbarte Einstellung auf ein vorgegebenes Durchrutschmoment nach Auffassung der Kammer mit den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 1 und 2 kombiniert werden.
5.5 Aus diesen Gründen stellt die Kammer fest, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, Artikel 123 (2) EPÜ.
6. Hilfsantrag 1 - Neuheit, erfinderische Tätigkeit
6.1 Die Beschwerdeführerin Einsprechende 1 hat weder die Neuheit noch die erfinderische Tätigkeit von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 infrage gestellt, und auch die Kammer hat keinen Grund die Neuheit bzw. die erfinderische Tätigkeit von dessen Gegenstand zu bezweifeln.
6.2 Laut der Patentschrift, siehe deren Absatz 0011, wird mit dem einstellbaren Durchrutschmoment der mechanischen Bremse der Schutz des Getriebes der Windenergieanlage weiter verbessert. Das geschieht, indem eine Überlastung des Getriebes auch dann sicher vermieden werden kann, wenn die mechanische Bremse in Eingriff ist. Dazu stellt die Kammer fest, dass keine der im Beschwerdeverfahren zur Neuheit und erfinderischen Tätigkeit (zulässig) genannten Druckschriften offenbaren oder sonst nahelegen, die Lamellenbremse mit einstellbarem Durchrutschmoment auszuführen:
6.2.1 Das als Ausgangspunkt verwendete Dokument E2-01 offenbart einen Turnantrieb für eine Windenergieanlage in Form einer Getriebeölpumpe 22 am Nebenabtrieb 30 des Getriebes. Durch eine mechanische Bremse an der Ölpumpenwelle (über das Ritzel 31 und das Stirnrad 32) könnte zwar der Rotor arretiert werden. Wegen des geringen Durchmessers des Antriebsritzel 31 würde eine solche Bremse jedoch eine deutlich größere Betätigungskraft benötigen als die ohnehin schon an der schnellen Welle vorhandene Feststellbremse des Rotors, siehe den Verweis in Absatz 0051 und die wohl in Figur 1 dargestellten Bremsbacken und Bremsscheiben. Daher beruht eine solche Bremse (und erst recht eine mit einstellbarem Durchrutschmoment) auf einer unzulässigen rückschauenden Betrachtungsweise.
6.2.2 Das als alternativen Ausgangspunkt verwendete Dokument E7-O1 offenbart ein Schmiersystem 100 für eine Windenergieanlage, das in einem "actuating mode" als Turnantrieb mittels einer elektrischen Pumpe 2 die mechanische Pumpe 1 antreibt und damit eine Rotation Rotors 10 bewirkt, siehe Absatz 0011. E7-O1 offenbart unbestritten nur eine Bremse 8 an der schnellen Welle 7a des Getriebes, siehe Absatz 0010. Aus denselben Gründen wie bei E2-O1 würde eine Fachperson wegen der bereits an der schnellen Welle vorhandenen Feststellbremse, siehe die Absätze 0045 und 0047, keine Bremse (und erst recht keine mit einstellbarem Durchrutschmoment) an der Antriebswelle der Pumpe des Schmiersystems vorsehen.
6.2.3 Auch die mit E2-O1 oder E7-O1 kombinierten Dokumente E3-O1 und E4-O1 führen nicht zu einer solchen Bremse. Das in E3-01 genannte maximale Drehmoment von 400 Nm eines Orbitalmotors, siehe das Diagramm auf Seite 13, liegt weit unter dem in der Patentschrift genannten Drehmomentschwellwert von 30kNm, siehe deren Absatz 0019, so dass die Fachperson dieses Dokument nicht heranziehen wird. Das Dokument E4-O1 betrifft keine durchrutschende Bremse, sondern ein Überdruckventil 220 für den Azimut-Antrieb einer Windenergieanlage, siehe dessen Absatz 0033.
7. Somit gelangt die Kammer im Gegensatz zur angefochtenen Entscheidung zu dem Ergebnis, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags nicht neu gegenüber der Offenbarung des Dokuments E19-O2 ist, Artikel 100(a) und 54 EPÜ. Dagegen ist der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 neu und beruht auf erfinderischer Tätigkeit, Artikel 54 und 56 EPÜ.
Unter Berücksichtigung der nach dem Hilfsantrag 1 vorgenommenen Änderungen erfüllt das Patent die Erfordernisse des EPÜ und kann somit nach Artikel 101(3)(a) EPÜ in geänderter Fassung aufrechterhalten werden.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung ein Patent mit folgender Fassung zu erteilen:
Beschreibung:
Absatz 11 wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 30. Januar 2023
Absätze 1 bis 10, 12 bis 56 der veröffentlichten Patentschrift
Ansprüche:
1 bis 14 des Hilfsantrags 1 mit Schreiben vom 6. November 2019 eingereicht
Zeichnungen:
Figuren 1A bis 1E, 2-8 der veröffentlichten Patentschrift