T 0447/20 (Biotech-GUI/SARTORIUS) of 12.9.2023

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2023:T044720.20230912
Datum der Entscheidung: 12 September 2023
Aktenzeichen: T 0447/20
Anmeldenummer: 14002995.0
IPC-Klasse: G05B 23/02
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: System und Verfahren zur Steuerung, Erfassung, Regelung und/oder Analyse von biologischen, biochemischen, chemischen und/oder physikalischen Prozessen durch Datenkorrelation
Name des Anmelders: Sartorius Stedim Biotech GmbH
Name des Einsprechenden: Eppendorf AG
Kammer: 3.5.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 100(a)
European Patent Convention Art 123(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 012(6)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(2)
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag bzw. Hilfsanträge 4 und 5 (nein): keine glaubhafte technische Wirkung über den gesamten beanspruchten Bereich
Zulassung eines nach der Ladung eingereichten Anspruchssatzes - Hilfsantrag 0.1 (nein): keine außergewöhnlichen Umstände
Unzulässige Erweiterung - Hilfsanträge 1 und 2 (ja)
Zulassung eines von der ersten Instanz nicht zugelassenen Anspruchssatzes - Hilfsantrag 3 (nein): Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung nicht fehlerhaft
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/19
T 1802/13
T 0336/14
T 1152/17
T 2271/18
T 1924/20
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent zu widerrufen. Hinsichtlich des Hauptantrags sowie des vierten und fünften Hilfsantrags war die Einspruchsabteilung der Ansicht, dass der Gegenstand des jeweiligen Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe (Artikel 56 EPÜ). Der erste und zweite Hilfsantrag wurde nach Artikel 123(2) EPÜ für nicht gewährbar befunden. Der dritte Hilfsantrag wurde zudem nicht in das Verfahren zugelassen.

II. Der folgende Stand der Technik ist für die vorliegende Entscheidung relevant:

OPP4a: "DASGIP® documentation wizard", Software-

handbuch Eppendorf, Juli 2011.

III. Die mündliche Verhandlung fand am 12. September 2023 statt.

Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragt als Hauptantrag, den Einspruch zurückzuweisen. Hilfsweise beantragt die Beschwerdeführerin, das Patent in geändertem Umfang gemäß einem

- mit einer schriftlichen Erwiderung auf die Mitteilung der Kammer eingereichten Hilfsantrag 0.1 oder gemäß

- einem der in Punkt I oben genannten fünf Hilfsanträge (erneut eingereicht mit der Beschwerdebegründung)

aufrecht zu erhalten.

Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.

IV. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet (mit einer von der Kammer vorgenommenen Merkmalsgliederung):

a) "Computersystem (160) zur Steuerung, Erfassung, Regelung und/oder Analyse von biologischen, biochemischen, chemischen und/oder physikalischen Prozessen in Bioreaktoren und/oder chemischen Reaktoren, umfassend:

b) zumindest zwei Einheiten (135 A-N, 200, 320,

405A-N), wobei jede Einheit zumindest einen Bioreaktor oder einen chemischen Reaktor umfasst,

c) welcher eingerichtet ist, einen Stoff aufzunehmen, um an diesem Stoff zumindest einen biologischen, biochemischen, chemischen und/oder physikalischen Prozess durchzuführen;

d) wobei jede der Einheiten (135 A-N, 200, 320,

405A-N) zumindest einen Sensor (140A-N, 220,

420A-N) aufweist, welcher dem jeweiligen Bioreaktor oder chemischen Reaktor zugeordnet ist

und

e) welcher eingerichtet ist, Messdaten (335) betreffend den biologischen, biochemischen, chemischen und/oder physikalischen Prozess zu erfassen;

f) zumindest eine Anzeigeeinheit (100, 500, 600, 700, 800), über welche die erfassten Messdaten (335) der Prozesse der zwei Einheiten (135 A-N, 200, 320, 405A-N) jeweils in einer zeitlichen Korrelation dargestellt werden, welche Aufschlüsse über einen Zusammenhang der dargestellten Messdaten (335) ermöglicht; und gekennzeichnet durch:

g) eine Erfassungseinheit (150), welche eingerichtet ist,

- die zeitliche Korrelation zu erkennen, indem sie einen Verlauf der Messdaten (335) der jeweiligen Einheiten (135 A-N, 200, 320, 405A-N) miteinander vergleicht; und

h) - eine Anzeige von einander bzw. sich entsprechenden Messdaten (335) der jeweiligen Einheiten (135 A-N, 200, 320, 405A-N) unabhängig von einer absoluten Zeit ihrer Erfassung über die Anzeigeeinheit (100, 500, 600, 700, 800) zu ermöglichen".

V. Anspruch 1 des Hilfsantrags 0.1 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass das Merkmal h) durch folgendes Merkmal ersetzt wurde (Merkmalsgliederung und Hervorhebungen im Vergleich zu Merkmal h) durch die Kammer):

i) "eine Anzeige von einander bzw. sich entsprechenden

Messdaten (335) der jeweiligen Einheiten (135 A-N,

200, 320, 405A-N) unabhängig von einer absoluten

Zeit ihrer Erfassung aufgrund der erkannten

zeitlichen Korrelation über die Anzeigeeinheit

(100, 500, 600, 700, 800) zu ermöglichen, so

dass die Aufschlüsse über den Zusammenhang der

dargestellten Daten ermöglicht werden".

VI. Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass das Merkmal g) durch folgendes Merkmal ersetzt wurde (Merkmalsgliederung und Hervorhebungen im Vergleich zu Merkmal g) durch die Kammer):

j) "eine Erfassungseinheit (150), welche eingerichtet

ist,

- die zeitliche Korrelation zu erkennen, indem sie

einen Verlauf der Messdaten (335) der jeweiligen

Einheiten (135 A-N, 200, 320, 405A-N) in

Echtzeit miteinander vergleicht, wobei die

zeitliche Korrelation in Abhängigkeit einer

Eingabe eines Benutzers eingestellt werden kann;

und".

VII. Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags umfasst alle Merkmale von Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags und enthält zudem am Ende folgenden Wortlaut (Merkmalsgliederung der Kammer):

k) "und

ein Steuerungsmodul (155), welches eingerichtet

ist, zumindest zwei Einheiten (135 A-N, 200, 320,

405A-N) zu einer Gruppe zusammenzufassen, wobei das

Steuerungsmodul (155) zudem eingerichtet ist,

Zeitfenster, die über Messdaten (335) der

jeweiligen Einheiten (135 A-N, 200, 320, 405A-N)

angewandt sind, welche in jeweils einem

Anzeigebereich (105, 110, 505, 510, 605, 610, 705,

710, 805, 810) angezeigt werden, miteinander zu

verlinken, so dass ein Benutzer die Zeitfenster

mithilfe eines Schiebereglers (825, 830) steuern

kann, indem er die Zeitfenster synchron über die

Messdaten (335) der jeweiligen Einheiten (135 A-N,

200, 320, 405A-N) verschiebt".

VIII. Anspruch 1 des dritten Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass

- das Merkmal e) durch folgendes Merkmal (Merkmalsgliederung und Hervorhebungen im Vergleich zu Merkmal e) durch die Kammer):

l) "welcher eingerichtet ist,

Mess[deleted: daten]grössen [deleted: (335)] betreffend den

biologischen, biochemischen, chemischen

und/oder physikalischen Prozess zu

erlassen, wobei für jede biologische,

biochemische, chemische und/oder

physikalische Eigenschaft ein numerisches

Messdatum erzeugt wird, so dass der Sensor

(140A-N, 220, 420A-N) einen Datenstrom der

entsprechenden Messdaten (335) erstellt; und"

- und dadurch, dass in Merkmal g) das Wort "Messdaten" durch "Messgrössen"

ersetzt wurde.

IX. Anspruch 1 des vierten Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass die Merkmale f) und g) jeweils durch folgende Merkmale ersetzt wurden (Merkmalsgliederung und Hervorhebungen im Vergleich zu Merkmal f) und g) durch die Kammer):

m) "zumindest eine Anzeigeeinheit (100, 500, 600, 700,

800), über welche die erfassten Messdaten (335) der

Prozesse der zwei Einheiten (135 A-N, 200, 320,

405A-N) jeweils in einer zeitlichen Korrelation

dargestellt werden, welche Aufschlüsse über einen

Zusammenhang der dargestellten Messdaten (335)

in Echtzeit ermöglicht; und[deleted: gekennzeichnet durch:]";

n) "eine Erfassungseinheit (150), welche eingerichtet

ist,

- die zeitliche Korrelation zu erkennen, indem sie

einen Verlauf der Messdaten (335) der jeweiligen

Einheiten (135 A-N, 200, 320, 405A-N) miteinander

vergleicht, wobei die zeitliche Korrelation in

Abhängigkeit einer Eingabe eines Benutzers

eingestellt werden kann; und".

X. Anspruch 1 des fünften Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass Merkmal g) durch Merkmal n) ersetzt und Merkmal k) hier hinzugefügt wurde.

Entscheidungsgründe

1. Gegenstand des Streitpatents

1.1 Das Streitpatent betrifft ein Computersystem zur Steuerung, Erfassung, Regelung und/oder Analyse von biologischen, biochemischen, chemischen und/oder physikalischen Prozessen. Diese Prozesse finden normalerweise in einem Reaktor, z. B. in einem Beutel oder einem Reaktor aus Edelstahl, statt. Typische Anwendungsbereiche für solche Prozesse sind:

- Pharma (z. B. Virenabtrennung),

- Biologie (z. B. Reinigung von Proteinen),

- Chemie (z. B. Gas-Analyse, pH-Messung),

- oder Ernährung (z. B. Bier-Brauwesen).

1.2 Insbesondere versucht die dem Streitpatent zugrunde liegende Erfindung einen Überblick über wichtige, den Prozess beeinflussende Faktoren sowie eine Auswirkung einer Änderung dieser Faktoren auf den Prozesserfolg zu verschaffen. Entsprechend nennt sie als Aufgabe, Messdaten von den obigen Prozessen in verbesserter Weise zu erfassen und weiterverarbeiten zu können.

1.3 Dazu wird erfindungsgemäß eine "zeitliche Korrelation" zwischen Messdaten erkannt, die von einem Sensor in mindestens zwei Reaktoren ermittelt werden. Die Messdaten werden in dieser zeitlichen Korrelation über eine Anzeigeeinheit dargestellt. So sollen "Aufschlüsse" über einen Zusammenhang dieser Messdaten ermöglicht werden. Insbesondere können unterschiedliche Prozessvorgänge, die zu verschiedenen absoluten Zeitpunkten gestartet wurden, miteinander verglichen werden.

2. Hauptantrag: Anspruch 1 - erfinderische Tätigkeit

2.1 In Gründe 22.1 der angefochtenen Entscheidung wird Dokument OPP4a als der geeignetste Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit angesehen. Dies wird von den Parteien nicht bestritten. Die Kammer sieht ebenfalls keinen Anlass, dies in Frage zu stellen.

2.2 Es ist ferner unstrittig, dass OPP4a die Merkmale a) bis f) und h) offenbart.

2.3 Die Kammer befindet, dass Merkmal g), wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, in OPP4a nicht offenbart wird. Wie den Gründen 22.3 und 22.4 (erster und zweiter Satz) der angefochtenen Entscheidung zu entnehmen ist, hat die Einspruchsabteilung dieses Merkmal so ausgelegt, dass der Verlauf der Messdatensequenz von einer der Einheiten mit der Messdatensequenz von einer oder mehreren der anderen Einheiten verglichen wird. Die Parteien haben sich dieser Auslegung angeschlossen. Die Kammer sieht auch keinen Grund, diese Lesart anzuzweifeln. Zudem ist es in Bezug auf den "Vergleich" gemäß Merkmal g) aus Sicht der Kammer unerheblich, ob die Erfassungszeit vom Sensor nun in den Messdaten enthalten ist oder nicht: durch den Vergleich des "Verlaufs der Messdaten" laut Merkmal g) fließt die Zeitkomponente automatisch mit ein.

2.4 Nach Ansicht der Kammer definiert das Merkmal g) nichts anderes als einen Prozessor (bzw. eine "Erfassungs-einheit") mit einer rein algorithmischen Vorschrift dafür, wie die nach Merkmal f) dargestellte "zeitliche Korrelation" erkannt werden kann. Anspruch 1 umfasst aber keine Angaben darüber, wofür dieses Erkennen letztendlich eingesetzt wird. Es werden insbesondere weder allgemeine Zusammenhänge der verschiedenen Prozesse erkannt noch eine effizientere und genauere Steuerung von Bioreaktoren herbeigeführt. Insbesondere sind die in Merkmal f) umfassten "Aufschlüsse über einen Zusammenhang der dargestellten Messdaten" nicht notwendigerweise mit dem Erkennen durch eine "Erfassungseinheit" nach Merkmal g) verknüpft. Die "Aufschlüsse" nach Merkmal f) könnten z. B. lediglich einem Betrachter ("Benutzer") der dargestellten zeitlichen Korrelation zur Verfügung gestellt werden (siehe z. B. Absatz [0078] der Patentschrift).

2.5 Die Kammer kann überdies keine technische Wirkung erkennen, die das Merkmal g) glaubhaft über den gesamten beanspruchten Bereich entfalten würde. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin diesbezüglich konnte aus den nachstehenden Gründen nicht überzeugen:

2.5.1 Die von der Beschwerdeführerin aufgrund des Ausdrucks "zeitliche Korrelation" ins Feld geführte "kausale Reihenfolge" zwischen den Merkmalen f) und g) kann die Kammer nicht erkennen: das Merkmal f) betrifft lediglich die Darstellung von erfassten Messdaten in einer zeitlichen Korrelation und das Merkmal g) die Erkennung der zeitlichen Korrelation durch einen Vergleich mit dem "Verlauf der Messdaten". Die in diesen Merkmalen genannte Darstellung und Erkennung können jedoch durchaus unabhängig voneinander durchgeführt werden. Sie können somit simultan, in beliebiger Reihenfolge oder sogar ineinander verschachtelt auftreten. Dadurch liegt die Erkennung der zeitlichen Korrelation nach Merkmal g) auch nicht zwangsläufig der Darstellung nach Merkmal f) zugrunde. Diese Darstellung ruft des Weiteren nicht notwendigerweise eine Reaktion seitens des Benutzers hervor. Entsprechend konnte die Beschwerdeführerin die Kammer nicht davon überzeugen, dass hinsichtlich der Merkmale f) und g) eine "ständige bzw. geführte

Mensch-Maschine-Interaktion" im Sinne von T 336/14 bzw. T 1802/13 erzielt werde.

2.5.2 Darüber hinaus spiegelt sich nach Ansicht der Kammer die in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Darstellung nicht notwendigerweise in den Merkmalen a) bis h) wider. Dabei hob die Beschwerdeführerin den Ausdruck "Verlauf der Messdaten" in Merkmal g) hervor. Nach Auffassung der Beschwerdeführerin würde es sich nämlich bei diesen "Messdaten" insbesondere um "intrinsische Daten" handeln, d. h. um Daten, die mit intrinsischen bzw. inhärenten Eigenschaften der in Merkmal a) genannten Prozesse einhergehen würden. Die Beschwerdeführerin betonte dabei, dass diese Prozesse meist "nicht-linear" und "nicht skalierbar" seien und sich bei Einflussnahme durch den Benutzer nicht vorhersehbar verändern würden. Durch die Berücksichtigung von "intrinsischen Daten", anstatt, wie bei OPP4a, außerhalb des Prozesses (z. B. durch den Benutzer) festgelegter Größen ("extrinsische Daten"), könne die Eigendynamik des Prozesses bei der Erkennung nach Merkmal g) berücksichtigt werden. So könne ein für diese Erkennung relevanter Startpunkt der in Merkmal g) genannten Messdaten auf der Zeitachse verschoben werden, um die gemäß Merkmal g) zu vergleichenden Messdaten-Verläufe zu kalibrieren und miteinander zu synchronisieren. Damit könne ein "weiterer technischer Effekt" erzielt werden, und zwar so, dass die in Merkmal f) genannten "Aufschlüsse" realistischer wären. Entsprechend werde die Aussagekraft dieser Aufschlüsse für den Benutzer verbessert. Die Beschwerdeführerin formulierte die mit diesem weiteren technischen Effekt zusammenhängende objektive technische Aufgabe als "eine effiziente Steuerung durch eine verbesserte/alternative Überwachung der technischen Prozessparameter bezüglich biochemischer Prozesse zu ermöglichen bzw. zu unterstützen".

Die Merkmale a) bis h) legen nach Auffassung der Kammer jedoch nicht unbedingt einen "Startpunkt", geschweige denn eine "Verschiebung dieses Startpunkts", fest. Die von der Beschwerdeführerin herangezogene Kalibrierung oder Synchronisierung ist zudem nicht für die "Erkennung" nach Merkmal g) unerlässlich. Sie ist z. B. nicht notwendig, wenn die Erkennung durch einen Prozessor erfolgt oder, falls die Erkennung doch von einem Benutzer vorgenommen werden sollte, wenn die nach Merkmal g) zu vergleichenden Messdaten-Verläufe zeitlich so eindeutig korreliert sind, dass dieser Benutzer ohnehin bereits irgendwelche kognitiven Aufschlüsse bekommen kann. Auch macht sie die in Merkmal f) genannten "Aufschlüsse" nicht notwendigerweise realistischer.

2.6 Die Kammer kommt somit zum Schluss, dass das Merkmal g) keine technische Aufgabe löst und demzufolge nicht zu einer erfinderischen Tätigkeit beitragen kann (siehe

z. B. G 1/19, Gründe 49, letzte zwei Sätze).

2.7 Mithin beruht der Gegenstand von Anspruch 1 wie erteilt nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ). Entsprechend steht der Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) EPÜ der Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung entgegen.

3. Hilfsantrag 0.1: Zulassung in das Verfahren

3.1 Die Beschwerdeführerin führt "außergewöhnliche Umstände" im Zusammenhang mit der Zulässigkeit dieses Hilfsantrags an, da die Kammer in ihrer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 zum ersten Mal im Einspruchsverfahren bemängelt habe, dass das Merkmal g) keine technische Aufgabe löse. Dazu habe die Kammer eine Auslegung von Anspruch 1 vorgenommen, die es so im erstinstanzlichen Verfahren nicht gegeben hätte.

3.2 Die Kammer ist jedoch der Ansicht, dass Änderungen, die als Reaktion auf eine detaillierte und ausführliche vorläufige Stellungnahme seitens der Kammer eingereicht wurden - für sich alleine betrachtet - keine "außergewöhnlichen Umstände" im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020 rechtfertigen können (siehe

z. B. T 2271/18, Gründe 3.3). Darüber hinaus entspricht der von der Kammer in der Ladungsmitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 und unter Artikel 56 EPÜ erhobene Einwand sehr wohl dem in Gründe 22 der angefochtenen Entscheidung erhobenen Einwand. Dass dieser Einwand auf einer stellenweise nuancierteren Begründung fußt, rechtfertigt es nicht, diesen als "neuen Einwand" einzustufen. Des Weiteren wurde die Fragestellung, ob "dem Gegenstand des Streitpatents" eine technische Wirkung zuzuschreiben sei, von der Beschwerdegegnerin bereits in der Beschwerdeerwiderung (Seite 12) erwähnt. Zu guter Letzt ist die Kammer bei der gerichtlichen Überprüfung der angefochtenen Entscheidung nicht an etwaige in dieser Entscheidung angewandten Auslegungsvarianten gebunden.

3.3 Der Verweis seitens der Beschwerdeführerin auf den angeblich "ähnlichen Fall" T 1152/17 konnte die Kammer diesbezüglich nicht überzeugen. Dieser Fall ist zweifelsohne anders gelagert: aus Gründe 2.1.4 der Entscheidung geht nämlich hervor, dass der dort im Verfahren zugelassene neue Antrag

- gezielt auf die in der Ladungsmitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 aufgeworfene Frage eingeht,

- keine weiteren Einwände aufwirft und

- sich außerdem auf den abhängigen Ansprüchen wie erteilt stützt.

Die Sachlage gemäß mindestens dem ersten und dritten Spiegelstrich ist im vorliegenden Fall eben nicht gegeben. Nach den Angaben der Beschwerdeführerin stamme die dem Anspruch 1 von Hilfsantrag 0.1 zugrunde liegende Änderung aus der ursprünglichen Beschreibung. Dazu verdeutlicht Merkmal i) hinsichtlich der in Punkt 2.5.1 oben adressierten "beliebige[n] Reihenfolge" höchstens, dass die Erkennung der zeitlichen Korrelation nach Merkmal g) vor der Anzeige der Messdaten gemäß Merkmal i) bzw. vor der Darstellung der Messdaten gemäß Merkmal f) erfolgen muss. Eine Verknüpfung zwischen dieser Erkennung und Anzeige bzw. Darstellung ist dem Merkmal i) jedoch nicht zu entnehmen. Insbesondere erfordert der Ausdruck "aufgrund der erkannten zeitlichen Korrelation" dieses Merkmals nicht, dass die Erkennung in irgendeiner Weise (z. B. durch das von der Beschwerdeführerin mehrmals erwähnte "Verschieben eines Startpunkts") in der Darstellung berücksichtigt werden sollte: wie im Anspruch 1 des Hauptantrags fließt in die Darstellung nach Anspruch 1 von Hilfsantrag 0.1 lediglich die zeitliche Korrelation mit ein, wobei diese zeitliche Korrelation gemäß Merkmal i) für irgendeinen, nicht näher bestimmten Zweck zuvor erkannt wurde. Merkmal i) kann dadurch nicht zu einer technischen Wirkung beitragen. Hilfsantrag 0.1 ist somit prima facie nicht nach Artikel 56 EPÜ gewährbar.

3.4 Daher wurde Hilfsantrag 0.1 nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht in das Verfahren zugelassen.

4. Erster und zweiter Hilfsantrag: Anspruch 1 - Artikel 123 (2) EPÜ

4.1 In Gründen 23.1 bis 23.6 der angefochtenen Entscheidung hat die Einspruchsabteilung festgestellt, dass das Merkmal j) nicht in der dem Streitpatent zugrunde liegenden ursprünglichen Anmeldung offenbart ist.

4.2 Die Kammer stimmt dem zu. Sie bezweifelt insbesondere, dass das Merkmal j) auf eindeutige und unmittelbare Weise aus den von der Beschwerdeführerin angegebenen Textstellen auf Seite 7, Zeilen 6 bis 15 und Seite 12, Zeilen 28 bis 33 der ursprünglich eingereichten Beschreibung hervorgeht. So wird auf Seite 7, Zeilen 7 und 8 dieser Beschreibung zwar der Ausdruck "in Echtzeit" erwähnt, jedoch lediglich im Zusammenhang mit dem Erfassen von Auswirkungen bzw. einer Änderung unterschiedlicher Prozessfaktoren. Wie dieses Erfassen stattfindet bzw. wer oder welche Einheit dafür zuständig ist, bleibt dabei offen. Der ursprünglichen Anmeldung ist mithin kein eindeutiger und unmittelbarer Hinweis dafür zu entnehmen, dass die für das Erfassen zuständige Einheit jener "Erfassungseinheit" gleichzusetzen ist, wie sie auf Seite 29, Zeilen 13 bis 18 der ursprünglichen Beschreibung durch die "Erfassungseinheit 150" offenbart ist. Hierbei wird eine "zeitliche Korrelation" erkannt, indem die Erfassungseinheit 150 einen Verlauf der Messdaten der jeweiligen Einheiten in Echtzeit miteinander vergleicht. Ein solcher Hinweis ist selbst dann der ursprünglichen Anmeldung nicht zu entnehmen, wenn

- man sich der Sichtweise der Beschwerdeführerin, dass der Ausdruck "Dies" aus Zeile 6 auf Seite 7 der ursprünglichen Beschreibung die Darstellung von Messdaten der Sensoren in der zeitlichen Korrelation betreffe, anschließen würde

und

- davon ausgegangen wird, dass sich die nach Zeilen 6 bis 8 auf Seite 7 der ursprünglichen Beschreibung in Echtzeit erfassten "Auswirkungen unterschiedlicher wichtiger Prozessfaktoren bzw. einer Änderung ein oder mehrerer solcher Prozessfaktoren" eindeutig und unmittelbar nur auf Auswirkungen oder Änderungen beziehen würden, die erst aufgrund, d. h. nach, der Darstellung der Messdaten, bzw. aufgrund der in Zeile 3 auf Seite 7 der ursprünglichen Beschreibung genannten "Aufschlüsse", aufgetreten wären und nicht auf jene, die sich z. B. spontan während der Erkennung oder Darstellung ergeben hätten.

4.3 Aus dem Vorstehenden folgt, dass der erste und der zweite Hilfsantrag nicht nach Artikel 123 (2) EPÜ gewährbar sind.

5. Dritter Hilfsantrag: Zulassung in das Verfahren

5.1 Nach Artikel 12 (6) erster Satz VOBK 2020 sind Anträge, die in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, nicht zugelassen wurden, normalerweise auch im Beschwerdeverfahren nicht zuzulassen.

5.2 Die Kammer kann im vorliegenden Fall nicht erkennen, dass die Entscheidung über die Nichtzulassung durch die Einspruchsabteilung ermessensfehlerhaft war. Insbesondere hat die Einspruchsabteilung in Gründe 25.5 und 25.6 der angefochtenen Entscheidung das für ihre Ermessungsentscheidung einschlägige Kriterium der "eindeutigen Gewährbarkeit" herangezogen und geprüft. Ob die Kammer die Einschätzung der Einspruchsabteilung hinsichtlich des Erfüllens dieses Kriteriums teilt und in der Sache ähnlich entschieden hätte, kann hierbei dahingestellt bleiben. Ausschlaggebend ist in erster Linie, ob die erste Instanz ihr Ermessen korrekt und in angemessener Weise ausgeübt hat. Die Kammer sieht indes hier keinen Grund, die angefochtene Entscheidung in diesem Sinne zu beanstanden.

Darüber hinaus stimmt die Kammer der in Gründe 25.5 der angefochtenen Entscheidung angegebenen Auffassung der Sache nach zu, dass Anspruch 1 des dritten Hilfsantrags prima facie unklar ist. Insbesondere wäre es für den fachkundigen Leser nicht unmittelbar ersichtlich, worauf sich der vom Merkmal l) umfasste Begriff "der entsprechenden Messdaten" beziehen würde. Auch wenn dieser Begriff so ausgelegt wird, dass sich diese "Messdaten" auf die in Anspruch 1 erwähnten "Messgrössen betreffend den biologischen, biochemischen, chemischen und/oder physikalischen Prozess" in Kombination mit dem numerischen Messdatum beziehen würden, so geht, wie von der Einspruchsabteilung in Gründe 25.5 der angefochtenen Entscheidung angedeutet, aus Anspruch 1 nicht klar hervor, wie ein einziger Sensor einen Datenstrom mit solchen "Messdaten" für jede biologische, biochemische, chemische und physikalische Eigenschaft erstellen sollte. Die Behauptung seitens der Beschwerdeführerin, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen in falscher Weise ausgeübt habe, weil sie den dritten Hilfsantrag inkorrekterweise als nicht eindeutig gewährbar betrachtet habe, vermag somit auch nicht zu überzeugen.

5.3 Des Weiteren gibt es in der Beschwerdesache nach Ansicht der Kammer auch keine Umstände, die eine Zulassung dieses Hilfsantrags gerechtfertigt hätten (vgl. Artikel 12 (6) zweiter Satz VOBK 2020).

5.4 Folglich wurde der dritte Hilfsantrag nicht in das Verfahren zugelassen (Artikel 12 (6) VOBK 2020).

6. Vierter und fünfter Hilfsantrag: Anspruch 1 - erfinderische Tätigkeit

6.1 Bezüglich des vierten Hilfsantrags und Merkmal m) bemerkt die Einspruchsabteilung in Gründe 27.7 (fünfter und sechster Satz) der angefochtenen Entscheidung zurecht, dass der Begriff "in Echtzeit" lediglich die "Aufschlüsse" betrifft, die durch das Darstellen der zeitlichen Korrelation zwischen den erfassten Messdatensequenzen ermöglicht werden. Die Bereitstellung von "Aufschlüssen über Messdaten", um in Echtzeit in den Prozessablauf einzugreifen, d. h. in Echtzeit mit Bezug auf das Erfassen der Messdaten während eines laufenden Prozessvorgangs, wären nach Auffassung der Kammer auch gar nicht für alle "biologischen, biochemischen, chemischen und/oder physikalischen Prozessen" in Merkmal a) durchführbar: chemische Reaktionen mit z. B. freien Radikalen haben bekanntlich eine Aufenthaltszeit ("residence time") im Bereich von, unter Umständen, nur wenigen Millisekunden. Die von der Beschwerdeführerin mit Verweis auf Seite 3, Zeilen 31 und 32 der Beschreibung vertretene Ansicht, dass das beanspruchte Computersystem der Steuerung von chemischen Prozessen in chemischen Reaktoren, wie einen Abbau chemischer Verbindungen, z. B. in Kläranlagen oder zur Fermentation von Lebensmitteln, diene, kann die Kammer nicht teilen. Das beruht primär darauf, dass der fachkundige Leser eines Patents oder einer Patentanmeldung die Patentansprüche im Wesentlichen aus sich selbst heraus, d. h. ohne Rückgriff auf die Beschreibung, auslegen könnte und würde (vgl. T 1924/20, Gründe 2.7). Im vorliegenden Fall ist der Gegenstand von Anspruch 1 des vierten Hilfsantrags nicht auf einen solchen Abbau oder eine solche Fermentation beschränkt.

Demzufolge ist Merkmal m) durch die unten auf Seite 5 in OPP4a gezeigte Figur schon implizit offenbart. Die dort gezeigte grafische Darstellung wird nämlich im System von OPP4a auf einem Computer-Bildschirm angezeigt. Eine solche Darstellung ermöglicht wiederum naturgemäß, dass "Aufschlüsse" über einen Zusammenhang der dargestellten Messdaten gleich während der Darstellung, d. h. "in Echtzeit" nach Merkmal m), ermöglicht werden, zumindest für einen Betrachter des entsprechenden Computer-Bildschirms.

6.2 Hinsichtlich des vierten Hilfsantrags und Merkmal n) ist die Kammer mit Gründe 27.4 der angefochtenen Entscheidung insofern einverstanden, als dass dieses Merkmal auf Seite 12 von OPP4a bereits offenbart ist.

6.3 Mit Bezug auf den fünften Hilfsantrag und Merkmal k) stimmt die Kammer der in Gründe 29.4 der angefochtenen Entscheidung dargelegten Auffassung zu, dass es sich bei diesem Merkmal lediglich um eine "Darstellung von Information" handelt, welche keinen glaubhaften technischen Beitrag leisten kann. Die von der Beschwerdeführerin mit Verweis auf T 336/14 und T 1802/13 herangezogene "ständige und/oder geführte Mensch-Maschine-Interaktion" kann die Kammer mithin in Anspruch 1 des fünften Hilfsantrags nicht erkennen.

Auch wenn, wie von der Beschwerdeführerin behauptet, ein Benutzer die mit Merkmal k) einhergehende Aufgabe, die Zeitfenster synchron über die Messdaten der jeweiligen Einheiten zur Erfassung der jeweiligen Prozess-Dynamik bei einfacher Bedienbarkeit verschieben zu können, tatsächlich ausführen und dadurch doch in gewisser Weise eine "ständige und/oder geführte

Mensch-Maschine-Interaktion" erfolgen würde, so löst - in Abwesenheit weiterer Details z. B. zur gerade eingestellten Bildschirmauflösung, zur Breite der jeweiligen Zeitfenster, zur Anzahl der angezeigten Messpunkte bzw. zur Reaktionsgeschwindigkeit des Computersystems - Merkmal k) keineswegs eine technische Aufgabe. Insbesondere ist eine von der Beschwerdeführerin geltend gemachte "Ermöglichung der synchronen Datenmanipulation" nicht notwendigerweise eine Aufgabe technischer Natur. Des Weiteren steht der von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Vorteil einer "einfachen Bedienbarkeit" nicht mit Merkmal k) in irgendeinem unmittelbaren und kausalen Zusammenhang. Folglich kann auch Merkmal k) nicht zur Lösung einer technischen Aufgabe beitragen, sodass dieses Merkmal auch keine erfinderische Tätigkeit rechtfertigen kann.

6.4 Mithin beruht der Gegenstand von Anspruch 1 des vierten und fünften Hilfsantrags ebenfalls nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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