T 0780/20 (Simulierte Prozesseingangswerte/SIEMENS) of 5.6.2023

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2023:T078020.20230605
Datum der Entscheidung: 05 Juni 2023
Aktenzeichen: T 0780/20
Anmeldenummer: 15184517.9
IPC-Klasse: G05B 19/042
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Dezentrale Peripherie
Name des Anmelders: Siemens Aktiengesellschaft
Name des Einsprechenden: Festo SE & Co. KG
Kammer: 3.5.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54(3)
European Patent Convention Art 83
European Patent Convention Art 111(1)
European Patent Convention Art 123(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 011
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 015(8)
Schlagwörter: Neuheit gegenüber Art. 54(3)-Dokument
Neuheit - (ja): keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung
Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung
Zurückverweisung - (ja): Neuheit und erfinderische Tätigkeit nicht vollumfänglich geprüft
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 1924/19
T 1924/20
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent zu widerrufen (Artikel 101 (2) EPÜ). Die Einspruchsabteilung war der Ansicht, dass der Gegenstand von Anspruch 1 wie erteilt gegenüber folgender Druckschrift nicht neu sei (Artikel 54 (3) EPÜ):

D8: EP 2 985 663 A1.

II. Am 5. Juni 2023 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.

Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und den Einspruch zurückzuweisen.

Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.

III. Anspruch 1 des Hauptantrags, d. h. Anspruch 1 wie erteilt, lautet wie folgt (Merkmalsgliederung der Kammer):

a) "Dezentrale Peripherie mit

b) - Prozesseingabe- und Prozessausgabe-Modulen (16a,

16b), welche in einer Prozesssteuerungs-Betriebsart mit an diesen Modulen (16a, 16b) angeschlossenen Feldgeräten interagieren, und

c) - einem Interface-Modul (15), in welchem

ein Prozessabbild (20) hinterlegt ist,

d) wobei in der Prozesssteuerungs-Betriebsart die Prozesseingabe-Module (16a) Prozesseingangswerte zur Verarbeitung mittels eines mit der dezentralen Peripherie (14) verbundenen Automatisierungsgerätes (2, 3) in das Prozessabbild (20) einschreiben und

e) das Automatisierungsgerät (2, 3) Prozessausgangswerte zur Verarbeitung mittels der Prozessausgabe-Module (16b) in das Prozessabbild (20) einschreibt,

f) dadurch gekennzeichnet, dass das

Interface-Modul (15) einen programmierbaren Baustein (17) aufweist, welcher dazu ausgebildet ist, in einer Simulations-Betriebsart

g) - den Zugriff der Prozesseingabe- und Prozessausgabe-Module (16a, 16b) auf das Prozessabbild (20) zu blockieren, und

h) Prozessausgangswerte des Automatisierungsgerätes (2, 3) aus dem Prozessabbild (20) auszulesen, simulierte Prozesseingangswerte zu berechnen und die simulierten Prozesseingangswerte in das Prozessabbild (20) einzuschreiben".

Entscheidungsgründe

1. Einspruchsgründe nach Artikel 100 b) und c) EPÜ

1.1 Die Kammer ist mit den Gründen 3 und 4 der angefochtenen Entscheidung einverstanden (vgl. Artikel 15 (8) VOBK 2020). Die Beschwerdegegnerin hat hierzu keine entsprechenden Gegenargumente vorgebracht.

1.2 Die Einspruchsgründe nach Artikel 100 b) und c) EPÜ stehen demnach der Aufrechterhaltung des Streitpatents nicht entgegen.

2. Anspruch 1 wie erteilt: Auslegung

2.1 Im ersten Satz der Gründe 5.1.3 der angefochtenen Entscheidung wird der Begriff "dezentrale Peripherie" des Merkmals a) von der Einspruchsabteilung wie folgt ausgelegt:

"Zusammenfassend kann die beanspruchte dezentrale Peripherie als eine Vorrichtung charakterisiert werden, die eine Schnittstelle zur Kommunikation mit Feldgeräten und eine Schnittstelle zur Kommunikation mit einem übergeordnete[n] Automatisierungsgerät aufweist, da diese Merkmale sich aus den obigen Passagen als wesentlich für die Funktion einer dezentralen Peripherie erweisen."

Die Kammer ist mit dieser Auslegung einverstanden.

2.2 Darüber hinaus vertritt die Einspruchsabteilung in den Gründen 5.3.2 der angefochtenen Entscheidung mit Bezug auf das Merkmal "1.5" korrekterweise die Auffassung, dass der Begriff "Modul" breit auslegbar ist. Allerdings sollte es sich dabei aus Sicht der Kammer um eine eigenständige und an sich austauschbare Einheit handeln. Entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin kann eine solche Einheit nicht nur als "körperliche[n] Modularität", sondern auch als funktionale Einheit ausgeführt werden. So ist es bei einem Programmierungsvorgang durchaus üblich, den entsprechenden Computercode nicht monolithisch zu gestalten, sondern in kleine Komponenten, d. h. "Module", zu unterteilen, wobei jedes Modul im Sinne einer modularen Programmierweise einem eigenen Aufgabenbereich zugeordnet ist und entsprechend als Einheit ausgetauscht werden kann.

2.3 Des Weiteren unterstützt die Kammer die von der Beschwerdegegnerin vorgenommene Auslegung, wonach das "Interface-Modul" gemäß Merkmal e) dazu ausgebildet sein muss, "dem Automatisierungsgerät einen Einschreibevorgang in das Prozessabbild zu ermöglichen, um Prozessausgangswerte einzuschreiben, die von den Prozessausgabe-Modulen verarbeitet werden können".

3. Anspruch 1 wie erteilt - Artikel 100 a) EPÜ - Neuheit gegenüber D8

3.1 In den Gründen 5.3.2 der angefochtenen Entscheidung wurden bezüglich des dort mit "1.8" bezeichneten Merkmals (d. h. Merkmal e) laut Nummerierung der Kammer), Zeilen 38 bis 50 der Spalte 8 in Dokument D8 herangezogen. Zunächst hält die Kammer dazu fest, dass in D8 ein für den fachkundigen Leser eindeutiger und unmittelbarer Hinweis fehlt, um das "Interface-Modul" von Merkmal c) im Sinne von Punkt 2.2 oben mit einer willkürlichen Auswahl von Bausteinen aus der in Figur 2 von D8 dargestellten Steuerung 30 ("dezentrale Peripherie" in der Anspruchsterminologie) gleichzusetzen. Danach kann die Kammer weder der von der Einspruchsabteilung in Gründen 5.3.2 der angefochtenen Entscheidung bezüglich "1.5" vorgenommenen Gruppierung der Blöcke 33, 34 und 37 bis 39 noch der von der Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer geltend gemachten Kombination aus den Blöcken 33, 34 und 37 zustimmen.

Auch wenn es einen solchen eindeutigen und unmittelbaren Hinweis gäbe, kann die Kammer nicht erkennen, dass das anspruchsgemäße "Interface-Modul" tatsächlich dazu ausgebildet wäre, einem Automatisierungsgerät ("Leitsystem 1") einen Einschreibevorgang in das Prozessabbild 34 zu ermöglichen (siehe auch Punkt 2.3 oben). Der Grund dafür ist, dass D8 keine Einzelheiten betreffend die Zugriffsrechte zum Einschreiben in das Prozessabbild 34 offenbart. Insbesondere zeigt D8 nicht, ob dem in Absatz [0024] von D8 genannten Leitsystem 1 überhaupt ein Zugriff auf das Prozessabbild 34 gewährt wird, um dort Prozessausgangswerte einzuschreiben. Vielmehr geht aus Spalte 8, Zeilen 26 bis 30 von D8 nur hervor, dass das Automatisierungsprogramm 33 das Prozessabbild 34 "führt". Dies bedeutet wiederum nur, dass im "realen Betrieb", also im Prozesssteuerungsbetrieb in D8, sämtliche Zugriffe auf das Prozessabbild 34 zwangsläufig über das Automatisierungsprogramm 33 laufen müssen (siehe auch Absatz [0026] in D8).

Umgekehrt lehrt die von der Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer herangezogene Textstelle in Spalte 8, Zeilen 30 bis 43 von D8 lediglich, dass im Simulationsmodus "[a]lternativ oder zusätzlich" das Simulationsprogramm 37 auf das Prozessabbild 34 zugreifen kann. Da ein Zugriff von dem Leitsystem 1 über das Automatisierungsprogramm 33

und/oder das Simulationsprogramm 37 auf das Prozessabbild 34 in D8 nicht eindeutig und unmittelbar offenbart ist, wird zumindest das Merkmal e) in Dokument D8 nicht gezeigt. Dies gilt auch unabhängig davon, ob und wie ein derartiger Zugriff im Streitpatent selbst offenbart wäre. Der "Gegenstand eines europäischen Patents" nach Artikel 100 a) EPÜ wird nämlich durch die Ansprüche bestimmt (vgl. T 1924/20, Gründe 2.7).

3.2 Somit ist der Gegenstand vom erteilten Anspruch 1 neu gegenüber D8 (Artikel 54 (3) EPÜ).

4. Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung

4.1 In der angefochtenen Entscheidung wurde der Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ lediglich hinsichtlich Artikel 54 (3) EPÜ in Bezug auf Dokument D8 geprüft. Aus den im obigen Punkt 3.1 genannten Gründen kommt die Kammer jedoch zum Schluss, dass Anspruch 1 wie erteilt gegenüber D8 neu ist.

4.2 Es ist weder der angefochtenen Entscheidung noch der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zu entnehmen, dass irgendeiner der von der Einsprechenden in ihrem Einspruchsschriftsatz geltend gemachten Einspruchsgründe explizit zurückgenommen wurde.

4.3 Die Kammer ist des Weiteren der Ansicht, dass es im vorliegenden Fall nicht angezeigt erscheint, eine endgültige Entscheidung hinsichtlich Artikel 54 und 56 EPÜ zu treffen. Wie die Kammer für den Fall T 1924/19, Gründe 3.2, in anderer Besetzung bereits festgehalten hat, stellt dies einen "besonderen Grund" dar, der dafür spricht, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung insbesondere der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit gegenüber anderem, in der Akte befindlichen Stand der Technik zurückzuverweisen (Artikel 11 VOBK 2020).

4.4 Die Parteien haben gegen eine solche Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung keine Bedenken geäußert.

4.5 Mithin wird die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung nach Artikel 111 (1) EPÜ zurückverwiesen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

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