T 0559/21 () of 29.11.2023

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2023:T055921.20231129
Datum der Entscheidung: 29 November 2023
Aktenzeichen: T 0559/21
Anmeldenummer: 14169949.6
IPC-Klasse: B60T 7/12
B60T 8/17
B60T 13/66
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Gewichtsunabhängige Sicherheitsbremse
Name des Anmelders: Beutler, Jörg
Name des Einsprechenden: KNORR-BREMSE
Systeme für Schienenfahrzeuge GmbH
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(2)
European Patent Convention Art 56
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 011
European Patent Convention Art 111(1)
European Patent Convention Art 123(2)
European Patent Convention Art 84
Schlagwörter: Neuheit - Hauptantrag (nein)
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (ja)
Zurückverweisung - (nein)
Änderungen - unzulässige Erweiterung
Änderungen - Hilfsantrag (nein)
Patentansprüche - Klarheit
Patentansprüche - Hilfsantrag (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 2839/19
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, wonach das Streitpatent in der geänderter Fassung des in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung gestellten Hilfsantrags 1 EPÜ-konform ist.

II. Folgende Entgegenhaltungen sind für diese Entscheidung relevant:

E1: WO 2013/021012 A1, und

E5: "Feedback Control of Braking Deceleration on

Railway Vehicle", M. Nankyo, T. Ishihara, H.

Inooka, 06.2006.

III. In ihrer Entscheidung stellte die Einspruchsabteilung unter anderem fest, dass der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß dem Hilfsantrag 1, der dem erteilten Anspruch 1 entspricht, neu gegenüber E1 sei.

IV. Am 29. November 2023 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) beantragte die Beschwerde der Einsprechenden zurückzuweisen (Hauptantrag) hilfsweise falls dem Hauptantrag nicht stattgegeben wird, die Sache zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen. Des Weiteren beantragte sie das Patent in geändertem Umfang auf der Grundlage des Hilfsantrags 3c eingereicht während der mündlichen Verhandlung aufrechtzuerhalten.

V. Die unabhängigen Ansprüche 1 und 9 gemäß Hauptantrag lauten wie folgt (Merkmalsgliederung der Einsprechenden):

1a 1. Schienengebundenes Fahrzeug (1), umfassend eine am

Fahrzeug (1) angeordnete Bremseinrichtung (2, 3, 4),die eine Bremse (2) und eine Bremssteuerungseinrichtung

(3) zur Regelung des Bremsvorgangs aufweist,

dadurch gekennzeichnet, dass

1b die Bremseinrichtung einen Sensor (4) zur Messung einer

Bremsverzögerung des Fahrzeugs (1) aufweist, und

1c die Bremssteuerungseinrichtung (3) derart ausgebildet

ist, dass sie die Bremswirkung der Bremse (2) in Abhängigkeit von der gemessenen Bremsverzögerung derart einstellt, dass

1d über einen bestimmten Bremsvorgang eine

vordefinierte Bremsverzögerung über eine Strecke, oder abhängig von der Position des Fahrzeugs oder abhängig von der Zeit erzielt wird, wobei

1e eine vorgegebene maximale Bremsverzögerung nicht

überschritten wird.

9. Verfahren zum Abbremsen eines Fahrzeugs (1) nach einem der vorhergehenden Ansprüche, umfassend die Schritte:

a) Messung einer Bremsverzögerung des Fahrzeugs (1) mittels eines Beschleunigungssensors (4);

b) Regelung der Bremsverzögerung durch Betätigen der Bremse (2) derart, dass die Bremsverzögerung einen vorgegebenen Sollwert annimmt, wobei eine vorgegebene maximale Bremsverzögerung nicht überschritten wird, wobei über einen bestimmten Bremsvorgang eine vordefinierte Bremsverzögerung über eine Strecke, oder abhängig von der Position des Fahrzeugs oder abhängig von der Zeit erzielt wird.

Die Ansprüche 1 und 9 des Patents in geänderter Fassung gemäß Hilfsantrag 3c lauten (Änderungen gegenüber dem Anspruch 1 bzw. 9 des Hauptantrags unterstrichen und durchgestrichen durch die Kammer):

1. Schienengebundenes Fahrzeug (1), umfassend eine am Fahrzeug (1) angeordnete Bremseinrichtung (2, 3, 4),die eine Bremse (2) und eine Bremssteuerungseinrichtung (3) zur Regelung des Bremsvorgangs aufweist,

dadurch gekennzeichnet, dass

die Bremseinrichtung einen Sensor (4) zur Messung einer Bremsverzögerung des Fahrzeugs (1) aufweist,

in der Bremssteuerungseinrichtung (3) ein zeit- oder ortsabhängiges Soll-Beschleunigungsprofil hintergelegt ist, und

die Bremssteuerungseinrichtung (3) derart ausgebildet ist, dass sie die Bremswirkung der Bremse (2) in Abhängigkeit von der gemessenen Bremsverzögerung derart einstellt, dass über einen bestimmten Bremsvorgang eine vordefinierte Bremsverzögerung [deleted: über eine Strecke, oder] gemäß dem zeitabhängigen Soll-Beschleunigungsprofil abhängig von der Zeit bzw. dem ortsabhängiges Soll-Beschleunigungsprofil abhängig von der Position des Fahrzeugs [deleted: oder abhängig von der Zeit] erzielt wird, wobei eine vorgegebene maximale Bremsverzögerung nicht

überschritten wird.

9. Verfahren zum Abbremsen eines Fahrzeugs (1) nach einem der vorhergehenden Ansprüche, umfassend die Schritte:

c) Messung einer Bremsverzögerung des Fahrzeugs (1) mittels eines Beschleunigungssensors (4);

d) Regelung der Bremsverzögerung durch Betätigen der Bremse (2) derart, dass die Bremsverzögerung einen vorgegebenen Sollwert annimmt, wobei eine vorgegebene maximale Bremsverzögerung nicht überschritten wird, wobei über einen bestimmten Bremsvorgang eine vordefinierte Bremsverzögerung [deleted: über eine Strecke, oder] abhängig von der Position des Fahrzeugs gemäß einem in der Bremssteuerungseinrichtung (3) hintergelegten ortsabhängigen Soll-Beschleunigungsprofil oder abhängig von der Zeit gemäß einem in der Bremssteuerungseinrichtung (3) hintergelegten zeitabhängigen Soll-Beschleunigungsprofil erzielt wird.

Entscheidungsgründe

Hauptantrag - aufrechterhaltene Fassung

1. Neuheit - Artikel 100(a) und 56 EPÜ

1.1 Der Gegenstand von Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag, der dem erteilten Anspruch 1 entspricht, ist gegenüber der schienengebundenen Fahrzeug von E1 nicht neu.

1.2 Die Merkmale 1e und 1d des Anspruchs 1 waren zwischen den Parteien strittig, nämlich dass

"über einen bestimmten Bremsvorgang eine vordefinierte Bremsverzögerung über eine Strecke, oder abhängig von der Position des Fahrzeugs oder abhängig von der Zeit erzielt wird, wobei eine vorgegebene maximale Bremsverzögerung nicht überschritten wird."

Der Beschwerdegegner machte im Wesentlichen geltend, eine "vordefinierte Bremsverzögerung" nach Anspruch 1 und im technischen Kontext des Patents entspreche einer vorgegebenen Bremsverzögerung. Diese vordefinierte Bremsverzögerung sei im System hinterlegt, vorgespeichert. Weiterhin lege Merkmal 1e eine Abhängigkeit dieser vordefinierten Bremsverzögerung von der Strecke, der Position oder der Zeit fest, so dass eine situative Vorgabe einer Bremsverzögerung durch den Fahrer wie im Notbremsmodus in E1 ausgeschlossen sei. Vielmehr ergebe sich aus der Strecken-, Positions- oder Zeitabhängigkeit zwangsläufig ein vordefiniertes Beschleunigungsprofil, dessen Auslösung nicht situativ veränderbar sei bzw. stattfinde, sondern zunächst im System vorhanden sei (vgl. Absatz [0045] der Patentschrift).

In E1 sei zudem die maximale Bremsverzögerung nicht vorgegeben, da sie nicht hintergelegt werde. Die vorgegebene maximale Bremsverzögerung könne die physikalisch größte Verzögerung des Systems sein.

1.3 Nach Ansicht der Kammer liegt der Beschwerdegegner den Gegenstand von Anspruch 1 jedoch zu eng aus. Aus dem Merkmal 1d ergibt sich lediglich, dass die Regelung des Bremsvorgangs durch die Bremssteuereinrichtung derart erfolgt, dass über einen bestimmten Bremsvorgang eine vordefinierte Bremsverzögerung über eine Strecke, oder abhängig von der Position des Fahrzeugs oder abhängig von der Zeit erzielt wird. Die vordefinierte Bremsverzögerung stellt somit nur den zu erzielenden Sollwert der Regelung dar. Der von der Bremssteuerungseinrichtung gesteuerte Bremsvorgang kann erst dann mit einem Sollwert verglichen werden, wenn ein Sollwert vorhanden ist, also ein Wert vordefiniert bzw. vorgegeben ist, vorher nicht. Dies ist im Notbremsmodus von E1 der Fall. Wenn dieser Modus aktiviert ist, steuert die Bremssteuerung die Bremseinheit an, um eine Notbremsung mit einer maximalen Bremswirkung in Abhängigkeit von einer vorgegebenen Soll-Verzögerung - entsprechend der maximal möglichen Bremswirkung - zu erzielen, wenn die gemessene Bremsverzögerung die Bedingung im Schritt 114.5 nicht erfüllt (siehe Seite 11, Absatz 5 und Seite 13, Absatz 2 ff.).

Es wird mit der maximalen Bremsleistung gebremst, um die größtmögliche Bremswirkung zu erzielen. Das heißt, es wird die maximale Bremsverzögerung des Systems genutzt. Diese Bremsverzögerung ist zwangsläufig im System vorgegeben, da, wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, einem Fahrzeug mit einer bestimmten Bremsanlage, die eine bestimmte maximale Bremskraft erzeugen kann, in Verbindung mit einer bestimmten Beladung eine physikalische maximale Bremsverzögerung innewohnt. Diese maximale Bremsverzögerung wird immer durch die Rahmenbedingungen des Fahrzeugs vorgegeben und kann nicht überschritten werden. Merkmal 1e ist somit auch in E1 offenbart.

Gemäß Anspruch 1 ist die vordefinierte Bremsverzögerung zudem einer Strecke, einer Position des Fahrzeugs oder einer Zeit zuzuordnen (vgl. auch Absatz [0013] des Streitpatents). Die Strecke (vgl. Absätze [0010] und [0013] des Streitpatents), die Position und die Zeit bleiben jedoch im Anspruch unspezifiziert und sind somit auch nicht vordefiniert. Folglich ist die von dem Beschwerdegegner behauptete Auslösung der Regelung in Abhängigkeit von einer Strecke, einer Position oder einer Zeit im Anspruch nicht vorhanden. Die Notbremsung in E1 erfolgt über eine Strecke, und zwar bis zum Stillstand des Fahrzeugs. Damit wird zumindest eine vordefinierte Bremsverzögerung über eine Strecke erzielt (Merkmal 1d).

Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist letztlich nicht auf ein Soll-Beschleunigungsprofil beschränkt. Auch ein Sollbeschleunigungswert als vordefinierte/vorgegebene Eingangs- oder Zielgröße der Regelung fällt unter den Gegenstand von Anspruch 1.

Hilfsantrag 3c

2. Zulassung

2.1 Die Kammer hat in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13(2) VOBK (Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, Amtsblatt EPA 2021, A35) den in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsantrag 3c im Beschwerdeverfahren zugelassen.

2.2 Der Hilfsantrag 3c basiert auf dem mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2023 eingereichten Hilfsantrag 3b, der auf dem im Einspruchsverfahren eingereichten Hilfsantrag 3 basiert. Der Beschwerdegegner hat den Hilfsantrag 3 im Beschwerdeverfahren weiterverfolgt (siehe Hilfsanträge in ihrer Beschwerdeerwiderung). In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat der Beschwerdegegner die Hilfsanträge 3, 3a und 3b zurückgenommen.

2.3 In der Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK teilt die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Ansicht der Sache mit, dass der Einwand der unzulässigen Erweiterung, den die Beschwerdeführerin gegen den Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 in der Beschwerdebegründung erhoben hat, in seiner Form nicht überzeugend ist. Insbesondere macht die Beschwerdeführerin geltend, dass ein zeitabhängiges Soll-Beschleunigungsprofils nicht unmittelbar und eindeutig aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung hervorgehe, sondern eine Soll-Beschleunigungskurve.

Darüber hinaus stellte die Kammer fest, dass eine weitere, nicht von der Beschwerdeführerin beanstandete unzulässige Erweiterung vorliegt, nämlich dass der ursprünglich offenbarte technische Zusammenhang zwischen dem Profil und dem verwendeten vordefinierten Wert der Verzögerung für die Regelung fehlt (siehe Punkt 2.3 der Mitteilung).

Daraufhin reichte der Beschwerdegegner am 11. Oktober 2023 einen geänderten Hilfsantrag 3 (Hilfsantrag 3b) ein, um den von der Kammer erhobenen Einwand der unzulässigen Erweiterung für den Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 zu überwinden, und beantragt die Zulassung dieses Hilfsantrags unter Berufung auf außergewöhnliche Umstände nach Artikel 13(2) VOBK.

In der mündlichen Verhandlung wurden die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ für den Hilfsantrag 3b erörtert. Die Beschwerdeführerin wies darauf hin, dass die Änderung ein neues Problem der unzulässigen Erweiterung aufwerfe, nämlich dass die Kreuzkombination der Alternativen (zwei "oder") im folgenden Merkmal von Anspruch 1 des Hilfsantrags 3b keine Grundlage in der ursprünglich eingereichten Anmeldung habe (Unterstreichung durch die Kammer):

"...dass über einen bestimmten Bremsvorgang eine vordefinierte Bremsverzögerung gemäß dem zeit- oder ortsabhängigen Soll-Beschleunigungsprofil abhängig von der Position des Fahrzeugs oder abhängig von der Zeit erzielt wird,...".

Die Kammer schließt sich diesbezüglich der Ansicht der Beschwerdeführerin an.

Als Reaktion darauf reichte der Beschwerdegegner in der mündlichen Verhandlung den Hilfsantrag 3c mit einem geänderten Anspruch 1 ein, um das oben diskutierte Problem zu lösen. Nach Ansicht des Beschwerdegegners seien auch hier die vorliegenden Umstände als außergewöhnlich anzusehen, da Hilfsantrag 3b erstmals in der mündlichen Verhandlung diskutiert werden konnte.

2.4 Die Beschwerdeführerin brachte im Wesentlich vor, dass der Hilfsantrag 3c als verspätet nicht zuzulassen sei. Zum einen sei der Einwand unzulässiger Erweiterung für Anspruch 1 des Hilfsantrags 3, auf dem der Hilfsantrag 3c basiere, bereits Gegenstand der Beschwerdebegründung gewesen. Die Änderungen zu Anspruch 1 hätte der Beschwerdegegner bereits bei der Formulierung von Hilfsantrag 3b vornehmen müssen. Zum anderen sei durch die verspätet einreichten Änderungen eine neue Verfahrenslage entstanden, da der Beschwerdegegner klargestellt habe was unter Schutz gestellt werden solle, was in der früheren Fassung unklar gewesen sei. Der nunmehr spezifizierte Gegenstand hinsichtlich des Profils erfordere eine zusätzliche Recherche. Erst in der mündlichen Verhandlung habe die Beschwerdeführerin den Gegenstand von Anspruch 1 in Bezug auf dem zeit- oder ortsabhängiges Soll-Beschleunigungsprofil verstehen können.

2.5 Gemäß Artikel 13(2) VOBK bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.

2.6 Im vorliegenden Fall ist die Kammer überzeugt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, die der Beschwerdegegner stichhaltig dargelegt hat. Die konsekutive vorgenommene Änderungen zum Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 gemäß den Hilfsanträge 3b und 3c stellen eine legitime Reaktion auf die nacheinander neu erhobenen Einwendungen wegen unzulässiger Erweiterung im Beschwerdeverfahren dar, zunächst durch die Kammer im Rahmen der Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK und anschließend durch die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer. Das Argument der Beschwerdeführerin, der Einwand unzulässiger Erweiterung sei bereits Bestandteil der Beschwerdebegründung, greift nicht, da der diesbezügliche Einwand der Beschwerdeführerin auf eine anderes Merkmal gerichtet war, von dem die Kammer der vorläufigen Auffassung war, dass dieser Einwand nicht begründet ist.

Die Tatsache, dass der Beschwerdegegner zum ersten Mal mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung durch die Kammer auf einen Mangel aufmerksam gemacht wurde, wird im vorliegenden Fall als außergewöhnlicher Umstand im Sinne von Artikel 13(2) VOBK angesehen. Ebenfalls sieht es die Kammer als einen außergewöhnlichen Umstand an, dass Hilfsantrag 3b aus den genannten Gründen erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer diskutiert werden konnte und damit dem Beschwerdegegner erstmals dort die Möglichkeit gegeben wurde auf Beanstandungen zu reagieren, die durch die Änderungen des Hilfsantrags 3b entstanden sind.

Zudem sind die vorgenommenen Änderungen, wie nachstehend erläutert, geeignet, diese neu aufgeworfenen Fragen auszuräumen, und dienen der Verfahrensökonomie, da sie unmittelbar zu einem gewährbaren Antrag führen.

Schließlich führen die Änderungen zu einer neuen Verfahrenssituation nicht, die eine weitere Recherche erforderlich machen würde, da die Beschwerdeführerin bei ihrem Vorbringen zur unzulässigen Erweiterung und zur erfinderischen Tätigkeit für den Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 den Gegenstand hinsichtlich des zeit- oder ortsabhängigen Soll-Beschleunigungsprofils so ausgelegt hat, wie er letztlich in Anspruch 1 des Hilfsantrags 3c spezifiziert worden ist (siehe Beschwerdebegründung Punkte 29 und 30).

3. Zurückverweisungsantrag - Artikel 111(1) EPÜ

3.1 Aus folgenden Gründen und unter Berücksichtigung der Verfahrensökonomie sah die Kammer keine besonderen Gründe, die eine Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung erforderlich machen würden. Der Antrag des Beschwerdegegners auf Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung wurde abgelehnt.

3.2 In der mündlichen Verhandlung kam die Kammer zu dem Schluss, dass der Hauptantrag nicht gewährbar war. Der Beschwerdegegner beantragte die Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung zur weiteren Verfolgung auf der Grundlage der Ansprüche des Hilfsantrags 3c.

Er argumentierte im Wesentlichen, dass die Einspruchsabteilung nicht zu den Hilfsanträgen Stellung genommen habe, die dem der angefochtenen Entscheidung unterliegenden Hilfsantrag 1 untergeordnet seien, und dass die Kammer daher hinsichtlich des Hilfsantrags 3c Fragen zu erörtern und zu entscheiden habe, die von der ersten Instanz überhaupt nicht geprüft worden seien (die Beschwerdeführerin verwies auf T 2839/19).

3.3 Unter Artikel 111(1) EPÜ wird die Beschwerdekammer entweder im Rahmen der Zuständigkeit des Organs tätig, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, oder verweist die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an dieses Organ zurück. Weiterhin unter Artikel 11 VOBK verweist die Kammer die Angelegenheit nur dann zur weiteren Entscheidung an das Organ zurück, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, wenn besondere Gründe dafür sprechen.

3.4 Im vorliegenden Fall sind derartige Gründe nicht vorhanden. Beide Parteien haben bereits in der Beschwerdebegründung und in der Beschwerdeerwiderung zur ursprünglichen Offenbarung und zur erfinderischen Tätigkeit hinsichtlich des Aspekts des zeit- und ortsabhängigen Soll-Beschleunigungsprofils vorgetragen (in Bezug auf Hilfsantrag 3). Da sich die angefochtene Entscheidung nicht nur auf Fragen der unzulässigen Erweiterung beschränkt, sondern sich auch in der Sache mit Neuheit und erfinderischer Tätigkeit auseinandersetzt und keine weiteren Beweismittel als die in der Entscheidung berücksichtigten zur Diskussion standen, hat die Kammer von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht und die Sache nicht an die Vorinstanz zurückverwiesen.

In diesem Zusammenhang weist die Kammer darauf hin, dass es nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern kein absolutes Recht auf zwei Instanzen gibt (vgl. die von der Beschwerdegegnerin zitierte Entscheidung Punkt 4.1 und die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 10. Auflage 2022, V.A.9.2.1).

4. Unzulässige Erweiterung - Artikel 123(2) EPÜ

4.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 geht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht hinaus.

4.2 Der Gegenstand des Anspruchs 1 basiert auf dem Anspruch 1 sowie den Absätzen [0012], [0033] und [0043] der ursprünglich eingereichten Anmeldung (vgl. A-Schrift der Anmeldung).

4.3 Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass der im Anspruch 1 eingefügte Ausdruck bezüglich eines alternativen zeitabhängigen Soll-Beschleunigungsprofils sich nicht unmittelbar und eindeutig aus der ursprünglichen Offenbarung ergebe, da in Absatz [0038] allenfalls von einer "Soll-Beschleunigungskurve" die Rede sei.

Ferner sei die beanspruchte Abhängigkeit des Soll-Beschleunigungsprofil von der Fahrzeugposition nicht in gleicher Weise ursprünglich offenbart sei. Nach dem Wortlaut des Anspruchs könnten für verschiedene Fahrzeugpositionen unterschiedliche ortsabhängige Soll-Beschleunigungsprofile hinterlegt sein. Dies sei nicht ursprünglich offenbart, da in der ursprünglich eingereichten Anmeldung ein einziges Profil in Abhängigkeit von der Position des Fahrzeugs offenbart sei.

Schließlich könne Absatz [0012] der ursprünglich eingereichten Anmeldung nicht als Grundlage für die Änderungen dienen, da der letzte Satz dieses Absatzes im Widerspruch zu Anspruch 1 stehe. Insbesondere werde dort eine orts- oder zeitabhängiges Bremskraftprofil (eine Funktion der Bremskraft) offenbart und nicht ein orts- oder zeitabhängiges Soll-Beschleunigungsprofil.

4.4 Dies ist aus folgenden Gründen nicht überzeugend:

Zum einen ist in den Absätzen [0033] und [0043] der ursprünglich eingereichten Anmeldung unmittelbar und eindeutig von einem Soll-Beschleunigungsprofil die Rede und nicht nur von einer Soll-Beschleunigungskurve. Vielmehr geht aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung hervor, dass das Soll-Beschleunigungsprofil eine beliebige Funktion sein kann, die z.B. konstante Intervalle aufweisen kann.

Was das Argument der unterschiedlichen Soll-Beschleunigungsprofile für verschiedene Fahrzeugpositionen betrifft, so ist die von der Beschwerdeführerin vorgeschlagene Auslegung der Merkmale von Anspruch 1 unzutreffend. Anspruch 1 sieht vor, dass in der Steuereinrichtung ein zeit- oder ortsabhängiges Soll-Beschleunigungsprofil für das schienengebundene Fahrzeug hinterlegt ist, das die Bremssteuerungseinrichtung als Zielwerte für die Regelung des Bremsvorgangs verwendet. Der Anspruch spezifiziert lediglich weiter, dass bei einem ortsabhängigen Soll-Beschleunigungsprofil dieses von der Position des Fahrzeugs abhängt. Der Wortlaut von Anspruch 1 schließt somit aus, dass es für verschiedene Positionen unterschiedliche Profile geben kann, da nach dem Anspruch das Profil eine Funktion der Position oder der Zeit ist. Mit anderen Worten: für eine bestimmte Fahrzeugposition bzw. einen bestimmten Zeitpunkt wird ein Wert für die Zielbeschleunigung - bei einem Bremsvorgang die Sollverzögerung - vordefiniert und in der Steuereinrichtung gespeichert.

Schließlich steht der Absatz [0012] der ursprünglich eingereichten Fassung nicht im Widerspruch zu Anspruch 1, sondern bildet eine Grundlage für diesen. Nach diesem Absatz kann die vordefinierte Bremsverzögerung ortsabhängig von der Position des Fahrzeugs an der Fahrstrecke oder zeitabhängig von einem bestimmten Startzeitpunkt an vorgegeben sein. Der letzte Teil des Satzes ist beispielhaft beschrieben und für den Fachmann auch so zu lesen, dass die vordefinierte Bremsverzögerung durch Betätigen der Bremse (der Bremskraft) erreicht wird.

5. Klarheit - Artikel 84 EPÜ

5.1 Der Anspruch 1 ist klar und wird durch die Beschreibung gestützt.

5.2 In der mündlichen Verhandlung machte die Beschwerdeführerin erstmals geltend, dass der Anspruch 1 den Erfordernissen des Artikels 84 EPÜ nicht genüge, weil in der Beschreibung des Patents ein Ausführungsbeispiel fehle, in dem das ortsabhängige Soll-Beschleunigungsprofil gezeigt werde.

5.3 Die Frage der Zulassungsfähigkeit dieses Einwands kann dahinstehen, weil er in der Sache nicht überzeugt.

Die ortsabhängige Alternative des Anspruchs 1 wird durch die Beschreibung gestützt, da in Absatz [0045] des strittigen Patents offenbart ist, dass alternativ zu dem zeitabhängigen Soll-Beschleunigungsprofil ein ortsabhängiges Soll-Beschleunigungsprofil vorgegeben und in der Steuerungseinrichtung hinterlegt sein kann.

Ob eine konkrete Ausführungsform dieser Alternative in der Beschreibung offenbart ist, ist für die Prüfung der Stützung des Anspruchs von der Beschreibung nach Artikel 84 EPÜ unerheblich.

6. Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ

6.1 Der Gegenstand von Anspruch 1 wird nicht durch die Kombination von E1 mit dem allgemeinen Fachwissen oder E5 nahegelegt.

6.2 Der Anspruch 1 unterscheidet sich von dem erteilten Anspruch 1 dadurch, dass:

a) in der Bremssteuerungseinrichtung ein zeit- oder ortsabhängiges Soll-Beschleunigungsprofil hintergelegt ist, und dass

b) die vordefinierte Bremsverzögerung gemäß dem zeitabhängigen Soll-Beschleunigungsprofil abhängig von der Zeit bzw. dem ortsabhängiges Soll-Beschleunigungsprofil abhängig von der Position des Fahrzeugs ermittelt wird.

6.3 Die Beschwerdeführerin brachte in einer ersten Argumentationslinie vor, dass für die in E1 offenbarte Notbremsung die Beschleunigungswerte vorprogrammieret werden müssten. Aus der Beschreibung der Notbremsung in E1 ergebe sich, dass ein Soll-Beschleunigungsprofil gespeichert werden solle, das lediglich eine konstante maximal mögliche Bremsung darstelle.

Zudem argumentierte die Beschwerdeführerin, dass, falls die oben genannten Merkmale a und b als Unterschiede zu dem Fahrzeug in E1 angesehen würden, diese angesichts des Fachwissens oder der Lehre in E5 keine erfinderische Tätigkeit begründen könnten.

Insbesondere würde der Fachmann eine unmittelbare Analogie zu streckenabhängigen Geschwindigkeitsprofilen ziehen, wie sie beispielsweise bei U-Bahnen üblich seien. So sei es für den Fachmann naheliegend, um derartige Geschwindigkeitsprofile entlang einer Strecke mit einer Verzögerung einzuhalten, hierfür ein entsprechendes ortsabhängiges Soll-Beschleunigungsprofil durch Ableitung zu gewinnen. Eine solche Anpassungsmaßnahme sei für den Fachmann naheliegend.

Darüber hinaus würde der Fachmann der Figur 13 von E5 ein zeitabhängige Regelkreis entnehmen, der einen vorgegebenen Beschleunigungswert verwendet. Diesen würde der Fachmann ohne erfinderisch Zutun in das Fahrzeug von E1 übernehmen, um zum Gegenstand des Anspruchs zu gelangen.

6.4 Die Argumente der Beschwerdeführerin sind aus folgenden Gründen nicht überzeugend:

Selbst wenn die Annahme der Beschwerdeführerin nach der ersten Argumentationslinie zutreffen würde, fehlt der Offenbarung in E1 ein vorgespeichertes Soll-Beschleunigungsprofil, das Sollverzögerungswerte mit bestimmten Zeitpunkten bzw. Fahrzeugpositionen korreliert. Diese Zuordnung fehlt in E1, da die Auslösung des Schnellbremsmodus bzw. des Notbremsmodus nicht fahrzeugspositions- bzw. zeitabhängig ist.

Das Argument der Kombination mit dem Fachwissen beruht auf einer rückschauenden Betrachtungsweise. Aus dem von der Beschwerdeführerin nicht nachgewiesenen Fachwissen über streckenabhängige Geschwindigkeitsprofile bei U-Bahnen kann der Fachmann keine Veranlassung ableiten, das Fahrzeug von E1 so zu modifizieren, dass eine Regelung des Bremsvorgangs nach einem zeit- oder ortsabhängigen Soll-Beschleunigungsprofil wie beansprucht erfolgt. Wie diese behaupteten Geschwindigkeitsprofile eingehalten werden können, wird von der Beschwerdeführerin nicht belegt, schon gar nicht durch eine Regelung wie in Anspruch 1 vorgeschlagen.

Auch die Lehre aus E5 kann den Gegenstand von Anspruch 1 ausgehend von dem in E1 offenbarten Fahrzeug nicht nahelegen, da dieses Dokument kein in der Steuereinrichtung vorgespeichertes Soll-Beschleunigungsprofil offenbart, sondern lediglich, dass für die durchgeführten Experimente eine Referenzverzögerung verwendet wird.

6.5 Aus den gleichen Gründen wie bei Anspruch 1 ist auch der Verfahrenanspruch 9 nicht nahegelegt, da sein Gegenstand ein Verfahren zum Abbremsen eines Fahrzeugs nach Anspruch 1 betrifft.

7. Die Ansprüche des Hilfsantrags 3c bilden daher zusammen mit den Figuren des veröffentlichten Patents eine geeignete Grundlage für die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Form.

Die Beschwerdeführerin hielt die Beschreibung für anpassungsbedürftig, und beide Parteien kamen überein, die Sache zur Anpassung der Beschreibung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

Die Kammer hat diesbezüglich keine Einwände.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage des Hilfsantrags 3c eingereicht während der mündlichen Verhandlung und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.

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