European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2023:T118320.20231219 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 19 Dezember 2023 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1183/20 | ||||||||
Anmeldenummer: | 12707306.2 | ||||||||
IPC-Klasse: | F17C 13/08 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Anordnung zum Speichern und Entnehmen von komprimiertem Gas | ||||||||
Name des Anmelders: | Messer GasPack GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | L'AIR LIQUIDE SOCIETE ANONYME POUR L'ETUDE ET L'EXPLOITATION DES PROCEDES GEORGES CLAUDE Linde GmbH |
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Kammer: | 3.2.05 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Wesentlicher Verfahrensmangel - Zusammensetzung der Einspruchsabteilung Zurückverweisung - wesentlicher Mangel im Verfahren vor der ersten Instanz (ja) Rückzahlung der Beschwerdegebühr - entspricht der Billigkeit wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Patentinhaberin legte gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 2 686 602 zu widerrufen, Beschwerde ein.
II. Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung sowie in der geänderten Fassung gemäß dem Hilfsantrag 1 nicht neu ist, und dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Patents in der geänderten Fassung gemäß den Hilfsanträgen 2 bis 17 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
III. Im Verfahren vor der Einspruchsabteilung wurde eine Ladung zur mündlichen Verhandlung nach Regel 115 (1) EPÜ mit Datum vom 17. April 2019 versandt, die mit den elektronischen Signaturen des Vorsitzenden, des ersten Prüfers, des zweiten Prüfers und des rechtskundigen Mitglieds sowie mit dem Siegel des EPA nach Regel 113 (2) EPÜ versehen war. In der Ladung waren drei Anlagen genannt, darunter ein "Bescheid (EPA Form 2906)". Die Überschrift des Abschnitts 4 dieses Bescheids lautet: "Vorläufige, nicht bindende, Meinung der Einspruchsabteilung, die um ein rechskundiges [sic] Mitglied erweitert wurde (Art. 19(2) EPÜ) - Zum Hauptantrag".
Die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung fand am 13. und 14. November 2019 statt. Aus dem Deckblatt der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung (EPA Form 2309.1) geht hervor, dass die Einspruchsabteilung sich aus dem Vorsitzenden, dem ersten Prüfer und dem zweiten Prüfer, die in der Ladung genannt waren, aber ohne das in der Ladung genannte rechtskundige Mitglied zusammensetzte. In Punkt 1 der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am ersten Tag heißt es: "Der Vorsitzende der Einspruchsabteilung informierte die Parteien, dass die Erweiterung der Einspruchsabteilung aufgehoben wurde (Artikel 19(2) EPÜ)."
Die angefochtene Entscheidung trägt das Siegel des EPA und die elektronischen Unterschriften des Vorsitzenden, des ersten Prüfers und des zweiten Prüfers, die in der Ladung genannt waren, nicht aber die des in der Ladung genannten rechtskundigen Mitglieds. In Punkt 8 dieser Entscheidung heißt es: "Vor der mündlichen Verhandlung am 13-11-2019 wurde die Erweiterung der Einspruchsabteilung aufgehoben."
In dem öffentlich zugänglichen Teil der elektronischen Akte findet sich kein Beschluss über eine Aufhebung der Erweiterung der Einspruchsabteilung.
IV. Mit ihrer Beschwerdebegründung hat die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) u.a. zwei Fotografien der an beiden Tagen der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung an der Tür zum Verhandlungsraum angebrachten Verhandlungstafel eingereicht, auf der der Vorsitzende und die drei weiteren Mitglieder der Einspruchsabteilung, die alle in der Ladung zur mündlichen Verhandlung mit Namen genannt sind, angegeben sind.
V. Mit einer Ladung vom 8. Juni 2022 wurden die Beteiligten zu einer für den 12. September 2023 anberaumten mündlichen Verhandlung vor der Kammer, die später auf den 13. September 2023 verlegt wurde, geladen.
VI. In der am 14. Juli 2023 erlassenen Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern in der seit dem 1. Januar 2020 geltenden Fassung (VOBK 2020, ABl. EPA 2021, A35) brachte die Kammer ihre vorläufige Auffassung zum Ausdruck, dass sie es aufgrund eines wesentlichen Verfahrensmangels für geboten halte, den hilfsweise gestellten Antrag der Beschwerdeführerin auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz sowie Rückerstattung der Beschwerdegebühr dem vorliegenden Hauptantrag auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückweisung des Einspruchs vorzuziehen. Die Beteiligten wurden gebeten, bis spätestens einen Monat vor dem anberaumten Termin für die mündliche Verhandlung der Kammer mitzuteilen, ob sie ihren hilfsweise gestellten Antrag auf mündliche Verhandlung aufrechterhielten.
VII. Mit Schreiben vom 18. Juli 2023 nahm die Beschwerdeführerin ihren hilfsweise gestellten Antrag auf mündliche Verhandlung zurück. Außerdem teilte sie der Kammer mit, dass sie davon ausgehe, dass vor einer von dem vorläufigen Ergebnis abweichenden Entscheidung der Kammer zur Wahrung des rechtlichen Gehörs auch im schriftlichen Verfahren ein verfahrensleitender Hinweis ergehe.
VIII. Die Einsprechende 1 (Beschwerdegegnerin I) nahm mit Schreiben vom 24. Juli 2023 ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurück.
IX. Die Einsprechende 2 (Beschwerdegegnerin II) nahm mit Schreiben vom 1. August 2023 ihren hilfsweise gestellten Antrag auf mündliche Verhandlung unter der Voraussetzung zurück, dass vor einer von dem vorläufigen Ergebnis der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 abweichenden Entscheidung der Kammer auch im schriftlichen Verfahren ein verfahrensleitender Hinweis ergehe.
X. Daraufhin wurde der für den 13. September 2023 anberaumte Termin zur mündlichen Verhandlung aufgehoben. Dies wurde den Beteiligten in einer Mitteilung der Geschäftsstelle vom 17. August 2023 mitgeteilt.
XI. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückweisung des Einspruchs (Hauptantrag), oder hilfsweise die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung sowie die Rückerstattung der Beschwerdegebühr wegen eines schwerwiegenden Verfahrensfehlers, oder weiter hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche eines der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 5.
Die Beschwerdegegnerinnen I und II beantragten die Zurückweisung der Beschwerde.
XII. Die Beschwerdeführerin hat im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Das erstinstanzliche Verfahren leide an einem schwerwiegenden Mangel, da die Einspruchsabteilung nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sei.
In der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung sei angegeben worden, dass die Einspruchsabteilung mit vier Mitgliedern, nämlich drei technischen Mitgliedern und einem juristischen Mitglied, besetzt sei. Das juristische Mitglied sei namentlich benannt worden. Damit habe die Einspruchsabteilung von der Möglichkeit des Artikels 19 (2) EPÜ Gebrauch gemacht und sich durch ein rechtskundiges Mitglied ergänzt.
Es bestünden daher berechtigte Zweifel an der rechtmäßigen Zusammensetzung der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, da für die Einspruchsabteilung an beiden Verhandlungstagen trotz Ergänzung durch ein rechtskundiges Mitglied gemäß Artikel 19 (2) EPÜ nur die drei technischen Mitglieder der Einspruchsabteilung anwesend gewesen seien. Das rechtskundige Mitglied habe weder an der mündlichen Verhandlung teilgenommen noch die angefochtene Entscheidung der Einspruchsabteilung unterschrieben. Der Vorsitzende der Einspruchsabteilung habe auf Nachfrage geäußert, dass die Einspruchsabteilung entschieden habe, sich wieder zu verkleinern. Es finde sich jedoch kein Beschluss über eine Aufhebung der Erweiterung der Einspruchsabteilung in der öffentlich zugänglichen Akte, so dass nicht nachprüfbar sei, ob diese Entscheidung tatsächlich von den vier Mitgliedern der Einspruchsabteilung getroffen worden sei. Eine derartige Überprüfbarkeit müsse nach der Entscheidung T 990/06 jedoch gegeben sein. Diesbezüglich werde auch auf die ihrer Beschwerdebegründung beigefügten Fotografien der an der Tür zum Verhandlungsraum angebrachten Verhandlungstafel verwiesen, welche an beiden Verhandlungstagen die erweiterte Zusammensetzung der Einspruchsabteilung habe erkennen lassen.
Es sei nicht auszuschließen, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung anders ausgegangen wäre, wenn die Einspruchsabteilung vorschriftsmäßig besetzt gewesen wäre.
Da das Verfahren vor der Einspruchsabteilung an einem wesentlichen Mangel leide, entspreche die Rückzahlung der Beschwerdegebühr der Billigkeit.
XIII. Die Beschwerdegegnerin I hat im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
In Bezug auf die Zusammensetzung der Einspruchsabteilung liege kein Verfahrensfehler vor, da die Zusammensetzung der Einspruchsabteilung vor der Debatte in der mündlichen Verhandlung bekannt gegeben worden sei und diese der Zusammensetzung der Einspruchsabteilung entspreche, die die angefochtene Entscheidung getroffen habe. Die Beschwerdeführerin habe im Übrigen keine diesbezüglichen Fragen aufgeworfen.
XIV. Die Beschwerdegegnerin II hat hinsichtlich der rechtmäßigen Zusammensetzung der Einspruchsabteilung und der Frage des Vorliegens des angeblichen Verfahrensfehlers nichts vorgetragen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Entscheidung im schriftlichen Verfahren
2. Die vorliegende Entscheidung ergeht im schriftlichen Verfahren gemäß Artikel 12 (8) VOBK 2020.
3. In Reaktion auf die Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 nahmen die Beschwerdeführerin und die Beschwerdegegnerin I ihren hilfsweise gestellten Antrag auf mündliche Verhandlung zurück. Auch die Beschwerdegegnerin II hat ihren hilfsweise gestellten Antrag auf mündliche Verhandlung zurückgenommen, jedoch unter der Voraussetzung, dass vor einer von dem vorläufigen Ergebnis der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 abweichenden Entscheidung der Kammer auch im schriftlichen Verfahren ein verfahrensleitender Hinweis ergehe. Diese bedingte Rücknahme des Antrags auf mündliche Verhandlung ist nicht zu beanstanden, da diese Verfahrenserklärung unter einer bestimmten Bedingung abgegeben wurde, die keine Tatsachen außerhalb des Verfahrens betrifft.
4. Der Grundsatz des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ ist vorliegend uneingeschränkt gewahrt, da die Beteiligten zur Sache vorgetragen haben bzw. die Möglichkeit gehabt haben, sich zur Sache zu äußern, und die Kammer deren Vorbringen ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat. Die Gründe für die vorliegende Entscheidung weichen nicht von dem in der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 enthaltenen vorläufigen Ergebnis ab. Deshalb war zur Wahrung des rechtlichen Gehörs ein weiterer verfahrensleitender Hinweis im schriftlichen Verfahren vor der Entscheidung der Kammer, wie von der Beschwerdeführerin in ihrem Schreiben vom 18. Juli 2023 angeregt, nicht erforderlich, und die von der Beschwerdegegnerin II gesetzte Bedingung für ihre Rücknahme des Antrags auf mündliche Verhandlung wurde gegenstandslos.
5. Somit ist die Beschwerdesache auf der Grundlage der zu überprüfenden angefochtenen Entscheidung und des wechselseitigen schriftsätzlichen Vorbringens der Beteiligten unter Wahrung deren Rechte gemäß Artikel 113 und 116 EPÜ entscheidungsreif. Daher konnte im vorliegenden Fall der anberaumte Termin für die mündliche Verhandlung aufgehoben werden und die Entscheidung im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung ergehen.
Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers
6. Da die von der Beschwerdeführerin angeführten Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung für alle der Entscheidung zugrundeliegenden Anträge der Beschwerdeführerin, einschließlich ihres Hauptantrags, gelten, hält die Kammer es für geboten, den hilfsweise gestellten Antrag der Beschwerdeführerin auf Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz wegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers dem vorliegenden Hauptantrag vorzuziehen. Dem haben die Beteiligten auch nicht widersprochen.
7. Die Kammer stellt zunächst fest, dass in der am 17. April 2019 erlassenen Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung drei technisch vorgebildete Prüfer und ein rechtskundiges Mitglied der Einspruchsabteilung unter Angabe ihres Namens genannt werden. Daraus und aus Punkt 4 der dieser Ladung beigefügten Mitteilung der Einspruchsabteilung ist zu entnehmen, dass vor Erlass dieser Ladung die aus drei technisch vorgebildeten Mitgliedern bestehende Einspruchsabteilung nach den Bestimmungen des Artikels 19 (2) Satz 5 EPÜ durch ein rechtskundiges Mitglied ergänzt wurde. Es ist daher für die Kammer nachvollziehbar, dass die Beteiligten vor der Eröffnung der am 13. und am 14. November 2019 stattgefundenen mündlichen Verhandlung davon ausgegangen sind, dass die Einspruchsabteilung aus drei technisch vorgebildeten Mitgliedern und einem rechtskundigen Mitglied bestand, zumal die elektronische Saalanzeige ausweislich der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Fotografien die vier in der Ladung zur mündlichen Verhandlung genannten Namen der Mitglieder der Einspruchsabteilung anzeigte. Laut Punkt 1 der Niederschrift über die mündliche Verhandlung wurden die Beteiligten jedoch am Anfang der mündlichen Verhandlung von der Einspruchsabteilung in der Besetzung mit drei technisch vorgebildeten Mitgliedern darüber informiert, dass die Erweiterung der Einspruchsabteilung wieder aufgehoben worden sei. Ähnliches folgt aus dem Punkt 8 des Sachverhalts der angefochtenen Entscheidung, die ausschließlich von den drei technisch vorgebildeten Mitgliedern unterschrieben ist.
8. Wie in der Entscheidung T 1088/11 unter Verweis auf die Entscheidung T 390/86 dargelegt wurde, soll in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem eine Einspruchsabteilung nach Artikel 19 (2) Satz 5 EPÜ um ein rechtskundiges Mitglied erweitert, der Fall jedoch in einer dreiköpfigen Besetzung ohne das rechtskundige Mitglied entschieden wurde, die öffentlich zugängliche Akte klare Nachweise dafür enthalten, dass die Einspruchsabteilung in der vierköpfigen Besetzung vor dem Erlass der abschließenden Entscheidung entschieden hat, die Erweiterung aufzuheben (s. Punkt 17 der Entscheidungsgründe).
9. In diesem Zusammenhang ist ergänzend zu bemerken, dass die im November 2017 überbearbeitete Fassung der Richtlinien für die Prüfung im EPA ("Richtlinien") unter anderem folgende Ergänzung im Teil C-VIII, 7 enthält:
"Wurde eine Prüfungsabteilung gemäß Art. 18 (2) erweitert, der Fall aber in einer dreiköpfigen Besetzung entschieden, dann sollte die öffentlich zugängliche Akte klare Nachweise dafür enthalten, dass die Prüfungsabteilung in der vierköpfigen Besetzung vor dem Erlass der abschließenden Entscheidung entschieden hat, die Erweiterung aufzuheben."
Durch den Verweis auf C-VIII, 7 im Teil D-II, 2.2 galt dies in der ab November 2017 gültigen Fassung der Richtlinien auch für die Erweiterung bzw. die Aufhebung der Erweiterung einer Einspruchsabteilung. Da die Abschnitte C-VIII, 7 und D-II, 2.2 der Richtlinien sowohl in der Fassung vom November 2018 als auch in der im November 2019 überarbeiteten Fassung unverändert blieben, waren die oben genannte Ergänzung und der oben genannte Verweis auch im Zeitraum zwischen der Ladung vom 17. April 2019 und der mündlichen Verhandlung am 13. und 14. November 2019 bzw. dem Erlass der angefochtenen Entscheidung am 16. März 2020 in der damals jeweils gültigen Fassung der Richtlinien enthalten. Die Beteiligten konnten somit zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zu Recht davon ausgehen, dass sich die auf die unverändert gebliebenen Richtlinien beruhende Praxis nicht ohne Vorankündigung ändern würde und dass die Einspruchsabteilung daher nicht davon abweichen würde (s.a. J 27/94, ABl. EPA 1995, 831, Punkt 5 und 6 der Entscheidungsgründe). Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin I bestand damit für die Beschwerdeführerin keine Veranlassung, nach Erhalt der Information des Vorsitzenden in der mündlichen Verhandlung, dass die Erweiterung der Einspruchsabteilung aufgehoben worden sei, nachzufragen oder gar selbst zu überprüfen, ob die öffentlich zugängliche Akte eine Entscheidung oder einen Hinweis enthielt, dass die Einspruchsabteilung in der vierköpfigen Besetzung die Erweiterung der Einspruchsabteilung aufgehoben hatte.
10. Im vorliegenden Fall befindet sich jedoch in der öffentlich zugänglichen Akte keine Entscheidung der Einspruchsabteilung in der vierköpfigen Besetzung über die Aufhebung der Erweiterung der Einspruchsabteilung oder ein anderer Hinweis, dass die Einspruchsabteilung in der vierköpfigen Besetzung vor der mündlichen Verhandlung bzw. vor der Verkündung der abschließenden Entscheidung in der mündlichen Verhandlung entschieden hatte, die Erweiterung aufzuheben. Da es nicht möglich ist festzustellen, ob die angefochtene Entscheidung durch eine nach dem EPÜ rechtmäßig besetzte Einspruchsabteilung getroffen worden ist, bestehen berechtigte Zweifeln an der rechtmäßigen Zusammensetzung der Einspruchsabteilung und infolgedessen auch an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung (s. auch T 990/06, Punkt 2.5 der Entscheidungsgründe).
11. Die Kammer kommt daher zum Ergebnis, dass ein wesentlicher Verfahrensmangel i.S.v. Artikel 11 Satz 2 VOBK 2020 vorliegt.
Zurückverweisung
12. Nach Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ steht es im Ermessen der Kammer, entweder im Rahmen der Zuständigkeit des Organs tätig zu werden, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, oder die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an dieses Organ zurückzuverweisen. Artikel 11 VOBK 2020 besagt, dass eine Kammer die Angelegenheit nur dann zur weiteren Entscheidung an dieses Organ zurückverweist, wenn besondere Gründe dafür sprechen. Besondere Gründe liegen in der Regel vor, wenn das Verfahren vor diesem Organ wesentliche Mängel aufweist. Ob "besondere Gründe" vorliegen, ist von Fall zu Fall zu entscheiden (s. Erläuterungen zu Artikel 11 VOBK 2020, Zusatzpublikation 2, ABl. EPA 2020).
13. Nach Auffassung der Kammer stellt das Vorliegen des oben festgestellten wesentlichen Verfahrensmangels im vorliegenden Fall einen besonderen Grund i.S.v. Artikel 11 VOBK 2020 dar, der für eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung spricht, da die nicht rechtmäßige Zusammensetzung der Einspruchsabteilung die gesamte angefochtene Entscheidung betrifft.
14. Die Kammer hält daher in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz im vorliegenden Fall für gerechtfertigt.
Rückzahlung der Beschwerdegebühr
15. Nach Regel 103 (1) a) EPÜ wird die Beschwerdegebühr in voller Höhe zurückgezahlt, wenn der Beschwerde abgeholfen oder ihr durch die Beschwerdekammer stattgegeben wird und die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht.
16. Im vorliegenden Fall ist wegen des oben festgestellten wesentlichen Verfahrensmangels die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen. Daher wird der vorliegenden Beschwerde stattgegeben.
17. Zudem besteht im vorliegenden Fall ein Kausalzusammenhang zwischen dem wesentlichen Verfahrensmangel und der erstinstanzlichen Entscheidung, die die Einlegung einer Beschwerde notwendig machte. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr entspricht somit der Billigkeit (s. "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts", 10. Auflage, Juli 2022, V.A.11.7.1).
18. Dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Rückerstattung der Beschwerdegebühr in voller Höhe ist daher gemäß Regel 103 (1) a) EPÜ stattzugeben.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.
3. Dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Rückerstattung der Beschwerdegebühr in voller Höhe wird stattgegeben.