T 0159/21 () of 10.7.2023

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2023:T015921.20230710
Datum der Entscheidung: 10 Juli 2023
Aktenzeichen: T 0159/21
Anmeldenummer: 16717258.4
IPC-Klasse: B42D 25/23
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Mehrschichtiges Sicherheitselement
Name des Anmelders: Giesecke+Devrient Mobile Security GmbH
Name des Einsprechenden: Bundesdruckerei GmbH
Mühlbauer GmbH & Co. KG
Kammer: 3.2.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54(1)
European Patent Convention Art 100(a)
European Patent Convention Art 111(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 011
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 012(6)
Schlagwörter: Neuheit (nein: Hauptantrag)
Zulassung (nein: alle Hilfsanträge)
Zurückverweisung an die erste Instanz (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0936/09
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Patentinhaberin wendet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das euro­päische Patent Nr. 3 286 012 (nachfolgend als "das Patent" bezeichnet) zu widerrufen.

II. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass der Gegenstand der Ansprüche 1 und 12 des Patents wie erteilt gegenüber der Druckschrift D5 (EP 2 681 054 B1) nicht neu ist.

III. Von den von der Einspruchsabteilung berücksichtigten Druckschriften sind nur die Druckschriften

D4 (EP 1 719 637 A2) und D5 entscheidungs­relevant.

IV. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 10. Juli 2023 statt.

V. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte als

Hauptantrag die Aufhebung der angefochtenen Entschei­dung und die Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt

(d.h. die Zurückweisung der Einsprüche) und hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche gemäß einem der mit der Beschwer­de­begründung eingereichten Hilfsanträge I - IV.

Darüber hinaus stellte sie einen Antrag auf Zurückver­weisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung

zur weiteren Entscheidung, "falls die Beschwerdekammer eine Zurückverweisung [sic] aus einem anderen Grund als fehlender Neuheit des Hauptantrags oder der Hilfsanträge gegenüber D5 beabsichtigt".

VI. Die Beschwerdegegnerinnen I und II (Einsprechende 1

und 2) beantragten, die Beschwerde zurückzuweisen.

Darüber hinaus beantragten sie, die Hilfsanträge der Beschwerdeführerin nicht in das Verfahren zuzulassen.

VII. Die unabhängigen Ansprüche 1 und 12 des Patents wie erteilt (Hauptantrag) lauten wie folgt (die von der Einspruchsabteilung verwendeten Merkmalskennzeichen sind in eckigen Klammern eingefügt):

"1. [1] Mehrschichtiges Sicherheitselement mit

[1.1] einer opaken Funktionsschicht (2),

[1.2] die zwischen zwei Aufbauschichten (3a, 3b) aus transmissivem Material angeordnet ist, wobei

[1.3] die Schichten (2, 3a, 3b) durch Laminieren zu einem Flächenkörper mit planen Oberflächen (10, 11) verbunden sind, wobei [1.4] die opake Funktionsschicht (2) wenigstens einen Freischnitt (4) aufweist und

[1.5] der wenigstens eine Freischnitt (4) ausgefüllt ist mit transmissivem Material der Aufbauschichten

(3a, 3b), dadurch gekennzeichnet, daß [1.6] auf einer der Aufbauschichten (3a, 3b) weiterhin eine Merkmalträgerschicht (5) angeordnet ist, und

[1.7] in der Merkmalträgerschicht (5) und/oder auf der Merkmalträgerschicht (5) zwischen Merkmalträgerschicht (5) und Funktionsschicht (2) ein Sicherheitsmerkmal

(6, 7) ausgebildet ist, [1.8] das sich zumindest teilweise in die Fläche des wenigstens einen Freischnittes (4) erstreckt."

"12. [12] Verfahren zur Herstellung eines mehrschichtigen Sicherheitselementes [12.1] mit einem Flächenkörper mit planen Oberflächen,

gekennzeichnet durch folgende Schritte:

- [12.2] Bereitstellen einer opaken Funktionsschicht (2), in der wenigstens ein Freischnitt (4) angelegt ist,

- [12.3] Bereitstellen zweier transparenter Aufbauschichten (3a, 3b),

- [12.4] Bereitstellen einer Merkmalträgerschicht (5),

- [12.5] Ausbilden eines Sicherheitsmerkmals (6) in der Merkmalträgerschicht (5) und/oder auf der Merkmalträgerschicht (5) zwischen der Merkmal­träger­schicht (5) und Funktionsschicht (2),

- [12.6] Übereinanderplazieren der Funktionsschicht (2), der Aufbauschichten (3a, 3b) und der Merkmal­trägerschicht (5) so, das [sic] sich das Sicher­heits­merkmal (6, 7) zumindest teilweise in die Fläche des wenigstens einen Freischnittes (4) erstreckt,

- [12.7] Laminieren der übereinanderplazierten Schichten (2, 3a, 3b, 5) zu einem Flächenkörper derart, dass beim Laminieren das Material der Auf­bauschichten (3a, 3b) den Freischnitt (4) in der opaken Funktionsschicht (2) ausfüllt."

VIII. Der Vortrag der Parteien zu den entscheidungsrelevanten Punkten lässt sich wie folgt zusammenfassen.

a) Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung

i) Beschwerdeführerin (Patentinhaberin)

Wenn von der Kammer festgestellt werde, dass der Gegen­stand der Ansprüche des Patents wie erteilt gegenüber der Druckschrift D5 neu sei, sei eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung angesichts der angefochtenen Entscheidung sinnvoll.

ii) Beschwerdegegnerinnen (Einsprechende 1 & 2)

Der Fall sei entscheidungsreif. Der Antrag der Beschwer­­de­führerin auf Zurückverweisung sei nicht zulässig, weil er im Grunde vorgebe, wie die Kammer zu entscheiden habe bzw. in welcher Reihenfolge welche Druckschriften zu prüfen wären. Eine Zurückverweisung würde es der Beschwerde­führerin erlauben, weitere Hilfsanträge zu stellen. Alle Parteien hätten sich darauf vor­bereitet, in der münd­lichen Verhandlung vor der Kammer über die Neuheit des Gegenstands des Patents nicht nur gegenüber der Druckschrift D5, sondern gegenüber allen in der Mittei­lung der Kammer genann­ten Druckschriften, d.h. auch gegenüber der Druckschrift D4, zu sprechen. Deshalb solle die Kammer den Fall nicht an die Einspruchs­abteilung zurückverweisen.

b) Hauptantrag: Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 gegenüber der Druckschrift D4

i) Beschwerdeführerin (Patentinhaberin)

Der Gegenstand von Anspruch 1 des Patents wie erteilt werde von der Druckschrift D4 nicht neuheitsschädlich vorweggenommen. Gemäß dem Patent werde eine Karte mit einem gut herstellbaren Innenfester versehen, in dem ein Sicherheits­merkmal angeordnet werde. So entfalte das Sicherheitsmerkmal eine gewisse Tiefenwirkung. Dabei müsse gewährleistet werden, dass die Karte eine sehr glatte Oberfläche habe. Die Fenster hätten frei gestaltbare Formen (siehe Fig. 1c des Patents). Das Sicherheitsmerkmal solle von oben sichtbar sein. Das beanspruchte Sicherheitsmerkmal sei derart beschaffen, dass es zu jeder Zeit gesehen und geprüft werden könne. Dies ergebe sich zwar nicht aus der Definition im Anspruch, folge aber eindeutig aus der Beschreibung. Die in Fig. 1 der Druckschrift D4 offenbarte Karte weise auch ein Fenster auf, sei aber nicht darauf gerichtet, ein Merkmal zu schaffen, das jederzeit

gesehen werden könne. Das Sicherheitsmerkmal sei im Normalzustand nicht wahrnehmbar und sei daher kein Sicherheitsmerkmal im Sinne des Patents. In der Druckschrift D4 sei eine UV-blockierende Schicht mit Sicherheitselementen kombiniert, die gerade im UV-Bereich anregbar seien. Eine Tiefenwirkung werde hier nicht erreicht. Das Sicherheitsmerkmal sei nur sicht­bar, wenn es von der Rückseite her angeleuchtet und betrachtet werde. Dieser Ansatz unterscheide sich grund­legend von jenem des Patents. Darüber hinaus sei das Merkmal 1.5 des erteilten Anspruchs 1 in der Druckschrift D4 nicht offenbart. Die Auffüllung des Freischnitts sei nur allgemein und nicht im Zusammenhang mit der Fig. 1 beschrieben. Es sei nicht klar, wie das Fenster gefüllt werde, sofern es überhaupt gefüllt werde. Es sei auch festzustellen, dass der Sicherheitsdruck auf die Schicht 120 und nicht auf die Schicht 110 aufgebracht werde (siehe Spalte 7, Zeilen 35 bis 38). Es sei nicht auszuschließen, dass man mittels einer Analyse der Karte fest­stellen könnte, welche Schicht bedruckt wurde. Obwohl die Fig. 1 den gegenteiligen Eindruck erwecke, mache die Beschreibung klar, dass die Schicht 120 bedruckt wurde. Hier sei der Offenbarung der Beschreibung der Vorrang zu geben.

ii) Beschwerdegegnerinnen (Einsprechende 1 & 2)

Absatz [0014] des Patents offenbare, dass "neben den genannten ... beliebige andere Sicherheitsmerkmale in oder auf der Merkmalsträgerschicht 5 realisiert sein [können]" und nenne in diesem Zusammenhang Merkmale, die nur unter Anregung mit elektromagnetischer Strahlung sichtbar würden. Diese Sicherheitsmerkmale seien also, entgegen dem Vortrag der Beschwerdeführerin, nicht ständig sichtbar. Darüber hinaus sei in Absatz [0021] des Dokuments D4 zwar angegeben, dass die UV-blockierende Schicht 120 bedruckt werde, aber der Druck sei dennoch auf der Schicht 110 ausgebildet. Zudem sei im Absatz [0027] des Dokuments D4, der sich noch auf die Fig. 1 beziehe, explizit offen­bart, dass auch die Schicht 110 bedruckt werden könne. Zum Auffüllen des Freischnitts sei anzumerken, dass die Druckschrift D4 drei Möglich­keiten offen­bare, wie ein Fenster hergestellt werden könne: (i) Auffüllung des Fensters durch geschmol­zenes Material der durchsich­ti­gen Außenschichten (Spalte 6, Zeile 55, bis Spalte 7, Zeile 3); (ii) Schmelzen einer durchsichtigen Schicht zwischen zwei opaken Schichten (Spalte 7, Zeilen 4 bis 12); (iii) opakes Bedrucken einer durchsichtigen Schicht (Spalte 7, Zeilen 14 bis 20). Alle Möglich­keiten würden bedingen, dass das Fenster mit trans­pa­rentem Material gefüllt werde. Es sei ausreichend, wenn das Fenster von einer Seite gefüllt werde (siehe Absatz [0023] des Patents). Somit sei festzustellen, dass jedes der von der Beschwerdeführerin genannten Unterscheidungs­merk­male in der Druckschrift D4 offenbart sei. Dem Gegen­stand von Anspruch 1 fehle es daher an der Neuheit. Die von der Beschwerdeführerin angeführten Unterschiede betreffend den Zweck der Erfindung seien nicht relevant, da bei der Prüfung der Neuheit nur die Anspruchsmerkmale zu untersuchen seien.

c) Zulassung der Hilfsanträge I bis IV

i) Beschwerdeführerin (Patentinhaberin)

Die Hilfsanträge I bis IV sollten in das Beschwerdeverfahren zugelassen werden. Im Einspruchsverfahren sei in der Einspruchserwiderung ausführlich für jede der zehn angeführten, vermeintlich neuheitsschädlichen Druckschriften individuell dargelegt worden, warum keine den Patentgegenstand des Patents wie erteilt vorwegnehme. Ebenso sei ausführlich dargestellt worden, warum die Druck­schrif­ten diesen Patentgegenstand nicht nahelegen würden. Eine große Zahl angeführter Dokumente sei üblicherweise ein Hinweis für das Vorliegen einer Erfin­dungshöhe. Somit habe zum damaligen Zeitpunkt für das Einrei­chen von Hilfsanträgen keine offen­sichtliche Notwendigkeit bestanden. Die Erstellung zweckmäßiger Hilfsanträge sei auch aus verfahrens­öko­nomischen Grün­den nicht möglich gewesen. Eine in einem Hilfsantrag vorgenommene Abgren­zung müsse sich am nächst­kommenden Stand der Technik orientieren. Die angeführten Dokumente würden sich jedoch in unter­schied­lichen Merkmalen vom Patent­gegen­stand unter­schei­den. Es sei nicht zu erkennen gewesen, welches der zehn Dokumente als Hauptentgegenhaltung anzusehen war. Eine umfassende Reaktion hätte eine Vielzahl von Hilfs­an­trä­gen und entsprechend eine Vielzahl von begleitenden Erläu­terungen erforderlich gemacht. Dies hätte zu einem unangemessenen Aufwand und einem zu hohen Arbeits­auf­wand geführt. Es sei davon ausgegangen worden, dass die Einspruchs­ab­tei­lung eine verfahrensleitende Mit­tei­lung nach Artikel 101 (1) EPÜ erlassen würde, auf die hin sinnvolle Hilfsanträge hätten vorgelegt wer­den können. Leider habe die Einspruchs­abteilung keinen Gebrauch von dieser Möglichkeit gemacht, sondern habe unmittelbar über den Einspruch ent­schie­den. Es sei auch nicht klar gewesen, ob es sinnvoll wäre, eine münd­li­che Verhandlung zu beantragen. Die aus den vorgenannten Gründen nicht unmittelbar erfolgte Einreichung von Hilfsan­trägen im Einspruchs­verfahren könne nicht als unterbliebene Handlung im Sinne des Artikels 12 (6) Satz 2 VOBK 2020 angesehen werden, die üblicherweise hätte vorgenommen wer­den müssen. Der Kritik der Beschwerdegegnerinnen sei zudem entge­gen­­zu­halten, dass keine Pflicht zur Ein­rei­chung von Hilfs­anträ­gen bestehe, der die Beschwerde­führerin nicht nach­gekommen sei, bzw. dass eine inhalt­liche Reaktion auf die Mitteilung der Beschwerdekammer wegen ihres späten Ergehens (am 25. Mai 2023) nicht möglich gewesen sei.

ii) Beschwerdegegnerinnen (Einsprechende 1 & 2)

Die Hilfsanträge sollten nicht in das Verfahren zuge­lassen werden. Die Beschwerdeführerin habe keine Recht­fertigung dafür geliefert, weshalb die Anträge nicht erstinstanzlich eingereicht worden seien. Mit dem Ein­spruch seien alle Anträge des Patents angegriffen worden. Die Beschwerdeführerin habe im erstinstanzlichen Verfahren die Gelegenheit gehabt, darauf zu reagieren und insbesondere Hilfs­an­träge einzureichen, die zumindest die Neuheit gegenüber dem gesamten zitierten Stand der Technik herstellten. Eine Abgrenzung gegen den zitierten Stand der Technik, zu dem auch die Druckschriften D4 und D5 gehörten, sei grundsätzlich möglich gewesen. Es sei nicht zulässig, der Beschwerdeführerin nun eine Gelegenheit zu geben, ihr Versäumnis gutzumachen, auch angesichts der Verschär­fung der Verfahrensordnung. Es sei auch anzumerken, dass die Rechtfertigung der Beschwerde­führerin erst drei Wochen vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereicht worden sei. Zudem habe die Beschwer­deführerin es unter­las­sen darzulegen, inwiefern die Hilfsanträge geeignet seien, die Einwände der Kammer auszuräumen. Man müsse unterscheiden zwischen der Arbeitsökonomie (dem Arbeitsaufwand für die Parteien) und der Verfah­rens­ökonomie im Sinne der Verfahrensordnung. Es ent­spreche nicht der Verfahrens­ökonomie, wenn jetzt Anträge gestellt würden, für die eine Zurück­ver­weisung im Raum stehe, da sie erst­instanz­lich nicht beschieden worden seien. Die Beschwerdeführerin habe im erst­ins­tanz­lichen Verfahren nicht einmal die Absicht erkennen lassen, dass sie nach Ergehen einer vorläu­fi­gen Meinung der Einspruchs­abtei­lung Hilfsanträge ein­reichen würde. Die anwalt­liche Sorg­faltspflicht hätte erfordert, eine über­ra­schend schnelle Entscheidung mittels eines Antrags auf mündliche Ver­handlung und der rechtzeitigen Einreichung von Hilfs­an­trägen zu ver­hindern. Dies habe die Beschwerdeführerin jedoch unter­lassen und sei damit angesichts der gelten­den Vor­schrif­ten des EPÜ bewusst das Risiko eingegan­gen, dass die Einspruchsabteilung ohne Bekannt­gabe ihrer vor­läu­figen Meinung entscheide.

Entscheidungsgründe

1. Hauptantrag (Patent wie erteilt)

1.1 Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung

1.1.1 Die Beschwerdeführerin hat beantragt, dass die Kammer ihre Prüfung der Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 auf die Druckschrift D5 beschränkt und, falls sie zu einer anderen Schlussfolgerung gelangen sollte als die Einspruchsabteilung, den Fall an letztere zurückver­weist.

1.1.2 Die Kammer hat entschieden, diesem Antrag nicht stattzugeben. Die Gründe dafür sind wie folgt.

Nach Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ wird die Kammer entweder im Rahmen der Zuständigkeit des Organs tätig, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, oder sie verweist die Angelegenheit zur weiteren Entschei­dung an dieses Organ zurück. Welche dieser Möglich­keiten die Kammer wählt, steht in ihrem Ermessen und hängt von den konkreten Umständen des jeweils vorlie­genden Falls ab.

Bei der Ausübung dieses Ermessens berücksichtigt die Kammer auch den Artikel 11 VOBK 2020. Gemäß dieser Vorschrift wird eine Angelegenheit nur dann zur weite­ren Entscheidung an das Organ, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, zurückver­wiesen, wenn besondere Gründe dafür sprechen. Besondere Gründe liegen in der Regel vor, wenn das erstinstanzliche Verfahren wesentliche Mängel aufweist. Ob "besondere Gründe" vorliegen, ist von Fall zu Fall zu entscheiden. Aus den Erläuterungen zu Artikel 11 VOBK 2020 (Zusatz-publikation 2, ABl. EPA 2020) geht hervor, dass es das Ziel dieser Vorschrift ist, die Wahrscheinlichkeit eines Ping-Pong-Effekts zwischen den Beschwerdekammern und der ersten Instanz sowie die damit einhergehende unangemessene Verzögerung des Gesamtverfahrens vor dem Europäischen Patentamt zu verringern, und dass bei der Ermessensausübung gemäß Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ die Kammer diesem Ziel Rechnung tragen soll.

Die Beschwerdegegnerinnen wiesen darauf hin, dass die Beschwerdeführerin mit ihrem Antrag auf Zurück­ver­wei­sung letztlich erreichen könnte, dass sich im Beschwerde­verfahren der Diskussionsstoff zu der Frage der mangelnden Neuheit allein auf die Diskussion des Dokuments D5 beschränke. Es ist den Beschwerde­geg­ner­innen zuzustimmen, dass jedoch auch weitere neuheits­schädliche Dokumente in den Beschwerde­erwiderungen geltend gemacht worden sind und, da die Kammer in ihrer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 eine vorläufige Meinung dazu geäußert hat, alle Beteiligten sich auch diesbezüglich auf eine Diskussion in der mündlichen Verhandlung vorbereiten mussten. Die Kammer konnte auch alle relevanten Fragen mit angemessenem Aufwand entscheiden. Es gab daher für die Kammer schon deshalb keinen Grund, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

Darüber hinaus hat die Einspruchsabteilung nicht nur über die Neuheit des Gegenstands der Ansprüche 1 und 12 des erteilten Patents gegenüber der Druckschrift D5 entschieden, sondern auch eine Entscheidung hinsicht­lich der Neuheitsschädlichkeit des weiteren geltend gemachten Stands der Technik, d.h. der Druckschriften D1', D4 bis D8, D11, D12, D14 und D19, getroffen (siehe Punkt II. 9.3 der angefochtenen Entscheidung). Daher hätte eine Zurückverweisung der Angelegenheit nach der alleinigen Prüfung der Neuheitsschädlichkeit des Doku­ments D5 sehr wahrscheinlich zu dem obengenannten Ping-Pong-Effekt geführt und damit zu einer unange­mes­senen Verzögerung des Gesamtverfahrens in dieser Sache.

Aus den oben genannten Erwägungen hielt die Kammer eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung nicht für sinnvoll.

1.2 Auslegungsfragen

1.2.1 "Material der Aufbauschichten" (Merkmal 1.5 des erteilten Anspruchs 1 bzw. Merkmal 12.7 des erteilten Anspruchs 12)

Die Kammer deutet den Wortlaut des Merkmals 1.5 bzw. 12.7, demzufolge der Freischnitt mit transmissivem Material der Aufbau­schichten ausgefüllt ist, so, dass bei der Herstellung des Sicherheitselements Material aus mindestens einer der Aufbauschichten in den Freischnitt geflossen ist und ihn ausgefüllt hat, wie dies in Merkmal 12.7 des erteilten Anspruchs 12 klar zum Ausdruck kommt. Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern dieses Verfahrensmerkmal das Sicherheitselement strukturell definiert. Der Auffassung der Kammer, dass die Analyse des fertiggestellten Sicherheitselements es in der Regel nicht erlauben würde festzustellen, ob das Material, das den Freischnitt ausfüllt, tatsächlich aus den Aufbauschichten stammt, wurde von den Parteien nicht widersprochen. Daher deutet die Kammer das Merkmal im Sinne von "Material, das dem der Aufbauschichten entspricht".

1.2.2 "angeordnet auf" (Merkmal 1.6 des erteilten Anspruchs 1)

Die Kammer deutet das Merkmal, dem zufolge eine Schicht "auf" einer anderen "angeordnet" ist, so, dass die beiden Schichten unmittelbar aufeinander angeordnet sind. Der Auffassung, dass das Merkmal das Vorhanden­sein von dazwischen liegenden Schichten zu­lässt, kann sich die Kammer nicht anschlie­ßen. Hätte der Verfasser des erteilten Anspruchs 1 das Vorliegen von Zwischen­schichten nicht ausschließen wollen, hätte er von einer Anordnung der zweiten Schicht "über" oder "oberhalb" und nicht "auf" der ersten Schicht gesprochen.

1.2.3 "Merkmalträgerschicht" (Merkmal 1.6 des erteilten Anspruchs 1 bzw. Merkmal 12.4 des erteilten Anspruchs 12)

Die Merkmalträgerschicht (nachfolgend abgekürzt als "MTS") des Merkmals 1.6 bzw. Merkmal 12.4 ist jene Schicht, die das Sicherheitsmerkmal trägt. Unter dem "Tragen" ist gemäß Merkmal 1.7 des erteilten Anspruchs 1 bzw. Merkmal 12.5 des erteilten Anspruchs 12 zu verstehen, dass das Sicherheitsmerkmal sich im Inneren der Schicht befindet oder aber auf der Oberfläche der Schicht. Aus dem erteilten Verfahrens­anspruch 12 geht klar hervor, dass die MTS eine Schicht ist, auf der das Sicherheitsmerkmal im Herstellungs­verfahren ausgebildet wird (z.B. durch Aufdrucken, Gravieren, etc.), bevor die Schichten übereinander platziert und laminiert werden. Was den Produktanspruch angeht, ist die Zuordnung des Sicherheitsmerkmals zu einer Schicht (und somit die Feststellung, welche Schicht die MTS darstellt) unter Umständen nicht ein­deutig, nämlich dann, wenn das Sicherheitsmerkmal zwischen zwei Schichten angeordnet ist. In einem solchen Fall kann in der Regel jede der beiden Schich­ten, zwischen denen das Sicherheitsmerkmal ausgebildet ist, als MTS angesehen werden, denn das Sicherheits­merkmal ist gewissermaßen auf der Oberfläche beider Schichten ausgebildet. Das Merkmal 1.7 des erteilten Anspruchs 1 wird also nicht als ein "Product-by-process"-Merkmal verstanden.

1.2.4 "in ... und/oder auf der Merkmalträgerschicht" (Merkmal 1.7 des erteilten Anspruchs 1 bzw. Merkmal 12.5 des erteilten Anspruchs 12)

Gemäß Merkmal 1.7 des erteilten Anspruchs 1 bzw. Merk­mal 12.5 des erteilten Anspruchs 12 ist das Sicher­heits­merkmal "in der Merkmalträgerschicht... und/oder auf der Merkmalträgerschicht... zwischen Merkmal­trä­ger­schicht ... und Funktionsschicht" ausgebildet. Das Merk­mal umfasst drei mögliche Ausbildungsformen. Die Ausbildung "in" der MTS deutet die Kammer im Sinne einer Ausbildung im Inneren der MTS. Die Ausbildung "auf" der Schicht versteht sie als Ausbildung auf der Oberfläche der MTS. Die Variante "in ... und auf" der MTS wird derart verstanden, dass sich das Sicherheitsmerkmal in der MTS befindet und sich bis an die Oberfläche der MTS, die der Funktionsschicht zugewandt ist, erstreckt.

1.2.5 "Sicherheitselement" und "Sicherheitsmerkmal"

Der Begriff "Sicherheitselement" ist im Patent wie erteilt nicht definiert. Er bezeichnet in der Regel Elemente, die der Sicherung von Gegenständen oder Doku­menten gegen Fäl­schungen dienen. Ein typisches Beispiel sind Holo­gramme oder Wasserzeichen von Bank­noten. Im erteilten Patent wird der Begriff in einem weiteren Sinn gebraucht, denn laut Absatz [0028] kann das Sicher­heits­element "eine Ausweis-, eine Bank-, eine Kredit- oder eine Chipkarte", also der gesicherte Gegen­stand selbst, sein.

Der Begriff "Sicherheitsmerkmal" bezeichnet gemäß Anspruch 1 des Patents wie erteilt einen Bestandteil des Sicherheitselements. Auch dieser Begriff ist im Patent nicht definiert, aber die Beschreibung gibt mehrere Beispiele von Sicher­heits­merkmalen, wie z.B. Druckmuster, Hologramme, Farb­partikel oder fluores­zie­rende Elemente (Absatz [0013]), sowie Merkmale, die nur unter Anregung mit elektro­ma­gne­ti­scher Strahlung sicht­bar werden (Absatz [0014]). Die Beschreibung beschäf­tigt sich in erster Linie mit Sicherheitsmerkmalen in Form von Druckmustern (siehe die Absätze [0020], [0027], [0030], [0033], [0036] bis [0040]). Weiters wird in Absatz [0015] festgestellt, dass "[e]in Sicher­heitsmerkmal ... auch bereits durch die Beschaffenheit der Merkmalträgerschicht 5 gebildet sein [kann], insbe­sondere durch deren Eigenfarbe oder Oberflächen­beschaf­fenheit". Angesichts dieser Offen­barungsstellen hätte der Fachmann unter einem "Sicherheits­merk­mal" im Sinne von An­spruch 1 einen Bestandteil des Sicherheits­ele­ments verstanden, der es erlaubt, die Authentizität des Sicherheitselements festzustellen bzw. zu überprüfen.

Der Anspruch 1 verlangt vom Sicherheitsmerkmal darüber hinaus, dass es in der Merkmalträgerschicht bzw. zwi­schen der Merkmalträgerschicht und Funktionsschicht ausgebildet ist (Merkmal 1.7) und sich zumindest teil­weise in die Fläche eines Freischnitts erstreckt (Merkmal 1.8).

Für die Behauptung der Beschwerdeführerin, dass ein Sicher­heitsmerkmal im Sinne des Patents notwendiger­weise immer sichtbar sein müsse, kann die Kammer keine Grundlage im Patent erkennen, zumal das Patent keine einschränkende Definition des Begriffs enthält. Aus der Tatsache, dass alle gezeigten Ausführungsbeispiele solchen Sicherheitsmerkmalen entsprechen, lässt sich keine diesbezügliche Lehre ableiten.

1.3 Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) i.V.m. Artikel 54 EPÜ - mangelnde Neuheit des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1 gegenüber der Druckschrift D4

Die Druckschrift D4 offenbart Sicherheitsdokumente mit einem Sicherheitsmerkmal, das durch UV-Licht aktiviert wird. Die offenbarten Sicherheitsdokumente umfassen ein transparentes Fenster innerhalb des Dokuments, einen transparenten UV-Blocker, der mindestens einen Teil des transparenten Fensters abdeckt, und ein unsichtbares, bei Bestrahlung mit UV-Licht fluoreszierendes Tinten­muster, das in der Nachbarschaft des Blockers im Bereich des Fensters gedruckt ist.

Die Ausführungsform der Fig. 1A ist besonders relevant. Sie wird in den Absätzen [0021] bis [0031] der Druck­schrift D4 beschrie­ben. Es handelt sich um eine Aus­weis­karte 100 mit einer undurchsichtigen Kernschicht 130, einer trans­pa­renten UV-Sperrschicht 120, sowie zwei transpa­renten Außenschichten 110 und 160.

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Die Kernschicht weist ein ausgestanztes transparentes Fenster 140 auf. Unsichtbare, UV-fluoreszierende Tinten­muster 114 und 150 werden innerhalb des Fenster­bereichs auf verschiedenen Seiten der UV-Sperrschicht 120 gedruckt. Die Fig. 1B, 1C und 1D zeigen das optische Erscheinungsbild, wenn die Vorder- bzw. die Rückseite bzw. beide Seiten der Karte mit UV-Licht bestrahlt werden.

Will man den Anspruch 1 auf das Sicherheitselement gemäß Fig. 1A lesen, so wird die opake Funktions­schicht, die einen Freischnitt aufweist, von der Kern­schicht 130 gebildet. Da die Muster auf die Sperr­schicht 120 gedruckt sind, stellt letztere eine MTS im Sinne von Anspruch 1 dar. Allerdings liegt eines der Muster zwischen der Sperr­schicht und der Schicht 110, womit auch letztere als MTS im Sinne von Anspruch 1

angesehen werden kann (siehe dazu Punkt 1.2.3).

Drei Unterscheidungsmerkmale wurden geltend gemacht.

- Das Sicherheitsmerkmal der Druckschrift D4 sei im Normalzustand nicht wahrnehmbar und stelle daher kein Sicherheitsmerkmal im Sinne des Patents dar.

- Die Auffüllung des Freischnitts sei nur allgemein und nicht im Zusammenhang mit der Fig. 1 beschrie-ben. Es sei nicht klar, wie das Fenster gefüllt werde, sofern es überhaupt gefüllt werde.

- Der Sicherheitsdruck werde auf die Schicht 120 und nicht auf die Schicht 110 aufgebracht (siehe

Spalte 7, Zeilen 35 bis 38).

Die Kammer kann sich diesem Vortrag nicht anschließen. Die Gründe dafür sind wie folgt.

Die Kammer hat ihre Auslegung des Begriffs "Sicher-heitsmerkmal" in Punkt 1.2.5 dargelegt. Sie kann im Patent keine Grundlage für die enge Auslegung des Begriffs erkennen, der zufolge ein Sicherheitsmerkmal grundsätzlich immer sichtbar sein müsse. Da Anspruch 1 keine entsprechende Beschränkung enthält, kann dieses Merkmal kein Unterscheidungsmerkmal darstellen.

Die Druckschrift D4 offenbart unzweifelhaft, dass der Freischnitt mit transparentem Material aus den benach­barten Schichten gefüllt werden kann (siehe Spalte 6, Zeile 55, bis Spalte 7, Zeile 4). Diese Offenbarungs­stelle steht am Beginn der Beschreibung der bevor­zugten Ausführungsform (siehe Spalte 6, Zeile 42). Der Fach­mann hätte daher verstanden, dass sie mit den Ausfüh­rungen zum ersten konkreten Beispiel der Figuren 1A bis 1D zu kombinieren ist. Somit kann auch das Merkmal 1.5 des erteilten Anspruchs 1 nicht als Unterscheidungs­merkmal gelten.

Aus den unter Punkt 1.2.3 dargelegten Gründen stellt die Schicht 110 genauso wie die Schicht 120 eine MTS im Sinne des erteilten Anspruchs 1 dar. Die Tatsache, dass das Muster 114 bei der Herstellung auf die Schicht 120 gedruckt wird, tut dem keinen Abbruch, denn in der dargestell­ten Karte ist das Muster sowohl auf der Schicht 110 als auch auf der Schicht 120 ausgebildet. Darüber hinaus offenbart die Druckschrift D4 auch die Variante, in der das Mus­ter direkt auf die Schicht 110 gedruckt wird (siehe Absatz [0027]). Daher ist auch das Merkmal 1.7 des erteilten Anspruchs 1 kein Unter­schei­dungsmerkmal.

Da die Druckschrift D4 jedes der geltend gemachten Unterscheidungsmerkmale in Kombination mit den anderen Merkmalen des erteilten Anspruchs 1 offenbart, kommt die Kammer zum Schluss, dass das Ausführungsbeispiel der Fig. 1A in der Druckschrift D4 den Gegenstand von Anspruch 1 des Patents wie erteilt neuheitsschädlich vorwegnimmt. Somit steht der Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) i.V.m. Artikel 54 EPÜ der Aufrechterhaltung des erteilten Patents entgegen.

Angesichts dieses Ergebnisses erübrigt es sich, auf die anderen Angriffe gegen den Gegenstand des Anspruchs 1 oder des Anspruchs 12 des Patents wie erteilt einzugehen.

Dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin kann also nicht stattgegeben werden.

2. Zulassung der Hilfsanträge

2.1 Der Hilfsantrag I wurde von der Beschwerdeführerin erstmals mit der Beschwerde­begründung vorgelegt. Aus den folgenden Gründen übte die Kammer ihr Ermessen nach Artikel 12 (6) Satz 2 VOBK 2020 dahingehend aus, den den Hilfsantrag I nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.

2.2 Artikel 12 (6) Satz 2 VOBK 2020 lautet wie folgt:

"Anträge, Tatsachen, Einwände oder Beweismittel, die in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, vorzubringen gewesen wären oder die nicht mehr aufrechterhalten wurden, lässt die Kammer nicht zu, es sei denn, die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen eine Zulassung."

2.3 Im erstinstanzlichen Verfahren hat die Beschwerdefüh­rerin von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die in den beiden Einsprüchen erhobenen Einwände gegen ihr erteiltes Patent argumentativ zu reagieren. Sie hat jedoch das Patent nicht auch in geänderter Fassung, z.B. mittels Hilfsanträgen, verteidigt. Ihrem Vortrag nach hat sie diese Vorgehensweise gewählt, da sie sich angesichts der großen Anzahl von Angriffen darauf ver­ließ, dass die Einspruchsabteilung eine Mitteilung nach Artikel 101 (1) EPÜ mit verfahrensleitenden Ausführungen erlassen würde. Zugleich hat es die Beschwerdeführerin aber unterlassen, eine mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zu beantragen. In Anwendung der geltenden Bestimmungen des EPÜ war die Einspruchs­ab­teilung damit nicht verpflichtet, vor dem Erlass einer für die Patentinhaberin nachteiligen Entscheidung eine mündliche Verhandlung abzuhalten bzw. ihre vorläufige Auffassung in einer Mitteilung kundzutun. Daher gab es keinen nachvollziehbaren Grund, das Einreichen des Hilfs­antrags I von einer Mitteilung der Einspruchs­ab­teilung abhängig zu machen.

Die Beschwer­de­­führerin hat sich somit willentlich dafür entschieden, im Verfahren vor der Einspruchsabteilung keine Hilfsanträge vorzulegen. Die Beschwerdeführerin ist als Patentinhaberin nach dem EPÜ rechtlich zwar nicht verpflichtet, sich aktiv am Einspruchsverfahren zu beteiligen. Allerdings steht es ihr auch nicht frei, ihr Vorbringen im Laufe des Einspruchs- oder des Einspruchsbeschwerdeverfahrens jederzeit nach Belieben darzulegen oder zu ergänzen (siehe auch T 936/09, Punkt 9 der Entscheidungsgründe). Dies bedeutet, dass die Beschwerdeführerin, als sie sich entschloss, sich in ihrer Stellungnahme vom 20. Mai 2020 zu den Einsprüchen nur mithilfe von Argumenten inhaltlich zu äußern und ihr Patent nicht auch in geänderter Fassung zu verteidigen, damit rechnen musste, dass, wenn sie erst mit einer etwaigen Beschwerdebegründung ihr Vorbringen durch das Einreichen von Hilfsanträgen ergänzt, die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 12 (4) oder (6) VOBK 2020 diese Hilfsanträge nicht in das Beschwerdeverfahren zulassen würde.

Die Beschwerdeführerin hat das Patent im erstinstanzlichen Verfahren nicht auch in geänderter Fassung verteidigt, um den bereits mit den Einspruchsschriftsätzen erhobenen Ein­wänden entgegenzutreten, sondern sie hat dies erstmals im Beschwerdeverfahren im Rahmen des vorliegenden neuen Hilfsantrags I getan. Diese Vorgehensweise steht jedoch nicht im Einklang mit einer effizienten Verfahrens­füh­rung. Die Beteiligten trifft auch eine Pflicht zur sorg­fältigen und beförderlichen Verfahrensführung. Dazu gehört es, alle relevanten Tatsachen, Beweismittel, Argumente und Anträge so früh und vollständig wie mög­lich vorzulegen. Dem wurde die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall nicht gerecht.

Die Kammer ist aus den oben genannten Gründen der Ansicht, dass die Beschwerdeführerin den Hilfsantrag I im erstinstanzlichen Verfahren hätte vorbringen können und müssen. Es sind auch keine Umstände zu erkennen, die eine Zulassung des Hilfsantrags I in das Beschwerdeverfahren rechtfertigen würden.

2.4 Die gegenteiligen Argumente der Beschwerdeführerin haben die Kammer nicht überzeugt.

Die Auffassung, dass die Erstellung zweckmäßiger Hilfs­anträge aus verfahrens­öko­nomischen Grün­den nicht mög­lich gewesen wäre, teilt die Kammer nicht. Es steht einer Verfahrensbeteiligten im Einspruchsverfahren natürlich frei, den von ihr betriebenen Aufwand bei der Bearbeitung der Einwände der Gegenparteien zu beschrän­ken, aber dies ist keine Frage der Verfahrens­ökonomie. Eine Verfahrensbeteiligte kann sich grundsätzlich nicht darauf verlassen, dass ihr die Einspruchsabteilung mittels verfahrens­leitender Maßnahmen den Arbeits­auf­wand bezüglich der Erwiderung auf die Einwände der Gegenseite verringert.

Auch dem Argument, es sei zum Zeitpunkt der Erwiderung auf die Einsprüche nicht klar gewesen, ob ein Antrag auf mündliche Verhandlung sinnvoll sei, kann die Kammer nicht folgen. Ein Antrag auf eine mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung war der einzige Weg für die Beschwerdeführerin, um sicherzustellen, dass die Ein­spruchs­abteilung ihre vorläufige Auffassung vor dem Erlass einer Entscheidung kundtun würde. Somit oblag es der Beschwerdeführerin, vorsichtshalber einen Antrag auf mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zu stellen, den sie ggf. zu einem späteren Zeitpunkt hätte zurücknehmen können.

2.5 Die Gründe, die für bzw. gegen die Zulassung der Hilfsanträge II bis IV vorgebracht wurden, sind identisch mit jenen, die im Zusammenhang mit der Frage der Zulassung des Hilfsantrags 1 vorgetragen wurden. Daher hat die Kammer auch bezüglich dieser Hilfsanträge die oben genannten Gesichtspunkte berücksichtigt und in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 12 (6) Satz 2 VOBK 2020 entschieden, die Hilfs­anträge II bis IV nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.

3. Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung zur Prüfung eines der Hilfsanträge I bis IV

Nachdem keiner der Hilfsanträge I bis IV in das Beschwer­deverfahren zuge­las­sen wurde, stellte sich die Frage nicht mehr, ob die Angelegenheit, wie von der Beschwerdeführerin beantragt, nach Artikel 111 (1)

Satz 2 EPÜ an die Einspruchsabteilung zur Prüfung eines der Hilfsanträge zurückzuverweisen wäre.

4. Ergebnis

Da keiner der Anträge der Beschwerdeführerin gewährbar ist, muss die Beschwerde zurückgewiesen werden.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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