T 0666/20 () of 30.11.2020

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2020:T066620.20201130
Datum der Entscheidung: 30 November 2020
Aktenzeichen: T 0666/20
Anmeldenummer: 15775450.8
IPC-Klasse: A61G1/013
A61G1/044
A61G1/01
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: RETTUNGSTRAGE
Name des Anmelders: thyssenkrupp Marine Systems GmbH
thyssenkrupp AG
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.2.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 83 (2007)
European Patent Convention Art 84 (2007)
European Patent Convention Art 111(1) (2007)
RPBA2020 Art 011 (2020)
RPBA2020 Art 012(2) (2020)
Schlagwörter: Ausreichende Offenbarung - (ja)
Patentansprüche - Deutlichkeit
Patentansprüche - (ja)
Zurückverweisung an die erste Instanz
Zurückverweisung - besondere Gründe für Zurückverweisung
Zurückverweisung - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdeführerinnen (Anmelderinnen) legten Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung ein, die europäische Patentanmeldung Nr. 15775450.8 zurückzuweisen.

II. Die Prüfungsabteilung begründete ihre Entscheidung damit, was den damals geltenden Hauptantrag betrifft, dass die Erfindung in der Patentanmeldung unter Verletzung von Art. 83 EPÜ nicht so deutlich und vollständig offenbart sei, dass ein Fachmann sie ausführen könne. Außerdem seien die Erfordernisse von Art. 84 EPÜ in Bezug auf die Klarheit auch nicht erfüllt.

Die Beschwerdeführerinnen beantragen die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf der Basis des mit der Beschwerdebegründung am 3. März 2020 eingereichten Hauptantrags, oder, hilfsweise, auf der Basis der auch mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 6.

Sollte eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung entschieden werden, so beantragen die Beschwerdeführerinnen, die Angelegenheit an eine andere Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.

III. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet wie folgt:

"Rettungstrage (10), wobei die Rettungstrage (10) aufrollbar ist, wobei die Rettungstrage (10) wenigstens zwei Bänder zum Fixieren einer Person in Längsrichtung der Rettungstrage (10) aufweist, wobei die Bänder zum Fixieren einer Person in Längsrichtung der Rettungstrage (10) so angeordnet sind, dass die Bänder oberhalb eines ersten Bereiches befestigt sind, wobei der erste Bereich zu Aufnahme der Schultern der Person an der Rettungstrage (10) ausgebildet ist, dadurch gekennzeichnet, dass an die Rettungstrage (10) eine entfaltbare Auftriebseinrichtung (50) angebracht ist, wobei die entfaltbare Auftriebseinrichtung (50) in einem zweiten Bereich an der Rettungstrage (10) befestigt ist, wobei der zweite Bereich zur Aufnahme des Nackens einer Person ausgebildet ist und wobei die entfaltbare Auftriebseinrichtung (50) schlauchförmig ausgeführt ist, wobei die entfaltbare Auftriebseinrichtung (50) im zweiten Bereich mit den Bändern zum Fixieren einer Person in Längsrichtung verbunden ist, wobei die Auftriebseinrichtung (50) so angeordnet ist, dass die Auftriebseinrichtung (50) direkt an einer auf der Rettungstrage (10) liegenden Person anliegt."

Im Folgenden wird auf die mit der Beschwerdebegründung eingereichte Reinschrift der angepassten Beschreibung gemäß Hauptantrag Bezug genommen.

Die Hilfsanträge sind für die vorliegende Entscheidung nicht relevant.

Entscheidungsgründe

1. Die Erfindung

Die Erfindung betrifft eine Rettungstrage zur Rettung von Personen aus räumlich beengten Bereichen, insbesondere zur Personenrettung auf See (Seite 1 der angepassten Beschreibung, erster Absatz). Gemäß Anspruch 1 weist die Rettungstrage zwei Bänder zum Fixieren einer Person in Längsrichtung der Rettungstrage auf. Diese Bänder sind mit der Rettungstrage oberhalb der Schulter befestigt und sollen verhindern, dass die Person beim Transport verrutschen kann (Seite 2, letzter Absatz).

Zusätzlich weist die Rettungstrage eine schlauchförmige, entfaltbare Auftriebseinrichtung (wie z.B. eine aufblasbare Einrichtung; Seite 3, erste Zeile) auf, die unter dem Nacken der Person liegen soll, um einen Auftrieb im Kopfbereich zu bewirken und somit ein Ertrinken zu verhindern (Seite 5, 2. Absatz).

2. Ausführbarkeit - Klarheit

2.1 Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist die Frage, ob eine Erfindung im Sinne von Art. 83 EPÜ ausreichend offenbart ist, anhand des Gesamtinhalts der Patentanmeldung, also unter Berücksichtigung der Beschreibung und der Zeichnungen, zu beantworten. Eine Erfindung ist im Prinzip ausreichend offenbart, wenn dem Fachmann mindestens ein Weg zu ihrer Ausführung eindeutig aufgezeigt wird (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 9. Auflage, 2019, II.C.5.2).

2.2 Anders als von der Prüfungsabteilung entschieden (Punkt 11.1 der angefochtenen Entscheidung), ist dieses Kriterium nach der Auffassung der Kammer in Bezug auf den Hauptantrag erfüllt und die vorliegende Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann. Die Patentanmeldung gemäß Hauptantrag enthält nämlich eine detaillierte Beschreibung eines Ausführungsbeispiels der erfindungsgemäßen Rettungstrage, in der der Fachmann insbesondere alle benötigten Einzelheiten findet, wie im Folgenden erläutert, um die beanspruchten "wenigstens zwei Bänder zum Fixieren einer Person in Längsrichtung der Rettungstrage" und "entfaltbare Auftriebseinrichtung", wesentliche Merkmale der Erfindung, in den in Anspruch 1 erwähnten unterschiedlichen Bereichen der Rettungstrage zu platzieren, sie an dieser zu befestigen und miteinander zu verbinden.

2.2.1 Bänder zum Fixieren einer Person und ihre Befestigung an der Rettungstrage oberhalb des ersten Bereiches

Die Bänder zum Fixieren einer Person in Längsrichtung der Rettungstrage, die in der Beschreibung auch "Schultergurt" mit dem Bezugzeichen 60 genannt sind, sollen verhindern, dass die Person verrutscht (Seite 2, letzter Absatz). Wie auf Seite 9, Zeilen 10-11, erwähnt, ist in der Figur 2 zwar nur ein Teil eines solchen Bandes schematisch dargestellt, so dass in Figur 2 keine Verbindung zwischen Band und Rettungstrage zu sehen ist, wie von der Prüfungsabteilung beanstandet. Dem Fachmann wird aber durch die Beschreibung auf Seite 2, letzter Absatz, sowie durch Anspruch 1, explizit erklärt, dass diese Bänder "so angeordnet [sind], dass die Bänder oberhalb eines ersten Bereiches befestigt sind, wobei der erste Bereich zu Aufnahme der Schultern der Person an der Rettungstrage ausgebildet ist". Diese Bänder sind somit an der Rettungstrage befestigt (sonst könnten sie ihre Funktion, die Person zu fixieren, nicht erfüllen) und damit wird ein "erster Bereich" klar definiert, nämlich als der Bereich der Rettungstrage unterhalb der Befestigungspunkte der beiden Bänder, in dem in Benutzung die Schultern der liegenden Person aufgenommen werden sollen.

2.2.2 Auftriebseinrichtung und ihre Befestigung an der Rettungstrage im zweiten Bereich

Die schlauchförmige, entfaltbare Auftriebseinrichtung soll einen Auftrieb im Kopfbereich bewirken, um ein Ertrinken zu verhindern (Seite 5, 2. Absatz). Dafür ist in der vorliegenden Erfindung vorgesehen, dass die Auftriebseinrichtung immer unter dem Nacken der Person liegen soll (Seite 3, 1. Absatz). Anspruch 1 definiert nämlich, dass "die entfaltbare Auftriebseinrichtung in einem zweiten Bereich an der Rettungstrage befestigt ist, wobei der zweite Bereich zur Aufnahme des Nackens einer Person ausgebildet ist". Diesen "zweiten Bereich" interpretiert der Fachmann daher eindeutig als den Bereich, der sich oberhalb des ersten Bereichs erstreckt, in dem der Nacken der Person aufgenommen werden soll.

Wie hoch der zweite Bereich sich ausdehnt, hängt natürlich von der Anatomie und Größe der Person ab, die auf der Rettungstrage liegt. Um der unvermeidlichen Variabilität der Körpergröße Rechnung zu tragen, sieht die Erfindung vor, dass die Befestigung der Auftriebseinrichtung mit der Rettungstrage in dem zweiten Bereich höhenverstellbar ausgebildet ist (Seite 8, letzter Absatz - Seite 9, erster Absatz), so dass die Auftriebseinrichtung bei beliebigen Personen stets im Nackenbereich liegen kann.

Die Verbindung in einem Brustbereich zwischen der Auftriebseinrichtung und der Rettungstrage, auf die die Prüfungsabteilung in ihrer Entscheidung hinwies, entspricht aber der zusätzlichen Befestigung der Auftriebseinrichtung mit der Rettungstrage über die Schnallen (30), die auf Seite 9, erster Absatz offenbart ist, und nicht der in Anspruch 1 definierten Befestigung im zweiten Bereich. Dadurch entsteht keine Unklarheit, so dass entgegen der Auffassung der Prüfungsabteilung der Fachmann in der Lage ist, die Platzierung und Ausdehnung beider Bereiche eindeutig abzuschätzen, und die Bänder bzw. die Auftriebseinrichtung entsprechend an der Rettungstrage zu befestigen.

2.2.3 Verbindung der Auftriebseinrichtung mit den Bändern im zweiten Bereich

Um die sichere Positionierung der Auftriebseinrichtung im Bereich des Nackens zu gewährleisten, ist die Auftriebseinrichtung im zweiten Bereich mit den Bändern verbunden, wie in Anspruch 1 definiert. Entgegen der Auffassung der Prüfungsabteilung ist diese Verbindung in der Beschreibung auf Seite 3, erster Absatz, ausführlich beschrieben.

Nach ständiger Rechtsprechung können Offenbarungslücken oder sogar Fehler in der Anmeldung durch das allgemeine Fachwissen des Fachmanns gefüllt bzw. erkannt und berichtigt werden (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 9. Auflage, 2019, II.C.4.1). Dass eine solche Verbindung im zweiten Bereich aus Figur 2 - im Gegensatz zu der dort dargestellten Nahtstelle (58) auf Schulterhöhe - nicht ersichtlich ist, wie von der Prüfungsabteilung beanstandet, ist daher unerheblich und hindert den Fachmann nicht daran, die Lehre der Beschreibung umzusetzen und somit die Auftriebseinrichtung und die Bänder im zweiten Bereich zu verbinden. Dies wäre zum Beispiel möglich in dem auf Figur 2 gezeigten Bereich, in dem die Auftriebseinrichtung und die Bänder parallel verlaufen, wie von den Beschwerdeführerinnen überzeugend vorgebracht.

Die durch die Nahtstelle (58) erzielte Verbindung auf Schulterhöhe entspricht nicht der oben erwähnten Verbindung, sondern einer nicht beanspruchten, optionalen zusätzlichen Verbindung in einem dritten Bereich, der gemäß der Beschreibung auch zur Aufnahme der Schulter ausgebildet ist (Seite 3, erster Absatz). Dadurch steht Figur 2 also weder im Widerspruch zur Beschreibung noch zu Anspruch 1.

2.3 Aus den obigen Gründen folgt, dass die Erfordernisse von Art. 83 EPÜ erfüllt sind.

2.4 Darüber hinaus stellt die Kammer keinen Klarheitsmangel im Hauptantrag fest. Insbesondere ist die Bedeutung des ersten und zweiten Bereichs, wie oben erklärt und entgegen der Auffassung der Prüfungsabteilung (Punkt 11.1 der angefochtenen Entscheidung), für den Fachmann klar. Die Kammer ist davon überzeugt, dass die Ansprüche deutlich gefasst sind und von der Beschreibung gestützt werden. Folglich sind die Erfordernisse von Art. 84 EPÜ auch erfüllt.

3. Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung

3.1 In der angefochtenen Entscheidung wird keines der anderen Erfordernisse des EPÜ, insbesondere nicht diejenigen von Art. 52(1) EPÜ, angesprochen.

Die Kammer stellt ferner fest, dass die Beschwerdeführerinnen im Beschwerdeverfahren keine substanziellen Argumente in Bezug auf diese Erfordernisse vorgebracht haben, sondern lediglich davon ausgegangen sind, dass die bisher von der Prüfungsabteilung erhobenen entsprechenden Einwände in vollem Umfang ausgeräumt worden seien.

Vor diesem Hintergrund kommt die Kammer zu dem Schluss, dass die für die Patentierbarkeit im vorliegenden Fall relevanten anderen Fragen, insbesondere bezüglich der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit, nicht ohne unzumutbaren Aufwand entschieden werden können.

Folglich liegen besondere Gründe im Sinne von Art. 11 VOBK 2020 vor, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung, insbesondere zur Prüfung der anderen Patentierbarkeitsvoraussetzungen, gemäß Art. 111(1) EPÜ an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.

Damit wird auch der Grundsatz gewahrt, dass das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens die gerichtliche Überprüfung der angefochtenen Entscheidung ist (Art. 12(2) VOBK 2020).

3.2 Im vorliegenden Fall wurde weder eine Befangenheit eines Mitglieds der Prüfungsabteilung geltend gemacht, noch war die Prüfungsabteilung unrechtmäßig besetzt. Für die Zurückverweisung zur weiteren Entscheidung an eine andere Prüfungsabteilung, wie von den Beschwerdeführerinnen beantragt, kann die Kammer daher keine Rechtsgrundlage erkennen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

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