T 1094/20 (Streckwärmebehandlung/SIG) of 24.2.2023

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2023:T109420.20230224
Datum der Entscheidung: 24 Februar 2023
Aktenzeichen: T 1094/20
Anmeldenummer: 11760993.3
IPC-Klasse: B32B 38/04
B32B 3/10
B65D 5/74
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: AUS EINEM BEHÄLTERROHLING GEFORMTER BEHÄLTER MIT VERBESSERTEN ÖFFNUNGSEIGENSCHAFTEN DURCH STRECKWÄRMEBEHANDLUNG VON POLYMERSCHICHTEN
Name des Anmelders: SIG Technology AG
Name des Einsprechenden: Tetra Laval Holdings & Finance SA
Kammer: 3.3.06
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 111
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 011
European Patent Convention R 103(1)(a)
Schlagwörter: Zurückverweisung - wesentlicher Mangel im Verfahren vor der ersten Instanz (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - angefochtene Entscheidung ausreichend begründet (nein)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - entspricht der Billigkeit wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
R 0008/15
T 0425/97
T 1083/01
T 0763/04
T 1123/04
T 0537/05
T 0246/08
T 2106/09
T 1548/11
T 1278/14
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerden der Patentinhaberin und der Einsprechenden richten sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent auf Basis des elften Hilfsantrags aufrecht zu erhalten. Die Abteilung war unter anderem zu dem Schluss gekommen, der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags sowie des zweiten bis neunten Hilfsantrags sei nicht neu gegenüber

D10 (WO 98/14317 Al) und Anspruch 1 des zehnten Hilfsantrags sei unzulässig erweitert (Artikel 123 (2) EPÜ). Den ersten Hilfsantrag hatte die Abteilung nicht zum Verfahren zugelassen.

II. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 (entspricht dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hauptantrag) in der von der Patentinhaberin vorgelegten Merkmalsgliederung hat den folgenden Wortlaut:

"1.1 Ein Verfahren zur Herstellung eines einen

Behälterinnenraum (1) von der Umgebung (2)

abgrenzenden Behälters (3)

1.2 zumindest teilweise gebildet aus einem

flächenförmigen Verbund (4),

beinhaltend die Verfahrensschritte:

1.3 (I) Bereitstellen eines flächenförmigen Verbunds

(4) in Form eines Behältervorläufers für einen

einzigen Behälter;

1.4 (II) Bilden des Behälters (3) aus dem

Behältervorläufer

1.5 (III) Verschließen des Behälters (3); wobei der

flächenförmige Verbund (4) als

Verbundbestandteile beinhaltet:

1.6 - eine der Umgebung (2) zugewandte

Polymeraußenschicht (4_1);

1.7 - eine auf die Polymeraußenschicht (4_1) zum

Behälterinnenraum (1) hin folgende

Trägerschicht (4_2);

1.8 - eine auf die Trägerschicht (4_2) zum

Behälterinnenraum (1) hin folgende

Barriereschicht (4_3);

1.9 - eine auf die Barriereschicht (4_3) zum

Behälterinnenraum folgende Haftschicht (4_4)

1.10 - eine auf die Haftschicht (4_4) zum

Behälterinnenraum (1) hin folgende

Polymerinnenschicht (4_5); wobei der

flächenförmige Verbund (4) in Form

eines Behältervorläufers erhältlich ist durch

ein Verfahren, beinhaltend die Verfahrensschritte

1.11 a. Bereitstellen eines mindestens die

Trägerschicht (4_2) aufweisenden

Verbundvorläufers;

1.12 b. Aufbringen der Haftschicht (4_4) und der

Polymerinnenschicht (4_5) durch

Schichtextrusion;

1.13 c. Herstellung eines Behältervorläufers für

einen einzigen Behälter (3)

1.14 wobei mindestens die Polymerinnenschicht (4_5)

oder mindestens die Haftschicht (4_4) oder

mindestens beide während des Aufbringens

gestreckt werden,

1.15 wobei die Trägerschicht (4_2) ein Loch (5)

aufweist,

1.16 das mindestens mit der Barriereschicht (4_3),

der Haftschicht (4_4) und der

Polymerinnenschicht (4_5) als

Lochdeckschichten (6) überdeckt ist,

1.17 und wobei mindestens eine der ein gestrecktes

Polymer beinhaltenden Lochdeckschichten nach dem

Bilden des Behältervorläufers thermisch behandelt

wird."

III. Mit ihrer Beschwerdebegründung reichte die Einsprechende neue Dokumente (D13-D15) ein und beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den vollständigen Widerruf des Patents.

IV. Mit ihrer Beschwerdebegründung reichte die Patentinhaberin sieben neue Hilfsanträge sowie die neuen Dokumente B1-B5 ein, und beantragte unter anderem die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung sowie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr. Den Antrag auf Zurückverweisung hat die Patentinhaberin damit begründet, dass ihr rechtliches Gehör verletzt worden sei. Die angefochtene Entscheidung sei, insbesondere was die Offenbarung der Merkmale 1.14, 1.9, 1.11 und 1.17 in D10 angeht, nicht ausreichend begründet, denn es finde sich darin keinerlei Auseinandersetzung mit den Argumenten, die sie hierzu in mehreren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung vorgetragen habe.

V. Mit ihrer Beschwerdeerwiderung reichte die Einsprechende neue Dokumente (D16-D19) ein und brachte unter anderem vor, die Entscheidung sei hinreichend begründet.

VI. Mit ihrer Beschwerdeerwiderung reichte die Patentinhaberin neue Dokumente (B7 und B8) sowie einen neuen Hilfsantrag 5a ein.

VII. In der Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK 2020 wies die Kammer darauf hin, dass sie geneigt sei, der Beschwerde der Patentinhaberin stattzugeben und die Angelegenheit zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

VIII. Daraufhin zog die Einsprechende für den Fall, dass die Entscheidung aufgehoben und die Sache an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen würde, ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurück. In der Folge wurde der Termin für die mündliche Verhandlung aufgehoben.

IX. Die letzten Anträge im schriftlichen Verfahren waren wie folgt:

Die Patentinhaberin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen. Zudem beantragt sie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr sowie hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf Basis der Hilfsanträge 1-25, gemäß der in Anhang B6 festgelegten Antragsbezeichnung, bzw. auf Basis des Hilfsantrags 5a, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung. Weiter beantragt sie die Nichtzulassung der Dokumente D13-D19.

Die Einsprechende beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen. Zudem beantragt sie die Zurückweisung der Beschwerde der Patentinhaberin, die Nichtzulassung von B1-B3, B5, B7 und B8 sowie die Nichtzulassung der neu eingereichten Hilfsanträge 6, 8, 9 und 11-14 sowie von Hilfsantrag 2 und 5a. Für den Fall, dass die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen wird, beantragt sie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.

Entscheidungsgründe

1. Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (Artikel 116 EPÜ)

Wie im Folgenden ausgeführt wird, ist dem Hauptantrag der Patentinhaberin auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung ebenso wie dem Antrag beider Parteien auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr stattzugegeben. Da die Einsprechende für diesen Fall ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurückgezogen hat, kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.

Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Entscheidung der Kammer zu den weiteren Anträgen der Parteien betreffend die Aufrechterhaltung des Streitpatents und die Zulassung von neuem Vorbringen.

2. Begründungsmängel und rechtliches Gehör

Die angefochtene Entscheidung ist nicht hinreichend begründet (Regel 111(2) EPÜ), denn wichtige Argumente der Patentinhaberin werden darin nicht gewürdigt, wodurch ihr rechtliches Gehör verletzt wurde (Artikel 113(1) EPÜ).

2.1 Die Patentinhaberin hat insoweit vorgetragen, dass die Entscheidung im Hinblick auf die Offenbarung mehrerer Merkmale, insbesondere von Merkmal 1.14, in D10 unzureichend begründet sei. Insbesondere finde sich keinerlei Auseinandersetzung mit den ausführlichen Argumenten, die sie hierzu in mehreren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung vorgetragen habe. Weiter sei die Abteilung in Bezug auf die Offenbarung mehrerer Merkmale von ihrer vorläufigen Meinung abgewichen, ohne dies in der Entscheidung zu begründen.

2.2 Merkmal 1.9

Laut Punkt 5.5.3 der Entscheidung stellen die in D10 offenbarten "tie layer" Haftschichten im Sinne des Anspruchs dar. Laut Punkt 5.5.2 der Entscheidung wurde dies von der Patentinhaberin jedoch bestritten und die Abteilung selbst hatte unter Punkt 9.1 des Ladungsanhangs vom 17. April 2019 noch ausgeführt, die in Dl0 offenbarte "tie layer" sei keine Haftschicht, sondern "eine unbekannte Schicht, dass [sic!] eine Oberflächenvorbereitung der Aluminiumschicht (wie eine Eloxierung) ist". Es ist einer Einspruchsabteilung selbstverständlich unbenommen, ihre vorläufige Meinung zu ändern, zum Beispiel im Lichte neuer Beweismittel oder Argumente, aber dies muss in der Entscheidung nachvollziehbar begründet werden. Eine solche Begründung fehlt jedoch in der Entscheidung.

2.3 Merkmal 1.11

Wie unter Punkt 5.5.2 der Entscheidung erwähnt, hat die Patentinhaberin bestritten, dass Dl0 Merkmal 1.11 offenbart. Die entsprechenden Ausführungen der Patentinhaberin finden sich z.B. auf Seite 29-31 der Eingabe vom 14. Mai 2018. Da die Abteilung Dl0 als neuheitsschädlich ansah, ging sie offenkundig davon aus, dass Merkmal 1.11 in Dl0 offenbart sei, aber eine Begründung hierfür fehlt völlig. Auch hier hatte die Abteilung im bereits zitierten Ladungsanhang (Punkt 9.1) noch eine andere Meinung vertreten.

Die Einsprechende hat vorgebracht, die Begründung für die Offenbarung von Merkmal 1.11 in Dl0 sei in Abschnitt 4.4-4.7 zu finden, in denen ausgeführt werde, dass Merkmal 1.11 als "Product-by-Process"-Merkmal angesehen werde, so dass nur die hierdurch hervorgerufenen Produktmerkmale berücksichtigt werden könnten, nämlich ein Laminat mit einer Trägerschicht und ein solches sei in D10 offenbart.

Die Kammer hält es für durchaus möglich, dass diese Interpretation der Entscheidung korrekt ist, aber selbst dann, wenn dies der Fall sein sollte, ist die Begründung unvollständig, denn die Entscheidung enthält nur den ersten Teil dieser Argumentationskette, nämlich die Feststellung, dass Merkmal 1.11 als "Product-by Process"-Merkmal aufgefasst werde. Was aus dieser Feststellung folgt, d.h. welche Produktmerkmale durch Verfahrensmerkmal 1.11 hervorgerufen werden und wo in D10 diese offenbart sind, geht aus der Entscheidung nicht hervor.

2.4 Merkmal 1.14

Was die Offenbarung dieses Merkmals angeht, ist die Begründung der Entscheidung ebenfalls unvollständig bzw. nicht schlüssig. Außerdem werden die Argumente der Patentinhaberin nicht hinreichend gewürdigt.

2.4.1 Die Entscheidung enthält zu Merkmal 1.14 die folgenden Ausführungen: Zunächst stellt die Abteilung zur Auslegung unter Punkt 4.4 und 4.5 fest, dass Merkmal 1.14 den beanspruchten Gegenstand lediglich durch die durch das Strecken bewirkten Produktmerkmale des flächenförmigen Verbunds einschränke. Unter Punkt 4.7 stellt sie dann fest, dass die Verstreckung gemäß Merkmal 1.14 eine messbare Orientierung des Polymers bewirke. Unter Punkt 5.3 und 5.4 erkennt die Einspruchsabteilung auf der Grundlage der vorgelegten Versuchsberichte "die Existenz der besonderen technischen Wirkung" von Strecken und thermischer Behandlung an. Schließlich gibt sie unter Punkt 5.5.3 zur Offenbarung des Merkmals in D10 die folgende Begründung: "D10 offenbart auf Seite 4, Zeilen 28-29, dass die Polymerschichten durch Schichtextrusion hergestellt werden können. Das Extrusionsverfahren beinhaltet zwangsläufig eine Mindeststreckung, die eine messbare Orientierung des Polymers bewirkt.".

2.4.2 Die Abteilung argumentiert hier also nicht auf der Basis der Auslegung des Merkmals als "Product-by-Process"-Merkmal gemäß Punkt 4.7 der Entscheidung, sondern sie ist vielmehr der Ansicht, dass die auf Seite 4, Zeilen 28-29, von Dl0 explizit offenbarte Extrusionsbeschichtung zwangsläufig eine Verstreckung des Polymers beinhalte und diese somit impliziere.

Eine solche implizite Offenbarung von Merkmal 1.14 durch die Offenbarung einer Extrusionsbeschichtung hatte die Patentinhaberin jedoch unter anderem in der Eingabe vom 14. Mai 2018, Seite 32, sowie in Anlage A4 (eingereicht mit Schriftsatz vom 23. September 2019, Seite 10, erster Absatz), sowie auch in der mündlichen Verhandlung bestritten und auch die Abteilung hatte in ihrer vorläufigen Meinung noch festgestellt, dass eine implizite Offenbarung des Merkmals nicht gegeben sei (Ladungszusatz vom 17. April 2019, Punkt 9). Eine Begründung, warum die Argumente der Patentinhaberin nicht überzeugen konnten bzw. warum die Abteilung ihre Meinung in dieser Hinsicht geändert hat, fehlt jedoch.

2.4.3 Die Einsprechende hat vorgebracht, die Entscheidung zu Merkmal 1.14 sei aufgrund der Ausführungen unter Punkt 4.4-4.7 ausreichend begründet, denn Dl0 offenbare explizit das durch Merkmal 1.14 hervorgerufene Produktmerkmal, nämlich die hohe Polymerorientierung. Eine implizite Offenbarung des Merkmals werde somit in der Entscheidung nicht behauptet, so dass auch die entsprechenden Argumente der Patentinhaberin irrelevant seien. Für die Kammer geht dieses Argument jedoch an der Argumentation der Entscheidung vorbei, denn wie oben ausgeführt, hat die Abteilung nicht argumentiert, dass Dl0 ein orientiertes Polymer offenbare und dass daraus folge, dass das Polymer gestreckt worden sei, sondern vielmehr, dass Dl0 die Herstellung der Schicht durch Extrusion offenbare und dass eine solche zwangsläufig eine Mindestverstreckung beinhalte. Außerdem hat die Patentinhaberin erstinstanzlich auch vorgebracht, dass ein Verstrecken über eine bloße Polymerorientierung hinaus zu weiteren Produktmerkmalen führe, die in Dl0 jedoch nicht offenbart seien (Eingabe vom 14. Mai 2018, Seite 20 oben). Dieses Argument hätte die Einspruchsabteilung berücksichtigen müssen, hätte sie die Offenbarung von Merkmal 1.14 in Dl0 damit begründen wollen, dass Dl0 die durch das Verstrecken hervorgerufenen Produktmerkmale offenbare. Dies hat sie jedoch unterlassen.

2.5 Zwar ist nach gefestigter Rechtsprechung (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, III. B.2.4.3) eine Einspruchsabteilung nicht verpflichtet, jedes einzelne Argument aufzugreifen, wenn die angeführten Gründe es den Beteiligten erlauben nachzuvollziehen, ob die Entscheidung gerechtfertigt ist oder nicht, aber dies ist im vorliegenden Fall eben nicht möglich. Außerdem ist für die Kammer wesentlich, dass es sich insbesondere bei der Frage der Offenbarung von Merkmal 1.14 nicht um einen Nebenaspekt der erstinstanzlichen Diskussion gehandelt hat, sondern um eine der Kernfragen, siehe auch Punkt 2.6, zu der die Patentinhaberin in erster Instanz umfänglich vorgetragen hat, so dass es zur Wahrung des rechtlichen Gehörs der Patentinhaberin notwendig gewesen wäre, ihre Gegenargumente in angemessenem Umfang in der Entscheidung zu würdigen (Artikel 113(1) EPÜ).

2.6 Die Frage, ob 1.14 und die weiteren oben angeführten Merkmale in D10 offenbart sind, war (und ist noch immer) für die Beurteilung der verfahrensgegenständlichen Anträge wesentlich. Dies gilt insbesondere für die Prüfung der Neuheit gegenüber D10. Sofern die Argumente der Patentinhaberin dazu führen würden, dass der Hauptantrag gegenüber D10 neu sein sollte, so wären ggf. umfangreiche weitere Prüfungen vorzunehmen, zum Beispiel bezüglich der erfinderischen Tätigkeit gegenüber D10 aber ggf. auch gegenüber D1 (siehe Ladungsanhang vom 17. April 2019, Punkt 10).

2.7 Das Argument der Einsprechenden, angesichts der Verhandlungsdauer von über 10 Stunden könne das rechtliche Gehör der Patentinhaberin nicht verletzt sein, greift nicht durch, denn es folgt aus der gefestigten Rechtsprechung, dass es zur Gewährung des rechtlichen Gehörs eben nicht ausreicht, dass sich die Beteiligten in der Sache äußern können, sondern es müssen diese Äußerungen in der Entscheidung auch berücksichtigt werden (vgl. R 8/15, Gründe 2.2.2; T 763/04, Gründe 4.3; T 1123/04, Gründe 2.2.4 und T 246/08, Gründe 2.2). Wie oben dargelegt hat die Abteilung dies, insbesondere was Merkmal 1.14 angeht, unterlassen.

3. Zurückverweisung

Die unterbliebene Würdigung von Kernargumenten zu Merkmalen, deren Offenbarung für die Beurteilung der Patentierbarkeit wesentlich sind, ist ein schwerwiegender Verfahrensfehler, der im vorliegenden Verfahren nach Artikel 111(1) EPÜ, Artikel 11 VOBK 2020 die Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz rechtfertigt.

4. Rückzahlung der Beschwerdegebühr

4.1 Der schwerwiegende Verfahrensfehler rechtfertigt nach Regel 103(1) a) EPÜ die Rückzahlung der Beschwerdegebühr der Patentinhaberin.

4.2 Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr der Einsprechenden wird ebenfalls angeordnet (vgl. ebenso in entsprechenden Konstellationen: Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, V.A.11.3.6, neben der dort erwähnten Entscheidung siehe auch T 537/05, Entscheidungsgründe 4; T 1083/01, Entscheidungsgründe 4 und T 425/97 Entscheidungsgründe 4; T 1278/14, Entscheidungsgründe 18). Regel 103(1) a) EPÜ wäre dem Wortlaut nach zwar nicht anwendbar, weil die Kammer über die Beschwerde der Einsprechenden nicht entschieden und ihr damit auch nicht stattgegeben hat. Gleichwohl ist Regel 103(1) a) EPÜ entsprechend anwendbar, weil auch für die Einsprechende durch den Verfahrensmangel bedingte zusätzliche Verfahrenskosten anfallen. Sinn und Zweck der Regelung ist es, eine Partei, die Gebühren für das Beschwerdeverfahren aufgewendet hat, von diesen Kosten zu entlasten, wenn dies der Billigkeit entspricht, weil die Einlegung der Beschwerde und die damit verbundenen Kosten durch den Verfahrensfehler veranlasst wurden (vgl.: Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, V.A. 11.7). Dies gilt insbesondere, wenn es infolge eines schweren Verfahrensfehlers zu einer Zurückverweisung an die erste Instanz kommt, ohne dass eine weitergehende inhaltliche Prüfung der Begründetheit der Beschwerde erfolgt. Zwischen dem Verfahrensfehler und der Einlegung der Beschwerde der Einsprechenden bestand zwar kein Kausalzusammenhang, jedoch läuft die Beschwerde der Einsprechenden ins Leere, weil ihre Begründetheit infolge der Zurückverweisung nicht geprüft wird. Durch die Zurückverweisung und die danach erfolgende erneute Entscheidung der Einspruchsabteilung kann sich für die Einsprechenden die Notwendigkeit ergeben, erneut eine Beschwerde einzulegen. Es wäre unbillig, die Einsprechende mit diesen mittelbar infolge des Verfahrensfehlers entstehenden zusätzlichen Gebühren zu belasten.

5. Dem Antrag der Patentinhaberin, eine weitere mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung abzuhalten, kann nicht stattgegeben werden, denn es ist keine Rechtsgrundlage ersichtlich, die es erlauben würde, die einzelnen Verfahrensschritte des Einspruchsverfahrens mittels einer Beschwerdekammerentscheidung zu bestimmen. Vielmehr hat über diesen Antrag die Einspruchsabteilung zu entscheiden (Artikel 116 EPÜ).

Insoweit ist allerdings anzumerken, dass insbesondere das Vorliegen neuer Anträge und neuer Entgegenhaltungen eine Sachverhaltsänderung im Sinne von Artikel 116(1) Satz 2 EPÜ darstellt. Der Erlass einer darauf gestützten Entscheidung ohne Durchführung einer beantragten weiteren mündlichen Verhandlung würde daher gegen das rechtliche Gehör verstoßen (T 2106/09, Gründe 2; T 1548/11, Gründe 1.3-1.5).

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung

zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

3. Die Beschwerdegebühren der Patentinhaberin und der

Einsprechenden werden zurückerstattet.

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