T 0705/20 (Streckwärmebehandlung/SIG) of 24.2.2023

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2023:T070520.20230224
Datum der Entscheidung: 24 Februar 2023
Aktenzeichen: T 0705/20
Anmeldenummer: 11760994.1
IPC-Klasse: B32B 38/04
B65D 5/74
B32B 3/10
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: VON EINER ROLLE GEFORMTER BEHÄLTER MIT VERBESSERTEN ÖFFNUNGSEIGENSCHAFTEN DURCH STRECKWÄRMEBEHANDLUNG VON POLYMERSCHICHTEN
Name des Anmelders: SIG Technology AG
Name des Einsprechenden: Tetra Laval Holdings & Finance SA
Kammer: 3.3.06
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 111
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 011
European Patent Convention R 103(1)(a)
Schlagwörter: Zurückverweisung - wesentlicher Mangel im Verfahren vor der ersten Instanz (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - angefochtene Entscheidung ausreichend begründet (nein)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - entspricht der Billigkeit wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
R 0008/15
T 0425/97
T 1083/01
T 0763/04
T 1123/04
T 0537/05
T 0246/08
T 2106/09
T 1548/11
T 1278/14
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerden der Patentinhaberin und der Einsprechenden richten sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent auf Basis des dritten Hilfsantrags aufrecht zu erhalten. Die Abteilung war unter anderem zu dem Schluss gekommen, der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags sei nicht erfinderisch gegenüber D12 (WO 98/14317 Al) und Anspruch 1 des ersten und zweiten Hilfsantrags sei unzulässig erweitert (Artikel 123 (2) EPÜ).

II. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 (entspricht dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hauptantrag) in der von der Patentinhaberin vorgelegten Merkmalsgliederung hat den folgenden Wortlaut:

"1.1 Ein Verfahren zur Herstellung eines einen

Behälterinnenraum (1) von der Umgebung (2)

abgrenzenden Behälters (3)

1.2 zumindest teilweise gebildet aus einem

flächenförmigen Verbund (4),

beinhaltend die Verfahrensschritte:

1.3 (I) Bereitstellen eines flächenförmigen Verbund

(4) auf einer Rolle (29)

1.4 (II) Bilden des Behälters (3) aus dem

flächenförmigen Verbund (4) von der Rolle (29)

1.5 (III) Verschließen des Behälters (3); wobei der

flächenförmige Verbund (4) als

Verbundbestandteile beinhaltet:

1.6 - eine der Umgebung (2) zugewandte

Polymeraußenschicht (4_1);

1.7 - eine auf die Polymeraußenschicht (4_1) zum

Behälterinnenraum (1) hin folgende

Trägerschicht (4_2);

1.8 - eine auf die Trägerschicht (4_2) zum

Behälterinnenraum (1) hin folgende

Barriereschicht (4_3);

1.9 - eine auf die Barriereschicht (4_3) zum

Behälterinnenraum folgende Haftschicht (4_4)

1.10 - eine auf die Haftschicht (4_4) zum

Behälterinnenraum (1) hin folgende

Polymerinnenschicht (4_5); wobei der

flächenförmige Verbund (4) auf einer Rolle (29)

erhältlich ist durch ein Verfahren, beinhaltend

die Verfahrensschritte

1.11 a. Bereitstellen eines mindestens die

Trägerschicht (4_2) aufweisenden

Verbundvorläufers;

1.12 b. Aufbringen der Haftschicht (4_4) und der

Polymerinnenschicht (4_5) durch

Schichtextrusion;

1.13 d. Aufrollen des flächenförmigen Verbundes auf die

Rolle (29)

1.14 wobei mindestens die Polymerinnenschicht (4_5)

oder mindestens die Haftschicht (4_4) oder

mindestens beide während des Aufbringens

gestreckt werden,

1.15 wobei die Trägerschicht (4_2) ein Loch (5)

aufweist,

1.16 das mindestens mit der Barriereschicht (4_3),

der Haftschicht (4_4) und der

Polymerinnenschicht (4_5) als

Lochdeckschichten (6) überdeckt ist,

1.17 und wobei mindestens eine der ein gestrecktes

Polymer beinhaltenden Lochdeckschichten nach dem

Bilden des Behältervorläufers thermisch behandelt

wird."

III. Mit ihrer Beschwerdebegründung reichte die Einsprechende drei neue Dokumente D13-D15 ein und beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den vollständigen Widerruf des Patents.

IV. Mit ihrer Beschwerdebegründung reichte die Patentinhaberin sieben neue Dokumente B1-B7 sowie sechs neue Hilfsanträge ein und beantragte unter anderem die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung sowie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr. Zu diesen Anträgen brachte die Patentinhaberin unter anderem vor, die angefochtene Entscheidung sei nicht ausreichend begründet, denn wichtige Argumente seien darin nicht gewürdigt worden, insbesondere zur Offenbarung von Merkmal 1.14 in D12. Dieser Mangel stelle auch eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs dar.

V. Mit ihrer Beschwerdeerwiderung reichte die Einsprechende vier weitere Dokumente D16-D19 ein und brachte unter anderem vor, die Entscheidung sei hinreichend begründet.

VI. Mit ihrer Beschwerdeerwiderung reichte die Patentinhaberin zwei weitere Dokumente B9-B10 sowie einen weiteren Hilfsantrag 5a ein.

VII. In der Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK 2020 wies die Kammer darauf hin, dass sie geneigt sei, der Beschwerde der Patentinhaberin stattzugeben und die Angelegenheit zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

VIII. Daraufhin zog die Einsprechende für den Fall, dass die Entscheidung aufgehoben und die Sache an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen würde, ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurück. In der Folge wurde der Termin für die mündliche Verhandlung aufgehoben.

IX. Die letzten Anträge im schriftlichen Verfahren waren wie folgt:

Die Patentinhaberin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen. Zudem beantragt sie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr sowie hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf Basis der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1-23, gemäß der in Anhang B8 festgelegten Antragsbezeichnung, bzw. auf Basis von Hilfsantrag 5a, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung. Ferner beantragt sie die Nichtzulassung von D13-D19.

Die Einsprechende beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

Zudem beantragt sie die Zurückweisung der Beschwerde der Patentinhaberin, die Nichtzulassung von B1-B3, B5-B7 und B9-B10 sowie die Nichtzulassung der von der Patentinhaberin mit der Beschwerdebegründung neu eingereichten Hilfsanträge 2, 5, 7 und 9-11 sowie von Hilfsantrag 5a. Für den Fall, dass die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen wird, beantragt sie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.

Entscheidungsgründe

1. Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (Artikel 116 EPÜ)

Wie im Folgenden ausgeführt wird, ist dem Hauptantrag der Patentinhaberin auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung ebenso wie dem Antrag beider Parteien auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr stattzugegeben. Da die Einsprechende für diesen Fall ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurückgezogen hat, kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.

Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Entscheidung der Kammer zu den weiteren Anträgen der Parteien betreffend die Aufrechterhaltung des Streitpatents und die Zulassung von neuem Vorbringen.

2. Begründungsmängel und rechtliches Gehör

Die angefochtene Entscheidung ist nicht hinreichend begründet (Regel 111(2) EPÜ), denn wichtige Argumente der Patentinhaberin werden darin nicht gewürdigt, wodurch ihr rechtliches Gehör verletzt wurde (Artikel 113(1) EPÜ).

2.1 Die Patentinhaberin hat insoweit vorgetragen, dass die Entscheidung im Hinblick auf die Offenbarung des Merkmals 1.14 in D12 unzureichend begründet sei. Insbesondere finde sich keinerlei Auseinandersetzung mit den ausführlichen Argumenten, die sie hierzu in mehreren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung vorgetragen habe.

2.2 Die Einspruchsabteilung hat zur Auslegung von Merkmal 1.14 im Kontext von Anspruch 1 in Abschnitt 2.4.1 der Entscheidung erläutert, dass lediglich die durch das Strecken hervorgerufenen Produktmerkmale berücksichtigt werden können. Im nächsten Absatz (2.4.2) hat sie dann das Argument der Einsprechenden, eine gestreckte Schicht ließe sich nicht über den gesamten Anspruchsbereich (d.h. auch für niedrige Verstreckungen) von einer ungestreckten unterscheiden, mit folgenden Worten zurückgewiesen: "Diese Ansicht wird von der Einspruchsabteilung nicht geteilt, da nach dem technischen Verständnis das im Anspruch definierte Strecken einer Polymerschicht während ihres Aufbringens durch Schichtextrusion zwangsläufig eine Mindeststreckung bedeutet, die eine messbare Orientierung des Polymers bewirkt."

Die Abteilung argumentiert hier also, dass das Strecken nach Merkmal 1.14 anspruchsgemäß so durchgeführt wird, dass es zu einer messbaren Polymerorientierung der Haft- und/oder Polymerinnenschicht führt und somit zu einem Produktmerkmal, das bei der Prüfung zu berücksichtigen sei.

2.3 Aus Punkt 2.6.3 der Entscheidung ist zu schließen, dass die Abteilung in Merkmal 1.14 kein Unterscheidungsmerkmal gegenüber D12 sieht, da sie dieses unter der Überschrift "Unterschiede zu D12" nicht auflistet. Gleichwohl finden sich unter Punkt 2.6.1 und 2.6.2 der Entscheidung keine Ausführungen dazu, wo in D12 dieses Merkmal offenbart sein soll. Im Hinblick auf die oben erwähnten Ausführungen unter Punkt 2.4.1 und 2.4.2 der angefochtenen Entscheidung kann lediglich vermutet werden, dass die Abteilung Merkmal 1.14 deshalb als offenbart ansah, weil laut D12 die Polymerinnenschicht eine Orientierung und damit das aus durch die Verstreckung hervorgerufene Produktmerkmal aufweist (vgl. Punkt 2.6.1.3, S. 11, 2. Absatz der angefochtenen Entscheidung). Explizit kann dies der Entscheidung indes nicht entnommen werden.

2.4 Gravierender ist an dieser Stelle jedoch, dass die Patentinhaberin im Einspruchsverfahren (Eingabe vom 23. April 2018, Seite 16, letzter Absatz - Seite 18, erster Absatz) verschiedene Gründe vorgebracht hat, warum ihrer Ansicht nach die bloße Offenbarung einer Polymerorientierung Merkmal 1.14 nicht vorwegnehmen kann. Unter anderem hat sie mit Verweis auf die von ihr vorgelegten Nachstellungen vorgebracht, eine Verstreckung führe nicht nur zu einer Polymerorientierung, sondern zu weiteren technischen Merkmalen, so dass die bloße Offenbarung einer Polymerorientierung Merkmal 1.14 nicht vorwegnehmen könne. Warum diese Argumente nicht überzeugen konnten, geht aus der Entscheidung nicht hervor, denn keines dieser Argumente wird in der Entscheidung aufgegriffen oder widerlegt.

2.5 Die Abteilung hat außerdem in Abschnitt 5.2.1 zum Hilfsantrag 3 im Rahmen der Prüfung der Neuheit Folgendes ausgeführt (Hervorhebungen durch die Kammer):

"Aus der D12 sind zusätzlich zu den vorbekannten Merkmalen des Anspruchs 1 des Hauptantrags auch das Schmelzstrecken mit seinen Aufbringschritten gemäß den eingeführten ursprünglichen Ansprüchen 8 und 9 implizit offenbart, da die in D12 erwähnte Schichtextrusion ("extrusion coating" auf Seite 3 Zeile 20) zwangsläufig zur Herstellung der extrem dünnen Polymerschichten eines Trinkbehälters mit einer Bewegungsgeschwindigkeit der Trägerschicht erfolgt, die um ein vielfaches höher liegt als die Austrittsgeschwindigkeit des Schmelzefilms."

Diese Ausführungen stehen zwar im Kontext der Diskussion des dritten Hilfsantrags, aber dies ist nicht relevant, weil es unabhängig vom diskutierten Antrag um die Offenbarung von D12 geht.

Aus dem oben wiedergegebenen Absatz geht hervor, dass die Auslegung des Merkmals 1.14 als "Product-by-Process"-Merkmal zumindest nicht der einzige Grund war, warum die Abteilung das Merkmal in D12 offenbart sah. Vielmehr war sie anscheinend der Meinung, dass die in D12 explizit offenbarte Extrusion zwangsläufig auch ein (Schmelz-)Verstrecken beinhalte und somit Merkmal 1.14 impliziere (vgl. in diesem Sinne auch den Ladungszusatz vom 23. Oktober 2018, Seite 6, vorletzter Absatz). Das Argument der Einsprechenden, die Entscheidung beruhe nicht auf einer impliziten Offenbarung von Merkmal 1.14 in D12, so dass keine Notwendigkeit bestanden habe, die entsprechenden Gegenargumente der Patentinhaberin zu würdigen, greift somit nicht durch.

2.6 Die Patentinhaberin hat in diesem Zusammenhang insbesondere die folgenden Gegenargumente vorgetragen: Mit der Einspruchserwiderung vom 23. April 2018 (ab Seite 27 oben) hat sie vorgebracht, dass eine Extrusionsbeschichtung auch bei Vvor = Vaus bzw. bei Vvor < Vaus durchgeführt werden könnte und somit keine Verstreckung (Vvor > Vaus) impliziere. Mit Schreiben vom 26. März 2019 (ab Seite 13, letzter Absatz) hat sie dieses Argument wiederholt und noch weiter vorgebracht, eine Verstreckung sei auch zur Erzeugung hochdünner Schichten nicht zwingend notwendig, da die Dicke der Schicht auch über die Breite des Extruderschlitzes oder des Nips eingestellt werden könne. Ferner sei nicht nachgewiesen, dass die Schichten aus D12 in diesem Sinne "hochdünn" seien. Mit Schreiben vom 7. August 2019 (ab Seite 66) hat sie unter anderem anhand der Kontinuitätsgleichung noch einmal erläutert, dass eine Extrusionsbeschichtung nicht zwingend eine Polymerverstreckung involviere. Schließlich hat die Patentinhaberin ausweislich des korrigierten Protokolls vom 9. März 2020 während der mündlichen Verhandlung intensiv zur Frage der impliziten Offenbarung eines Merkmals im Lichte der Rechtsprechung vorgetragen und dargelegt, dass das Aufbringen einer Schicht durch Schichtextrusion auch ohne Streckung möglich sei, was aus der Kontinuitätsgleichung folge.

2.7 Die Abteilung hat in ihrer Entscheidung diese Argumente nicht aufgegriffen, so dass es weder für die Kammer noch für die Patentinhaberin ersichtlich ist, warum sie nicht überzeugen konnten. Zwar ist nach gefestigter Rechtsprechung (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, III.B.2.4.3) eine Einspruchsabteilung nicht verpflichtet, jedes einzelne Argument aufzugreifen, wenn die angeführten Gründe es den Beteiligten erlauben nachzuvollziehen, ob die Entscheidung gerechtfertigt ist oder nicht, aber dies ist im vorliegenden Fall eben nicht möglich. Außerdem ist für die Kammer wesentlich, dass es sich bei der Frage der Offenbarung von Merkmal 1.14 nicht um einen Nebenaspekt der erstinstanzlichen Diskussion gehandelt hat, sondern um eine der Kernfragen, zu der die Patentinhaberin in erster Instanz umfänglich vorgetragen hat, so dass es zur Wahrung des rechtlichen Gehörs der Patentinhaberin notwendig gewesen wäre, ihre Gegenargumente in angemessenem Umfang in der Entscheidung zu würdigen (Artikel 113(1) EPÜ).

2.8 Die Frage, ob Merkmal 1.14 in D12 offenbart ist, war (und ist noch immer) für die Beurteilung der verfahrensgegenständlichen Anträge wesentlich. Dies gilt insbesondere für die Prüfung der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D12. Die im Rahmen des Aufgabe-Lösungsansatzes zu formulierende Aufgabe hängt nämlich wesentlich mit den festgestellten Unterscheidungsmerkmalen zusammen. Sollte Merkmal 1.14 ein weiteres Unterscheidungsmerkmal darstellen, so bedarf es konkreter Feststellungen dazu, warum das Unterscheidungsmerkmal für den Fachmann nahegelegen haben soll. In diesem Zusammenhang wäre auch zu prüfen, ob das Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zu dem nächstliegenden Stand der Technik einen Effekt hervorruft. Zu dieser Frage hat die Patentinhaberin umfassend vorgetragen und Versuchsberichte vorgelegt, deren Relevanz im Hinblick auf D12 gegebenenfalls zu prüfen wäre.

Sofern die Argumente der Patentinhaberin dazu führen würden, dass dem Hauptantrag ausgehend von D12 die erfinderische Tätigkeit nicht abgesprochen werden kann, so wären ggf. umfangreiche weitere Prüfungen (z.B. ggf. erfinderische Tätigkeit zumindest ausgehend von D1 und D11, siehe Ladungsanhang vom 23.10.2018, Punkt 7.6.2) vorzunehmen.

2.9 Das Argument der Einsprechenden, das rechtliche Gehör der Patentinhaberin könne allein angesichts der Verhandlungsdauer von 11 Stunden nicht verletzt sein, greift nicht durch, denn es folgt aus der gefestigten Rechtsprechung, dass es zur Gewährung des rechtlichen Gehörs nicht ausreicht, dass sich die Beteiligten in der Sache äußern können, sondern es müssen die vorgebrachten Argumente in der Entscheidung auch gewürdigt werden (vgl. R 8/15, Gründe 2.2.2; T 763/04, Gründe 4.3; T 1123/04, Gründe 2.2.4 und T 246/08, Gründe 2.2). Wie oben dargelegt, hat die Abteilung dies im Hinblick auf die Ausführungen der Patentinhaberin zur Offenbarung des Merkmals 1.14 in D12 unterlassen.

3. Zurückverweisung

Die unterbliebene Würdigung von Kernargumenten zu Merkmalen, deren Offenbarung für die Beurteilung der Patentierbarkeit wesentlich sind, ist ein schwerwiegender Verfahrensfehler, der im vorliegenden Verfahren nach Artikel 111(1) EPÜ, Artikel 11 VOBK 2020 eine Zurückverweisung an die erste Instanz rechtfertigt.

4. Rückzahlung der Beschwerdegebühr

4.1 Der schwerwiegende Verfahrensfehler rechtfertigt nach Regel 103 (1) a) EPÜ die Rückzahlung der Beschwerdegebühr der Patentinhaberin.

4.2 Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr der Einsprechenden wird ebenfalls angeordnet (vgl. ebenso in entsprechenden Konstellationen: Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, V.A.11.3.6, neben der dort erwähnten Entscheidung siehe auch T 537/05, Entscheidungsgründe 4; T 1083/01, Entscheidungsgründe 4 und T 425/97 Entscheidungsgründe 4; T 1278/14, Entscheidungsgründe 18). Regel 103(1) a) EPÜ wäre dem Wortlaut nach zwar nicht anwendbar, weil die Kammer über die Beschwerde der Einsprechenden nicht entschieden und ihr damit auch nicht stattgegeben hat. Gleichwohl ist Regel 103(1) a) EPÜ entsprechend anwendbar, weil auch für die Einsprechende durch den Verfahrensmangel bedingte zusätzliche Verfahrenskosten anfallen. Sinn und Zweck der Regelung ist es, eine Partei, die Gebühren für das Beschwerdeverfahren aufgewendet hat, von diesen Kosten zu entlasten, wenn dies der Billigkeit entspricht, weil die Einlegung der Beschwerde und die damit verbundenen Kosten durch den Verfahrensfehler veranlasst wurden (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, V.A.11.7). Dies gilt insbesondere, wenn es infolge eines schweren Verfahrensfehlers zu einer Zurückverweisung an die erste Instanz kommt, ohne dass eine weitergehende inhaltliche Prüfung der Begründetheit der Beschwerde erfolgt. Zwischen dem Verfahrensfehler und der Einlegung der Beschwerde der Einsprechenden bestand zwar kein Kausalzusammenhang, jedoch läuft die Beschwerde der Einsprechenden ins Leere, weil ihre Begründetheit infolge der Zurückverweisung nicht geprüft wird. Durch die Zurückverweisung und die danach erfolgende erneute Entscheidung der Einspruchsabteilung kann sich für die Einsprechenden die Notwendigkeit ergeben, erneut eine Beschwerde einzulegen. Es wäre unbillig, die Einsprechende mit diesen mittelbar infolge des Verfahrensfehlers entstehenden zusätzlichen Gebühren zu belasten.

5. Dem Antrag der Patentinhaberin, eine weitere mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung abzuhalten, kann nicht stattgegeben werden, denn es ist keine Rechtsgrundlage ersichtlich, die es erlauben würde, die einzelnen Verfahrensschritte des Einspruchsverfahrens mittels einer Beschwerdekammerentscheidung zu bestimmen. Vielmehr hat über diesen Antrag die Einspruchsabteilung zu entscheiden (Artikel 116 EPÜ).

Insoweit ist allerdings anzumerken, dass insbesondere das Vorliegen neuer Anträge und neuer Entgegenhaltungen eine Sachverhaltsänderung im Sinne von Artikel 116(1) Satz 2 EPÜ darstellt. Der Erlass einer darauf gestützten Entscheidung ohne Durchführung einer beantragten weiteren mündlichen Verhandlung würde daher gegen das rechtliche Gehör verstoßen (T 2106/09, Gründe 2; T 1548/11, Gründe 1.3-1.5).

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung

zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

3. Die Beschwerdegebühren der Patentinhaberin und der

Einsprechenden werden zurückerstattet.

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