T 1186/21 () of 18.9.2023

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2023:T118621.20230918
Datum der Entscheidung: 18 September 2023
Aktenzeichen: T 1186/21
Anmeldenummer: 14702192.7
IPC-Klasse: B42D 15/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Optisch variables Flächenmuster
Name des Anmelders: Giesecke+Devrient Currency Technology GmbH
Name des Einsprechenden: Oberthur Fiduciaire SAS
De La Rue International Limited
Leonhard Kurz Stiftung & Co. KG
Kammer: 3.2.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 84
European Patent Convention R 115(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 012(3)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 012(4)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 015(3)
Schlagwörter: Zulassung des Hauptantrags (ja)
Zulässigkeit des Klarheitseinwands (nein)
Zulassung des mündlichen Vortrags zur erf. Tätigkeit (nein)
Ausreichende Substantiierung des Einwands der mangelnden erfinderischen Tätigkeit (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0003/14
T 1439/16
T 0276/17
T 1058/20
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen den Widerruf des europäischen Patents Nr. 2 953 798 ("das Patent") durch die Einspruchs­abteilung.

II. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass der Gegenstand des Patents wie erteilt sowie der Hilfs­an­träge 2 bis 4 nicht neu sei, dass die Hilfsanträge 1 und 5 den Erfordernissen der Regel 80 EPÜ nicht genügten und dass die Hilfsanträge 6 bis 8 den Erfordernissen der Artikel 83, 84 und 123 (2) sowie (3) EPÜ nicht genügten. Die Hilfsanträge 9 und 10 wurden nicht in das Verfahren zugelassen.

III. Von dem von der Einspruchsabteilung zitierten Stand der Technik waren die Druckschriften D12 (US 2012/0156446 A1), D21 (US 1,996,539) und D22 (WO 2009/013000 A2) für das Beschwerde­verfahren besonders relevant.

IV. Die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer fand am 18. September 2023 statt. Wie mit Schrei­ben vom 24. August 2023 angekündigt, war die Beschwer­de­gegnerin II (Einsprechende 2) nicht vertreten.

V. Am Ende der mündlichen Verhandlung machte die Beschwer­deführerin den als Hilfsantrag 17 mit der Beschwerde­begründung eingereichten Antrag zum Haupt­antrag und nahm alle anderen Anträge zurück. Nachfolgend wird dieser Antrag als Hauptantrag bezeichnet.

VI. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent gemäß Hauptantrag aufrechtzuerhalten.

VII. Die Beschwerdegegnerinnen I bis III (Einsprechende 1 bis 3) beantragten die Zurückweisung der Beschwerde.

Darüber hinaus beantragten sie, den Hauptantrag der Beschwerdeführerin nicht in das Verfahren zuzulassen.

VIII. Die unabhängigen Ansprüche 1, 2 und 9 des Hauptantrags lauten:

"1. Optisch variables Flächenmuster (10), das zumindest zwei Teilbereiche (17, 18) mit Reflexionselementen (14, 15, 22, 27, 28) aufweist, wobei die Reflexionselemente (14, 22, 27) des ersten Teilbereichs (17) einerseits und die Reflexionselemente (15, 22, 28) des zweiten Teilbereichs andererseits einfallendes Licht in unterschiedliche Reflexionsrichtungen reflektieren,

dadurch gekennzeichnet, dass

der erste Teilbereich (17) so mit einer ersten lasierenden Farbschicht (20, 23, 29) bedeckt ist, dass ein Betrachter, wenn der Betrachtungswinkel, unter dem der Betrachter das optisch variable Flächenmuster (10) betrachtet, geändert wird, bei Erreichen eines ersten Betrachtungswinkels (alpha1) den ersten Teilbereich (17) in einer ersten Farbe und bei Erreichen eines zweiten Betrachtungswinkels (alpha2) den zweiten Teilbereich (18) in einer von der ersten Farbe verschiedenen zweiten Farbe leuchten sieht, wobei der zweite Teilbereich (18) mit einer zweiten lasierenden Farbschicht (21, 23, 29) bedeckt ist, die sich von der ersten lasierenden Farbschicht (20, 23, 29) im Farbton unterscheidet, und wobei die Reflexionselemente (14, 15, 22, 27, 28) achromatisch reflektieren und durch Reliefstrukturen mit strahlenoptisch wirkenden reflektierenden Facetten gebildet sind, die als regelmäßige Sägezahngitter ausgebildet sind und wobei zumindest ein weiterer Teilbereich mit Reflexionselementen vorgesehen ist, der mit einer weiteren lasierenden Farbschicht bedeckt ist, wobei die Reflexionselemente des weiteren Teilbereiches so orientiert sind, dass der Betrachter, wenn der Betrachtungswinkel geändert wird, bei Erreichen eines weiteren Betrachtungswinkels den weiteren Teilbereich in einer von der ersten und/oder zweiten Farbe verschiedenen Farbe leuchten sieht, und wobei eine Abfolge der Farben der beim Ändern des Betrachtungswinkels nacheinander leuchtenden Teilbereiche (17, 18) einen Farbwechsel in die und/oder aus der Farbe Weiß enthält, und wobei die erste lasierende Farbschicht (20, 23, 29) zu den Reflexionselementen (14, 22, 27) des ersten Teilbereichs (17) eine Registergenauigkeit von kleiner als 200 µm, bevorzugt kleiner als 50 µm und besonders bevorzugt kleiner als 10 µm aufweist."

"2. Optisch variables Flächenmuster (10), das zumindest zwei Teilbereiche (17, 18) mit Reflexionselementen

(14, 15, 22, 27, 28) aufweist, wobei die Reflexionsele­mente (14, 22, 27) des ersten Teilbereichs (17) einerseits und die Reflexionselemente (15, 22, 28) des zweiten Teilbereichs andererseits einfallendes Licht in unterschiedliche Reflexionsrichtungen reflektieren,

dadurch gekennzeichnet, dass

der erste Teilbereich (17) so mit einer ersten lasierenden Farbschicht (20, 23, 29) bedeckt ist, dass ein Betrachter, wenn der Betrachtungswinkel, unter dem der Betrachter das optisch variable Flächenmuster (10) betrachtet, geändert wird, bei Erreichen eines ersten Betrachtungswinkels (alpha1) den ersten Teilbereich (17) in einer ersten Farbe und bei Erreichen eines zweiten Betrachtungswinkels (alpha2) den zweiten Teilbereich (18) in einer von der ersten Farbe verschiedenen zweiten Farbe leuchten sieht, wobei der zweite Teilbereich (18) mit einer zweiten lasierenden Farbschicht (21, 23, 29) bedeckt ist, die sich von der ersten lasierenden Farb­schicht (20, 23, 29) im Farbton unterscheidet und wobei die Reflexionselemente (14, 15, 22, 27, 28) achroma­tisch reflektieren und durch ausgerichtete Pigmente einer Druckfarbe realisiert sind."

"9. Verwendung eines optisch variablen Flächenmusters (10) nach einem der obigen Ansprüche als Sicherheits­element, insbesondere als Sicherheitselement für ein Sicherheitspapier, Wertdokument oder dergleichen."

IX. Der Vortrag der Parteien zu den entscheidungsrelevanten Fragen lässt sich wie folgt zusammenfassen:

a) Zulassung des Hauptantrags

i) Beschwerdeführerin (Patentinhaberin)

Der Antrag sei zulässig. Der Hauptantrag sei aus dem erstinstanzlichen Hilfsantrag 8 durch die Streichung einer Alternative in Anspruch 1 hervorgegangen. Gemäß der Entscheidung T 1151/18 stelle die Streichung einer Alternative aus einem unabhängigen Anspruch jedoch keine Änderung des Beschwerdevorbringens dar.

Der Hauptantrag entspreche fast zur Gänze einem erst­instanzlichen Hilfsantrag. Da die Einspruchs­abteilung während der mündlichen Verhandlung ihre vorläufige Meinung geändert habe, sei es angemessen, eine minimale Anpassung des Antrags zuzu­las­sen. Dies sei auch der Verfahrensökonomie zuträglich, da der Hauptantrag alle Einwände ausräume. Die Beschwerde­geg­nerinnen hätten keine substantiierten Einwände gegen diesen Antrag erhoben. Er sei also zuzulassen, zumal das Verfahrens­stadium gemäß Artikel 12 (4) VOBK noch deutlich vor jenem von Artikel 13 (2) VOBK liege. Die genannte Rechtsprechung sei also erst recht anwendbar.

ii) Beschwerdegegnerinnen (Einsprechende)

Der Hauptantrag sei ein neuer Antrag, der erstinstanz­lich nicht vorlag. Es lägen eindeutig Änderungen bezüg­lich des erstinstanzlichen Hilfsantrags 8 vor. Es stel­le sich somit die Frage der prima facie Zulässigkeit. Der Antrag sei nicht prima facie gewährbar, da ein Widerspruch zwischen den Ansprüchen 1 und 7 bestehe, was seine Klarheit und Ausführbarkeit in Frage stelle.

Der Antrag hätte im Einspruchsverfahren eingereicht werden können. Die von der Beschwerdeführerin zitierte Rechtsprechung sei anders gelagert als der gegenwärtige Fall und daher nicht einschlägig.

Darüber hinaus sei der Gegenstand des Hauptantrags nicht erfinderisch. Das Unterscheidungsmerkmal zum Stand der Technik bestehe in der beanspruchten Regis­ter­genauigkeit von 200 mym. Es handle sich dabei um ein Verfahrensmerkmal. Wenn man den Bezugspunkt nicht kenne, könne man nicht wissen, ob man richtig positio­niert sei oder nicht. Der Anspruch verlange lediglich, eine bestimmte Registergenauigkeit der ersten Farb­schicht "zu den Reflexionselementen des ersten Teilbe­reichs", lasse aber offen, welches Reflexions­element gemeint sei. Der Fachmann könne also ein beliebiges Element des ersten Teilbereichs wählen. Das Unterschei­dungsmerkmal habe daher keine einschränkende Wirkung. Das Patent selbst offenbare in Absatz [0014], dass die Farbschichten sich teilweise über einen anderen Teil­bereich erstrecken können als jenem, dem sie zugeordnet sind. Dem fertigen Flächenmuster sei nicht anzusehen, mit welcher Registergenauigkeit es hergestellt wurde. Zudem sei festzustellen, dass das Patent keinen Vorteil des Werts von 200 mym offenbare. Dieser Wert sei groß im Vergleich zu den Elementen (vorzugsweise zwischen 5 und 20 mym). Da kein technischer Effekt feststellbar sei, fehle es dem Merkmal am technischen Charakter.

Der Fachmann, der die Fig. 8 der Druckschrift D21 be­trachte, erkenne, dass die Grenze zwischen den Farb­schich­ten 18 und 19 an der Spitze eines Sägezahns positioniert wurde.

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Er verstehe, dass der Verfasser der Druckschrift D21 bereits eine präzise Positionierung angestrebt habe. Die Druckschrift D21 offenbare, dass das dekorative Element durch Drucken hergestellt werden könne (siehe Seite 1, rechte Spalte, Zeile 37).

Die Druckschrift D22 betreffe Sicherheitselemente mit einer Prägestruktur und verweise auf verschiedene Druck­techniken (siehe Anspruch 27). Ihre Fig. 2 zeige, dass diese Techniken es ermöglichen, die Tinte 7 genau auf den Facetten zu positionieren.

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Die Druckschrift D22 offenbare auch die Größenordnung des Reliefs, das ca. doppelt so breit wie tief sei, wobei die Tiefe zwischen 10 und 250 mym variiere (siehe Seite 16, Zeilen 13 bis 15). Die Druckschrift D22 bestätige somit, dass der Wert von 200 mym bei der Ver­wendung konventioneller Drucktechniken nicht außer­ge­wöhnlich sei. Dieser willkürlich gewähl­te Wert könne also keine erfinderische Tätigkeit begründen. Es sei allgemein bekannt, dass Tintenstrahl-Drucker eine Präzision von 600 dpi, d.h. 40 mym, aufwiesen.

b) Zulässigkeit des Klarheitseinwands

i) Beschwerdeführerin (Patentinhaberin)

Es sei nicht zu erkennen, wie das Merkmal, das aus der Beschreibung aufgenommen wurde (nämlich die Ausbildung als Sägezahn­gitter), im Widerspruch zum Merkmal des Anspruchs 7 stehe. Ein möglicher Widerspruch zwischen den Merkmalen, die aus den erteilten Ansprü­chen 1

bis 5, 12 und 17 stammen, könne gemäß der Entscheidung G 3/14 der Großen Beschwerdekammer im Einspruchs­verfahren nicht als Klarheitseinwand geltend gemacht werden. Dieser Einwand hätte daher von der Einspruchs­abteilung gar nicht erhoben werden dürfen.

ii) Beschwerdegegnerinnen (Einsprechende)

Es bestehe unzweifelhaft ein Widerspruch zwischen den

Ansprüchen 1 und 7, der Zweifel an der Ausführbarkeit der Erfindung wecke. Da nicht alle Anspruchsmerkmale aus den erteilten Ansprüchen stammen, sondern auch Elemente aus der Beschreibung aufgenommen wurden (näm­lich die Ausbildung als regelmäßige Sägezahn­git­ter), sei es möglich, Klarheitseinwände geltend zu machen. Die Ausbildung als Sägezahn­git­ter trage zur Unklarheit bei. Den Punkten 8 und 9 der Gründe für die angefoch­tene Entscheidung sei diesbezüglich zuzustimmen.

c) Substantiierung des schriftlichen Vortrags zur erfinderischen Tätigkeit

i) Beschwerdeführerin (Patentinhaberin)

Die Beschwerdeerwiderungen der Beschwerdegegnerinnen seien im Zusammenhang mit dem damaligen Hilfsantrag 17 ungenügend substantiiert.

Die Beschwerdegegnerin III beschränke sich auf die Feststellung, dass ein Einwand gemäß Artikel 123 (2) EPÜ erhoben werde (vgl. Seite 41, zweiter Absatz, der Beschwerdeerwiderung vom 25. Februar 2022).

Die Beschwerdegegnerin II habe Fol­gendes vorgetragen (siehe Seite 11 der Beschwerde­erwiderung vom 28. Februar 2022):

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Der Rückbezug auf erstinstanzliche Vorbringen sei nicht zulässig. Darüber mache ein pauschaler Verweis auf Druckschriften ohne genaue Bezugnahmen auf Textstellen es für die Beschwerdeführerin unmöglich, festzustellen, worin der Einwand genau liege. Gemäß der gefestigten Rechtsprechung müsse bei einem Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit eine logische Argumentations­kette vorliegen. Dies sei hier klar nicht der Fall.

Die Beschwerdegegnerin I habe auf Seite 14 ihrer Beschwerdeerwiderung nur Folgendes vorgetragen:

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Ihr Vortrag zum Hilfsantrag 8 lautete wie folgt (siehe Seite 13 der Beschwerdeerwiderung):

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Auch hier finde sich nur ein Verweis auf die Ein­spruchs­schrift, was gemäß der Rechtsprechung nicht zulässig sei. Die Verweise auf den Stand der Technik seien pauschal. Man finde hier also keine logische Argumentationskette, die es erlaube, nachzuvollziehen, worin die Einwände tatsächlich bestünden.

ii) Beschwerdegegnerinnen (Einsprechende)

Die Beschwerdegegnerin I habe in ihrem schriftlichen Vortrag durchaus geltend gemacht, dass die beanspruchte Registergenauigkeit keine erfinderische Tätigkeit rechtfertigen könne. Sie habe in diesem Zusammenhang auf die Größe der Facetten in der Druckschrift D22 hingewiesen.

d) Zulassung des mündlichen Vortrags zur erfinderischen Tätigkeit

i) Beschwerdeführerin (Patentinhaberin)

Die während der mündlichen Verhandlung vorgetragene Argumentation der Beschwerdegegnerinnen sei bislang im Beschwerdeverfahren nicht geltend gemacht worden. Die Beschwerdeführerin habe als Reaktion auf die Mitteilung der Kammer ihren Vortrag zur erfinderischen Tätigkeit ergänzt (siehe den Schriftsatz vom 17. August 2023, Punkt V.b)). Die Beschwerdegegnerinnen hätten darauf nicht reagiert und auch in der mündlichen Verhandlung keine Argumentation im Sinne des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes vorgetragen.

ii) Beschwerdegegnerinnen (Einsprechende)

Die ergänzenden Ausführungen zur erfinderischen Tätig­keit, die während der mündlichen Verhandlung vorge­bracht wurden, würden eine Antwort auf den Schriftsatz der Beschwerdeführerin vom 17. August 2023 darstellen. Auch die Beschwerde­führerin habe ihren Vortrag erst kurz vor der mündlichen Ver­hand­lung ergänzt, nachdem die Kammer in ihrer Mitteilung zu erkennen gegeben habe, dass sie die Frage der erfinde­rischen Tätigkeit kritisch sehe. Die mündlichen Ausführungen der Beschwer­de­geg­nerinnen seien als Reaktion auf diese neuen Argumente zuzulassen.

Entscheidungsgründe

1. Vorbemerkungen

Alle nachfolgenden Bezüge auf Bestimmungen der Verfah­rensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) beziehen sich auf die am 1. Januar 2020 in Kraft getretene Fassung.

Wie mit Schrei­ben vom 24. August 2023 angekündigt, war die ordnungsgemäß geladene Beschwer­de­gegnerin II in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten. Gemäß Regel 115 (2) EPÜ und Artikel 15 (3) VOBK wurde das Verfahren ohne sie fortgesetzt, und sie wurde so behandelt, als stützte sie sich lediglich auf ihr schriftliches Vorbringen.

2. Gegenstand des Hauptantrags

Der Hauptantrag entspricht im Wesentlichen dem Hilfs­antrag 8, der der Einspruchsabteilung vorlag und in Punkt 9 der Gründe für die angefochtene Entscheidung für "nicht zulässig im Sinne der Artikel 83, 84, 123 (2) und (3) EPÜ" befunden wurde.

Der wesentliche Unterschied zwischen Anspruch 1 des nunmehrigen Hauptantrags und Anspruch 1 des Hilfs­an­trags 8, der der Einspruchsabteilung vorlag, besteht darin, dass letzterer eine weitere Alternative ent­hielt, der zufolge "für den Betrachter ein wandernder Lichtreflex sichtbar ist, der gleichzeitig seine Farbe ändert". Diese Alternative wurde in Anspruch 1 des Hauptantrags ersatzlos gestrichen.

Durch diese Streichung wurde den Einwänden der Ein­spruchs­abteilung gemäß den Artikeln 83 und 123 EPÜ die Grundlage entzogen.

3. Zulassung des Hauptantrags

Die Einreichung des Hauptantrags mit der Beschwerde­begründung stellt eine gerechtfertigte Reaktion auf die Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Hilfsantrag 8 dar. Die vorgenommenen Änderungen räumen fast alle Ein­wände der Einspruchsabteilung aus.

Den Beschwerdegegnerinnen ist zuzustimmen, dass der Antrag als solcher neu ist und dass die Patentinhaberin ihn im Prinzip auch bereits während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchs­abteilung hätte einreichen können. Es ist jedoch nachvollziehbar, dass im vorliegenden Fall die Einreichung des geänderten Antrags erst bei Kenntnis der genauen Gründe für die Zurückweisung des früheren Hilfsantrags 8 möglich war.

Dass der Gegenstand des Hauptantrags prima facie nicht gewährbar ist, erschließt sich der Kammer nicht. Der Antrag räumt alle Einwände der Einspruchsabteilung aus, mit Ausnahme des Klarheitseinwands, auf den nachfolgend noch eingegangen wird (siehe Punkt 4.). Dass der Gegen­stand des Antrags nicht erfinderisch ist, ist nicht offenkundig, zumal die entsprechenden Einwände der Beschwerdegegnerinnen eine materielle Bewertung des Gegenstands des Hauptantrags erfordern würden, die weit über das Maß dessen hinausgehen, was im Rahmen der Prüfung der prima facie Gewährbarkeit berücksichtigt werden kann, und diese Einwände zudem erst in der mündlichen Verhand­lung vor der Beschwerdekammer substantiiert vorgetragen wurden (siehe dazu die nachfolgenden Punkte 5. und 6.).

Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin durch die Streichung einer Alternative in Anspruch 1 keinen neuen Streitgegenstand eingeführt, sondern den Streit­stoff reduziert, sodass die Änderung der Verfahrens­ökonomie keineswegs schadet, sondern sie vielmehr begünstigt. Die Kammer hat daher beschlossen, den Hauptantrag gemäß Artikel 12 (4) VOBK in das Beschwer­de­verfahren zuzulassen (siehe z.B. auch T 1439/16, Punkt 2 der Entscheidungsgründe). Da sie sich dafür nicht auf die von der Beschwerdeführerin zitierte Rechtsprechung stützt (wie z.B. die Entscheidung T 1151/18), erübrigt es sich zu unter­suchen, ob letztere hier einschlägig ist. Es sei nur angemerkt, dass für die Kammer nicht nachvollziehbar ist, wie die Einreichung eines Antrags, der mehrere Einwände gegen einen im Beschwerdeverfahren befind­li­chen Antrag ausräumt, keine Änderung des Beschwerde­vorbringens im Sinne von Artikel 12 (4) VOBK sein könnte. In dieser Hinsicht verweist die Kammer auch auf die Entscheidung T 1058/20, Punkt 1.3.3.(a) der Entscheidungsgründe.

4. Zulässigkeit des Klarheitseinwands

Bei der Zurückweisung des Hilfs­antrags 8 hat sich die Einspruchsabteilung auf die Gründe für die Zurück­weisung des Hilfs­antrags 6 berufen (siehe Punkt 9 der Gründe für die angefochtene Entscheidung). In Punkt 8.1 der Gründe für die angefochtene Entscheidung hat sie den Anspruch 8 des Hilfs­antrags 6 für unklar befunden und dies wie folgt begründet.

"... Des Weiteren beansprucht Anspruch 8, dass die Farben, die die Teilbereiche für den Betrachter bei Betrachtung aufweisen, unabhängig vom Betrachtungswinkel sind.

Dies steht jedoch im Widerspruch zu den Merkmalen von Anspruch 1, wobei der Betrachter, wenn der Betrachtungswinkel geändert wird, bei Erreichen eines weiteren Betrachtungswinkels den weiteren Teilbereich in einer von der ersten und/oder zweiten Farbe verschiedenen Farbe leuchten sieht, und wobei eine Abfolge der Farben der beim Ändern des Betrachtungswinkels nacheinander leuchtenden Teilbereiche einen Farbwechsel in die und/oder aus der Farbe Weiß enthält und/oder für den Betrachter ein wandernder Lichtreflex sichtbar ist, der gleichzeitig seine Farbe ändert.

Somit entspricht der Hilfsantrag 6 auch nicht den Erfordernissen des Artikels 84 EPÜ." (Hervorhebungen durch die Einspruchsabteilung)

Die Kammer stellt fest, dass dieser Klarheitseinwand auf einem Widerspruch beruht, der als solcher bereits zwischen den erteilten Ansprüchen 4 und 17 bestand. Das aus der Beschreibung aufgenommene Merkmal, dem zufolge die Ausbildung der Relief­struktu­ren als regelmäßige Sägezahngitter ausgebildet sind, hat keinen für die Kammer erkenntlichen Einfluss auf den genannten, bereits in der erteilten Fassung der Ansprüche exis­tie­renden Widerspruch und ruft auch keinen anderen Klarheits­mangel hervor.

In Anwendung der Entscheidung G 3/14 der Großen Beschwer­dekammer war der von der Einspruchsabteilung erhobene Einwand der mangelnden Klarheit daher unzu­lässig und hätte nicht erhoben werden dürfen. Aus den­selben Gründen kann auch die Kammer den Anspruch 7 des Hauptantrags nicht auf die Erfordernisse des

Artikels 84 EPÜ prüfen.

5. Substantiierung des schriftlichen Vortrags zur erfinderischen Tätigkeit

Der schriftliche Vortrag der Beschwerdegegnerinnen zum

nunmehrigen Hauptantrag, der als Hilfsantrag 17 mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurde, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

5.1 Beschwerdegegnerin I

Auf Seite 14 ihrer Beschwerdeerwiderung vom 25. Februar 2022 machte die Beschwerdegegnerin I geltend, dass der Gegenstand des Hilfsantrags 17 aus denselben Gründen wie der Gegenstand des Hilfsantrags 8 nicht erfinderisch sei. Im Zusammenhang mit letzterem führte sie aus, dass, wie in den Einspruchsschriften dargelegt wurde, die beanspruchte Registergenauigkeit gegenüber der in der Druckschrift D12 offenbarten Toleranz und Registergenauigkeit bzw. dem in D22 offenbarten Querabmessung nicht erfinderisch sei.

Dies kann nicht als substantiierter Vortrag gelten.

Gemäß Artikel 12 (1) VOBK sind erstinstanzliche Vor­träge der Parteien, wie z.B. die Einspruchs­schrif­ten, nicht automatisch im Beschwerdeverfahren. Darüber hinaus schreibt Artikel 12 (3) VOBK vor, dass die Beschwerdebegründung bzw. die Erwiderung das voll­ständige Beschwerdevorbringen enthalten und deutlich und knapp angeben soll, aus welchen Gründen die ange­fochtene Entscheidung aufzuheben oder zu bestätigen sei. Daraus folgt, dass ein pau­scha­ler Ver­weis auf Ausführungen in den Einspruchs­schrift­sätzen ohne explizite Erläuterungen in der Beschwerde­begrün­dung bzw. der Erwiderung kein ausreichend substantiiertes Vorbringen darstellt (siehe z.B. T 276/17, Punkt 3.1.5 der Entscheidungsgründe).

5.2 Beschwerdegegnerin II

Auf Seite 11 ihrer Beschwerdeerwiderung nahm die Beschwer­degegnerin II zum damaligen Hilfsantrag 17 Stel­lung und trug vor, dass sein Anspruch 1 dem Anspruch 1 des Hilfsantrags 15 entspreche, mit der zusätzlichen Hinzufügung des erteilten Anspruchs 17. Sie bezog sich dann auf Abschnitt 5.14 ihrer Ein­spruchsschrift, der zufolge dieser Gegen­stand in der Druckschrift D22 offenbart sei. Folglich fehle dem Gegen­stand von Anspruch 1 angesichts des allgemeinen Fach­wissens jede erfinderische Tätigkeit gegenüber den Druckschriften D21 und D22.

Dieser Vortrag stützt sich zum einen auf erst­instanz­liche Schriftsätze und beschränkt sich zum anderen auf pauschale Verweise auf das allgemeine Fachwissen. Auch die geltend gemachte Kombination der Druckschriften D21 und D22 wird nicht gerechtfertigt. Ein solcher Vortrag erlaubt es der Kammer und der Beschwerdeführerin nicht, festzustellen, warum es dem Gegenstand von Anspruch 1 in den Augen der Beschwerdegegnerin II an der erfinde­ri­schen Tätigkeit fehlt. Er kann daher nicht als ein substantiierter Angriff im Sinne von Artikel 12 (3) VOBK gelten.

5.3 Beschwerdegegnerin III

Die Beschwerdegegnerin III hat sich darauf beschränkt festzustellen, dass sie einen Einwand nach Artikel 123 (2) EPÜ gegen den Hilfsantrag 17 erhebe. Dieser Einwand wurde nicht näher erläutert (vgl. Seite 41, zweiter Absatz, der Beschwerdeerwiderung

vom 25. Februar 2022). Einen Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit hat die Beschwerdegegnerin III im schriftlichen Verfah­ren nicht erhoben, geschweige denn substantiiert.

5.4 Ergebnis

Angesichts dieser Sachlage stellt die Kammer fest, dass die Beschwerdegegnerinnen den Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gegen den Hauptantrag im schriftlichen Verfahren nicht hinreichend substantiiert haben (Artikel 12 (3) VOBK).

6. Zulassung des mündlichen Vortrags zur erfinderischen Tätigkeit

Die Beschwerdegegnerin I hat während der mündlichen Verhandlung ihren Vortrag bezüglich des von ihr erhobe­nen Einwands der mangelnden erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands des Hauptantrags im Zusammenhang mit der Frage der Zulässigkeit des Hauptantrags ergänzt (siehe dazu Punkt IX.a)ii) oben). Sie hat dies damit gerechtfertigt, dass diese ergänzenden Ausführungen eine Reaktion auf den kurz vor der mündlichen Ver­hand­lung eingereichten Schriftsatz der Beschwerdeführerin vom 17. August 2023 darstellen würden.

Die Kammer kann sich diesem Vortrag nicht anschließen. Es ist zutreffend, dass die Kammer in Punkt 26 ihrer Mitteilung vom 21. Juli 2023 festgestellt hat, dass sie noch Diskussionsbedarf zur Frage der erfinderischen Tätigkeit des Hilfsantrags 17 sehe. Die Beschwerde­führerin hat darauf in Punkt V.b) ihres Schriftsatzes vom 17. August 2023 reagiert. Die Beschwerdegegnerin I hingegen hat nicht schriftlich reagiert, sondern hat ihre - komplexe - Argumentation zur erfinderischen Tätigkeit erst während der mündlichen Verhandlung vorgetragen. Damit hat sie die Kammer und die Beschwer­deführerin gehindert, sich vor der mündlichen Verhand­lung mit dieser Argumentation auseinanderzu­setzen. Eine vollständige Argumentation im Sinne des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes wurde überhaupt erstmals in der münd­li­chen Ver­handlung vorgetragen, obwohl die Kammer die Parteien auf das Vorhandensein einer Lücke im Vortrag hingewiesen hatte. Die Kammer kann keine außer­ge­wöhn­lichen Umstände erkennen, die dieses Verhal­ten recht­fer­tigen könnten. Insbesondere kann eine vorläufige Meinung der Kammer nicht als Rechtfertigung oder gar Aufforderung verstanden werden, einen Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit erst in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar zu begründen. Aus diesen Gründen hat die Kammer entschie­den, den Vortrag der Beschwerdegegnerinnen I und III in der mündlichen Verhandlung zur erfinderi­schen Tätigkeit in Anwendung von Artikel 13 (2) VOBK nicht in das Verfahren zuzulassen.

7. Ergebnis

Der Hauptantrag wird in das Beschwerdeverfahren zugelassen (siehe Punkt 3.). Dieser Hauptantrag beruht auf dem der Einspruchsabteilung vorliegenden Hilfs­antrag 8. Er räumt alle von der Einspruchs­abteilung gegen den Hilfsantrag 8 erhobenen Einwände aus, mit Ausnahme eines Klarheitseinwands, den die Einspruchs­abteilung nicht hätte erheben dürfen (siehe Punkt 4.). Die Beschwerde­gegnerinnen haben schriftlich Einwände der man­geln­den erfinde­rischen Tätigkeit gegen den nunmeh­ri­gen Hauptantrag erhoben, diese aber unzurei­chend substan­ti­iert (siehe Punkt 5.). Die ergänzenden Ausführungen, die erst während der mündlichen Verhandlung eingereicht wurden, werden nicht in das Verfahren zugelassen (siehe Punkt 6.).

Es ist daher festzustellen, dass kein substantiierter Einwand gegen den Hauptantrag besteht.

Somit ist das Patent auf Grundlage des Hauptantrags aufrechtzuerhalten.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent mit folgenden Ansprüchen und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrecht­zuerhalten: Ansprüche 1 bis 10 gemäß Hauptantrag, eingereicht mit der Beschwerdebegründung als Hilfsantrag 17.

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