European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2020:T067420.20200625 | ||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Datum der Entscheidung: | 25 Juni 2020 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0674/20 | ||||||||
Anmeldenummer: | 17174238.0 | ||||||||
IPC-Klasse: | B66F9/24 B66F9/075 |
||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
Download und weitere Informationen: |
|
||||||||
Bezeichnung der Anmeldung: | VERFAHREN ZUR STEUERUNG EINES FLURFÖRDERZEUGS | ||||||||
Name des Anmelders: | Linde Material Handling GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | 3.2.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
|
||||||||
Schlagwörter: | Neuheit - (ja) Erfinderische Tätigkeit - (ja) |
||||||||
Orientierungssatz: |
- |
||||||||
Angeführte Entscheidungen: |
|
||||||||
Anführungen in anderen Entscheidungen: |
|
Sachverhalt und Anträge
I. Die Anmelderin (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung ein, die europäische Patentanmeldung EP 17 174 238 (nachstehend "Streitanmeldung") zurückzuweisen.
a) Die Prüfungsabteilung hatte entschieden, dass das Verfahren des unabhängigen Anspruchs 1 der Streitanmeldung nicht neu sei sowohl gegenüber
D1: PAWEL ZAJAC ED - GOLINSKA ET AL: "Model of Forklift Truck Work Efficiency in Logistic Warehouse System", 1. Januar 2014, LOGISTICS OPERATIONS, SUPPLY CHAINMANAGEMENT AND SUSTAINABILITY, SPRINGER, CH, PAGES 467-479, XP009501156,ISBN: 978-3-319-07286-9
als auch gegenüber
D2: US 2014/278823 Al
und folglich die Erfordernisse des Artikel 54 EPÜ nicht erfülle.
b) Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf der Grundlage des Hauptantrags, hilfsweise auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1-8, alle eingereicht mit der Beschwerdebegründung, weiterhin hilfsweise eine mündliche Verhandlung.
II. In der vorliegenden Entscheidung wird auf die im Recherchenbericht zur Anmeldung zitierten Dokumente Bezug genommen.
III. Die Merkmale des unabhängigen Anspruchs 1 des Hauptantrags lauten:
M1: Verfahren zur Bestimmung eines Indikationswertes für die Effizienz eines Flurförderzeugs, wobei das Flurförderzeug
M2a: Erfassungsmittel zur Bestimmung einer Hubhöhe (5) einer Hubvorrichtung,
M2b: Erfassungsmittel zur Bestimmung eines Lastgewichtes und
M2c: Erfassungsmittel zur Bestimmung der Beschleunigung und/oder Geschwindigkeit und/oder zurückgelegten Fahrstrecke des Flurförderzeugs aufweist, und
M3: durch einen Erfassungsrechner (2) der Indikationswert bestimmt wird,
dadurch gekennzeichnet, dass
M4: der Erfassungsrechner (2) den Indikationswert aus der Summe aus einer Hubarbeit (12) und einer Transportarbeit (11) über einen Messzeitraum bestimmt,
M5: wobei die Hubarbeit (12) dem Produkt aus Lastgewicht und angehobener Hubhöhe (5) entspricht und
M6: die Transportarbeit (11) der für die Bewegung des Lastgewichts erforderlichen Energie entspricht.
Entscheidungsgründe
1. Neuheit gegenüber D1
1.1 Das Verfahren des Anspruchs 1 ist neu gegenüber D1 (Artikel 54(1) EPÜ).
1.2 D1 offenbart ein mathematisches Modell zur Ermittlung der Effizienz eines Gabelstaplers (Titel). Darin wird u.a. die potenzielle Energie, die zum Heben und Senken einer Last benötigt wird, berücksichtigt (Zusammenfassung). Das Modell wird mit Hilfe der Geometrie und der Kennwerte eines beschriebenen Gabelstaplers beispielhaft angewendet.
1.3 Umstritten sind die Merkmale M2a, M2b, M2c. Die Prüfungsabteilung sieht M2a in Fig. 7 (H), M2b in Gleichung 3 (Gl) und M2c auf S. 470, Z. 10 ("travelling speed") offenbart. Weiterhin wird argumentiert, dass in Fig. 5 ein Gabelstabler offenbart sei.
1.4 Bei den Werten H und Gl handelt es sich zwar um Größen, die in das mathematische Modell eingehen, sie können jedoch nicht als Erfassungsmittel des Flurförderzeugs ausgelegt werden. Des Weiteren ist der Beschreibung des in Fig. 5 gezeigten Gabelstaplers auf S. 471, Z. 4-S. 473, letzte Zeile an keiner Stelle zu entnehmen, dass der Gabelstapler Erfassungsmittel aufweist oder die in M2a-M2c genannten Größen durch derartige Erfassungsmittel bestimmt würden.
1.5 Weiterhin umstritten sind die Merkmale M4-M6. Die Prüfungsabteilung sieht die Hubarbeit in Formel (3) und die Transportarbeit auf S. 470, Z. 11-12, offenbart. Weiterhin sei die Kombination der Hubarbeit mit der Transportarbeit grundsätzlich in D1 offenbart (z.B. Zusammenfassung, S. 470, Z. 17-19).
1.6 D1 offenbart zwar die Berücksichtigung der Hubarbeit zusätzlich zu existierenden Effizienzmodellen, der D1 kann jedoch nicht unmittelbar entnommen werden, dass ein Indikationswert aus der Summe von Hubarbeit und Transportarbeit bestimmt wird. Der Formel (3) ist die Einheit [N] für eine Hubkraft und nicht diejenige [Nm] für eine Hubarbeit zugeordnet. Weiterhin werden darin keine Transportkräfte berücksichtigt.
Die Merkmale M4 und M6 sind folglich ebenfalls nicht in D1 offenbart.
2. Neuheit gegenüber D2
2.1 Das Verfahren des Anspruchs 1 ist neu gegenüber D2 (Artikel 54(1) EPÜ).
2.2 D2 offenbart ein Verfahren zur Normung von industriellen Fahrzeugen, z.B. Gabelstaplern, zum Zwecke des Vergleichs und der Analyse. Dazu werden insbesondere Fahr- und Hubwege berücksichtigt (Absätze [0002, 0007]).
2.3 Umstritten sind die Merkmale M2a, M2b, M2c. Die Prüfungsabteilung sieht die Merkmale M2a und M2b in Absatz [0090] ("an three-foot-high shelf (0.91 meter shelf)"; "a 2000 pound (907 Kilogram)") und M2c in den Absätzen [0033, 0035] ("travel distance") offenbart.
2.4 Zunächst wird angemerkt, dass die alleinige Angabe der Regalhöhe bzw. des Palettengewichts nicht als Offenbarung von Erfassungsmitteln zur Bestimmung der Hubhöhe bzw. des Lastgewichts angesehen werden kann. Andererseits offenbaren die Absätze [0033, 0034], dass Parameter gemessen werden, die typisch für eine bestimmte Kategorie der Fahrzeugnutzung ist. Diese Parameter können z.B. Fahrwege oder Hubwege sein, die über einen Kilometerzähler ("odometer") oder ein Navigationssystem bzw. einen Encoder erfasst werden (Absatz [0047]). Über ein "information linking device 38", das mit Fahrzeugkomponenten wie Sensoren, Fahrzeugsteuerung, Fahrzeugprozessoren oder Encodern kommuniziert, werden die Messwerte der Parameter gesammelt (Absatz [0041]).
Weiterhin offenbart Absatz [0059] mögliche Erfassungsmittel zur Bestimmung des Lastgewichts. Dies sind zwar keine exakten Messmittel, jedoch kann das Lastgewicht über das "information linking device 38" z.B. in Form von Laststufen ("range of loads" oder "graduated scale") bestimmt werden.
2.5 Folglich werden alle in Anspruch 1 definierten Erfassungsmittel offenbart (M2a, M2b, M2c).
2.6 Weiterhin umstritten sind die Merkmale M4-M6. Die Anmelderin gibt an, dass weder die Summenbildung aus Hubarbeit und Transportarbeit der D2 entnehmbar sei, noch dass die Hubarbeit oder die Transportarbeit überhaupt in den Indikationswert einginge. Die Prüfungsabteilung verweist diesbezüglich auf Absatz [0007], Absatz [0046] sowie die Formel (2) in Absatz [0101] bzw. [0008].
2.7 Die Formel (1) bildet jedoch lediglich eine Summe über das Produkt aus einer Gewichtung und einer Zeitdauer, die in Formel (2) durch die Summe der Gesamtzeit geteilt wird.
Formel (3) offenbart die Summenbildung über das Produkt aus einer Gewichtung und einer Strecke, die durch die Summe der Gesamtzeit geteilt wird.
Das Lastgewicht wird darin nicht berücksichtigt. D2 berücksichtigt vielmehr eine Gewichtung in Abgängigkeit der z.B. in Fig. 5 gezeigten Kategorien und dem Fahrzeugtyp (Absatz [0103]). Folglich wird in den Formeln (1) und (3) die Gewichtung des jeweiligen Fahrzeugtyps für z.B. die Kategorie "Travel loaded" mit der entsprechenden Zeit oder Strecke multipliziert und mit den Produkten aus Gewichtung (Travel unloaded/ lift loaded/ lift unloaded) und entsprechender Zeitspanne oder Wegstrecke dieser Kategorien addiert.
2.8 Das in Absatz [0089] bis Absatz [0098] beschriebene Beispiel summiert den für jeden Arbeitsschritt des Fahrzeugs erforderlichen Batterieverbrauch in kWh. Zwar erhält man dadurch einen Wert in der Einheit der Arbeit bzw. Energie, dieser wird jedoch nicht aus einer Summe von Lastgewicht*Hubhöhe und Lastgewicht*Fahrweg ermittelt. Vielmehr wird die Hub- und die Transportarbeit in Form des Energieverbrauchs über einen Messzeitraum ermittelt und aufsummiert, vgl. z.B. Absatz [0091] "This unloaded, northbound travel draws 50 amperes of current from a 36 volt, 600 amp-hour battery over the course of 0.2 minutes", Absatz [0094] "the loaded forklift travels 50 feet westbound, thereby drawing 150 amperes from the battery over 0.7 minutes" und Absatz [0097] "the total event cost of this operation is 31,320 kWh. This event cost was expended over the course of 4.9 minutes and over total distance of 176.8 feet.".
Folglich wird zwar M4, jedoch nicht M5 und M6 offenbart.
2.9 In den Absätzen [0074]-[0083] wird eine Arbeitseinheit ("Work Unit W.U.") bestimmt, die sich aus der Summe aller horizontaler Wege und aller vertikaler Wege im Verhältnis zu einem Normierungsfaktor ("standardizing factor") berechnet. Auch dieser Wert wird folglich nicht aus der Summe von Hub- und Transportarbeit bestimmt.
3. Erfinderische Tätigkeit
3.1 Das Verfahren des Anspruchs 1 beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ.
3.2 D2 stellt den nächstliegenden Stand der Technik dar, da alle Merkmale des Oberbegriffs offenbart sind und die Lehre dem beanspruchten Verfahren näher kommt als das mathematische Modell der D1.
3.3 Anspruch 1 des Hauptantrags unterscheidet sich durch die Merkmale M5 und M6. Als Indikationswert wird in D2 der Energieverbrauch des in den Absätzen [0089] bis [0098] beschriebenen Beispiels angesehen (M4).
In Anspruch 1 wird folglich zur Bestimmung der jeweiligen Arbeit das Lastgewicht mit der Summe der horizontalen und vertikalen Wege und nicht der Energieverbrauch einer Stromquelle berücksichtigt. Dadurch spiegelt der Indikationswert nach Anspruch 1 zunächst eine Fahrzeugtyp-unabhängige, auf das Lastgewicht abgegebene Nutzenergie wieder. Dieser kann z.B. dividiert werden durch die von dem Flurfahrzeug aufgenommene Energie, z.B. Stromverbrauch und/ oder Brennstoffverbrauch, und so einen Wirkungsgrad darstellen (urspr. Beschreibung S. 4, Z. 26-29, S. 5, Z. 7-11, Z. 32- S. 6, Z. 12).
3.4 Weder D1 noch D2 legen die Ermittlung einer Fahrzeug-unabhängigen Nutzenergie als Indikationswert nahe. Zwar wird in D2 ein Fahrzeug-unabhängiger Wert W.U. offenbart, dieser berücksichtigt jedoch lediglich vertikale und horizontale Wegstrecken (Absätze [0077-0079]). Die in D1 ermittelte Hubarbeit (S. 475, Formel (3)) berücksichtigt unter Vernachlässigung der Reibungskräfte Wt zumindest einen Fahrzeug-abhängigen Wirkungsgrad einer Hydraulikpumpe etap. Auch alle anderen Formeln beinhalten Fahrzeug-abhängige Kennwerte.
Zum einen würde der Fachmann D2 nicht mit D1 kombinieren, da die Druckschriften unterschiedliche Formeln offenbaren, die nicht auf naheliegende Weise vereinbar sind. Doch selbst wenn er D2 und D1 kombinieren würde, enthält auch D1 keinen Hinweis auf eine Fahrzeug-unabhängigen Nutzenergie als Indikationswert.
Auch die weiteren, im Recherchenbericht genannten Druckschriften enthalten einen solchen Hinweis nicht.
4. Daraus folgt, dass die Ansprüche gemäß Hauptantrag (die den Ansprüchen wie ursprünglich eingereicht entsprechen) mit der am 29. Juni 2018 geänderten Beschreibung und den Figuren wie ursprünglich eingereicht eine geeignete Grundlage für die Patenterteilung darstellen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung, ein europäisches Patent auf der Grundlage folgender Unterlagen zu erteilen:
- Ansprüche 1 bis 10 des Hauptantrags wie ursprünglich eingereicht
- Beschreibungsseiten 1, 2 und 4 bis 9 wie ursprünglich eingereicht
- Beschreibungsseiten 3, 3a eingereicht mit Schreiben vom 29. Juni 2018
- Zeichnungsblätter 1/2 bis 2/2 wie ursprünglich eingereicht