T 0108/20 () of 2.12.2022

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2022:T010820.20221202
Datum der Entscheidung: 02 Dezember 2022
Aktenzeichen: T 0108/20
Anmeldenummer: 14165354.3
IPC-Klasse: A47J 31/44
A47J 31/52
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Bedien- und Anzeigevorrichtung für einen programmgesteuerten Getränkebereiter und Getränkebereiter
Name des Anmelders: Miele & Cie. KG
Name des Einsprechenden: Qbo Coffee GmbH
Koninklijke Douwe Egberts BV
Kammer: 3.2.04
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2)
European Patent Convention Art 56
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 012(4)
Schlagwörter: Änderung des Vorbringens - Änderung im Sinne des Art. 12 (4) VOBK 2020
Änderung des Vorbringens - in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten (ja)
Änderungen - zulässig (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Could-would approach
Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 2202/21

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden 2 richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 801 304 nach Artikel 101(2) EPÜ zurückzuweisen.

II. Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass keiner der erhobenen Einspruchsgründe mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit der Aufrecht-erhaltung des Patents entgegensteht.

In ihrer Entscheidung hat die Einspruchsabteilung unter anderem die folgende Entgegenhaltung zitiert:

D2: EP 1 992 263 A1

III. Die Beschwerdeführerin Einsprechende 2 beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

IV. Die Beschwerdegegnerin Patentinhaberin beantragt die Aufrechterhaltung auf Basis des mit Schreiben vom 13. Juli 2020 erneut vorgelegten Hilfsantrags 3.

V. Die Verfahrensbeteiligte Einsprechende 1 hat weder Anträge gestellt noch Ausführungen in der Sache gemacht.

VI. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK als Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Auffassung mit. Die mündliche Verhandlung fand am 2. Dezember 2022 in Anwesenheit der Einsprechenden 2 und der Patentinhaberin als Videokonferenz statt. Die Einsprechende 1 teilte am 24. Oktober 2022 mit, dass sie nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen werde.

VII. Der unabhängige Anspruch 1 des für diese Entscheidung relevanten Hilfsantrags 3 hat den folgenden Wortlaut:

"Bedien- und Anzeigevorrichtung (1) für einen programmgesteuerten Getränkebereiter (2) zur Zubereitung von heißen Getränken (31) aus zumindest zwei Zutaten (C, W), aufweisend ein berührungs-empfindliches Display (5, 6), auf dem verschiedene Getränke symbolisch als Feld (7) anzeigbar und mittels Berührung entsprechender Bedien- und Anzeigefelder (7, C, W, F) durch einen Benutzer auswählbar und/oder veränderbar sind, dadurch gekennzeichnet, dass die Bedienvorrichtung (1) dazu ausgebildet ist, zur Einstellung der Zutaten für ein zuzubereitendes Getränk (31) ein Symbol eines Behältnisses (7) mit den einzelnen Anteilen der Zutaten (C, W, F) für das zuzubereitende Getränk schematisch auf dem Display (6) anzuzeigen, wobei der Anteil zumindest einer Zutat (C, W, F) mittels Berührgeste auf dem Bildschirm (5, 6) veränderbar ist, derart, dass der Benutzer den Finger auf die auf dem Bildschirm dargestellte Grenzlinie eines Zutatenanteils auflegt und anschließend mit einer Wischbewegung nach oben diesen Zutatenanteil erhöhen oder durch eine Wischbewegung nach unten entsprechend vermindern kann, zur nachfolgenden Steuerung für Zubereitung des Getränks, wobei die Bedien- und Anzeigevorrichtung (1) dazu ausgebildet ist, mehr als eine Zutat (C, W, F) hinsichtlich ihres Anteils am Getränk (32) gleichzeitig durch Berührgesten verändern zu lassen, indem die erste Grenzlinie (8) für die erste Zutat und die weitere Grenzlinie (11) für die weitere Zutat verschoben wird."

VIII. Die Beschwerdeführerin Einsprechende 2 hat zu den entscheidungserheblichen Punkten im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

Die mit Schreiben vom 18. Juli 2019 vor der Einspruchs-abteilung erhobenen Einwände gegen Hilfsantrag 3 seien Gegenstand des Beschwerdeverfahrens. Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 enthalte unzulässige Änderungen. Sein Gegenstand beruhe ausgehend von D2 nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Absatz 0022 der Patentschrift sei an Hilfsantrag 3 anzupassen.

IX. Die Beschwerdegegnerin Patentinhaberin hat zu den entscheidungserheblichen Punkten im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

Während des Beschwerdeverfahrens habe die Beschwerde-führerin keine Einwände gegen den Hilfsantrag 3 vorgebracht. Die Änderungen in Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 gingen nicht über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinaus. Sein Gegenstand beruhe ausgehend von D2 auf erfinderischer Tätigkeit. Absatz 0022 der Patentschrift sei nicht anzupassen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Anwendungsgebiet der Erfindung

Die Erfindung betrifft eine Bedien- und Anzeigevorrichtung für einen Getränkebereiter, z.B. eine Kaffeemaschine zur Zubereitung eines Cappuccino aus den Zutaten Kaffee (C), Wasser (W) und Milchschaum (F). Die Bedienvorrichtung ist dazu eingerichtet, auf einem berührungsempfindlichen Display (5, 6) ein Symbol eines Behältnisses (7) mit den einzelnen Anteilen der Zutaten schematisch anzuzeigen, siehe die Figur 2 der Patentschrift. Der Anteil mindestens einer Zutat - also bei Zubereitung eines Cappuccino der Wasseranteil, der Kaffeeanteil oder der Anteil des Milchschaums - kann vom Benutzer auf dem Display (5, 6) mit einer Berührgeste - also einer Wischbewegung des aufgelegten Fingers - durch Verschieben einer Grenzlinie des Zutatenanteils nach oben bzw. unten erhöht bzw. vermindert werden. Darum ist die Bedien- und Anzeigevorrichtung dazu ausgebildet, mehr als eine Zutat hinsichtlich ihres Anteils am Getränk gleichzeitig durch Berührgesten verändern zu lassen, indem die Grenzlinie für die erste Zutat und die weitere Grenzlinie für die weitere Zutat verschoben wird.

3. Zulassung von Hilfsantrag 3

3.1 Der Hilfsantrag 3 ist identisch mit dem Hilfsantrag 3, der mit Schreiben vom 26. Juni 2019 der Einspruchs-abteilung vorgelegt wurde. Die Kammer hat keine Bedenken gegen die Zulassung dieses Hilfsantrags zum Beschwerdeverfahren, da die angefochtene Entscheidung die Zurückweisung des Einspruchs betrifft. Daher erging die Entscheidung nur auf Basis der erteilten Fassung, also des während der Verhandlung vor der Kammer zurückgenommenen Hauptantrags. Der Hilfsantrag 3 war zwar nicht Gegenstand der Entscheidung, da dem Hauptantrag untergeordnet, wurde jedoch unbestritten im Einspruchsverfahren in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten, Artikel 12(4) VOBK 2020, 1. Absatz.

Somit entschied die Kammer, den Hilfsantrag 3 in das Verfahren zuzulassen, Artikel 12(4) VOBK 2020.

4. Zulassung der Einwände gegen Hilfsantrag 3 zum Beschwerdeverfahren

4.1 Gerade weil die richterliche Rechtsfindung einer absoluten Wahrheit nicht zugänglich ist, muß sie ihre Legitimität aus dem hierauf gerichteten Verfahren ziehen (Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 6. Auflage Frankfurt 2001). Anders als bei der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gibt es bei der Rechtserkenntnis kein Ergebnis, das sich als richtig beweisen ließe. Dies gilt umso mehr in einem streitigen Verfahren, bei dem auch die entscheidungserheblichen Tatsachen durch den Parteivortrag bestimmt werden. Gerechtigkeit kann sich also nur über die Verfahrensgerechtigkeit definieren, nämlich durch den auf Rechtsfindung gerichteten Diskurs: Rede und Gegenrede. Anders als der von Habermas und Alexy postulierte ,,herrschaftsfreie" Diskurs (Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main, 1992; Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. 3. Aufl. Frankfurt, 1996) ist der Diskurs vor Gericht allerdings nicht darauf gerichtet, einen Konsens zwischen den Beteiligten über ein Ergebnis herzustellen, sondern das Gericht in die Lage zu versetzen, eine Entscheidung als Ergebnis dieses Diskurses zu fällen. Aus dem diskursiven Charakter des Verfahrens - Rede und Gegenrede - ergibt sich, daß von einer Partei nur dann erwartet werden kann sich zu äußern, wenn zu ihrem Vorbringen Stellung genommen worden ist, sei es durch das Amt, die Kammer oder durch die andere Partei. Unerheblich erscheint dabei, zu welchem Zeitpunkt dies geschehen ist, soweit nur erkennbar ist, daß an dem Vorbringen nach wie vor festgehalten wird. Dies ist vorliegend von Bedeutung.

4.2 Im Hinblick auf ihre Einwände gegen den Hilfsantrag 3 verweist die Beschwerdeführerin nämlich auf die Seiten 9 und 10 ihrer Eingabe an die Einspruchsabteilung vom 18. Juli 2019, wo sie Einwände gegen die Zulässigkeit der Änderungen in Anspruch 1 sowie gegen die erfinderische Tätigkeit von dessen Gegenstand erhob.

4.2.1 Das Beschwerdeverfahren ist zwar ein vom Verfahren vor der Einspruchsabteilung vollständig getrenntes, unabhängiges Verfahren, siehe RdBK, 10. Auflage 2022, V.A.1.1. Daher werden in der Regel allgemeine Rückbezüge auf vorheriges, erstinstanzlich vorgebrachtes Vorbringen im Beschwerdeverfahren außer Betracht gelassen, RdBK V.A.2.6.5. Im vorliegenden Fall erging jedoch die Entscheidung zur Zurückweisung des Einspruchs auf Basis der erteilten Ansprüche (der dem Hilfsantrag 3 übergeordnete, während der Verhandlung vor der Kammer zurückgenommene Hauptantrag). Folglich wurde der Hilfsantrag 3 nicht in der angefochtenen Entscheidung behandelt. Zudem wurden die Hilfsanträge erst nach Erlass der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung gestellt, so dass auch der beigefügte Bescheid der Abteilung nicht auf diese Hilfsanträge einging. Somit gibt es im vorliegenden Fall keine von der Einspruchsabteilung (in der angefochtenen Entscheidung oder auf anderem Wege) genannten Gründe gegen den Hilfsantrag 3, auf welche die Beschwerdeführerin in ihrem schriftlichen Beschwerdevorbringen hätte eingehen können.

4.2.2 Nach Auffassung der Kammer liegt daher ein Fall vor, in welchem ein pauschaler Verweis auf ein Vorbringen vor der Einspruchsabteilung ausreicht, um dieses Vorbringen zum Gegenstand des Beschwerdeverfahrens zu machen. Anderenfalls müßte man von der Beschwerdeführerin in einem solchen Fall verlangen, sich nicht nur auf das im Einspruchsverfahren vorgebrachte und bislang unerwiderte Vorbringen zu berufen, sondern dieses verbatim zu kopieren. Dies kann nicht Sinn eines oben genannten Diskurses sein. Somit entschied die Kammer, die im Schreiben vom 18. Juli 2019 erhobenen Einwände gegen den Hilfsantrag 3 in das Verfahren telle quelle zuzulassen, Artikel 12(4) VOBK 2020.

5. Änderungen

5.1 Die Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin bestreitet die Überprüfbarkeit der Zulässigkeit der Änderungen im Hilfsantrag 3 im Beschwerdeverfahren mit dem Argument, dass Anspruch 1 dieses Antrags auf einer Kombination der erteilten Ansprüche 1 und 3 beruhe, und dass sie der Prüfung des nicht im Einspruchsverfahren erhobenen Einspruchsgrundes unter Artikel 100(c) EPÜ nicht zustimme.

Nach ständiger Rechtsprechung, siehe RdBK V.A.3.2.3h), dürfen neue Einspruchsgründe nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden. Im vorliegenden Fall basiert Anspruch 1 zwar auf einer Kombination der erteilten Ansprüche 1 und 3. Der Anspruch enthält jedoch das zusätzliche Merkmal "indem die erste Grenzlinie (8) für die erste Zutat und die weitere Grenzlinie (11) für die weitere Zutat verschoben wird", das unbestritten nicht explizit in den erteilten Ansprüchen 1 und 3 enthalten war. Formal handelt es sich somit um eine von der Patentinhaberin während des Einspruchs(beschwerde)verfahrens vorgenommene Änderung. Da das geänderte Patent laut Artikel 101 (3) EPÜ unter Berücksichtigung der Änderung den Erfordernissen des EPÜ genügen muss, um in dieser Fassung aufrechterhalten werden zu können, darf der geänderte Anspruch daraufhin überprüft werden, ob die Änderung den Erfordernissen von Artikel 123(2) EPÜ genügt. Das Argument der Beschwerdegegnerin, wonach die Änderung implizit in den erteilten Ansprüchen 1 und 3 enthalten gewesen sei, führt zu keiner anderen Sichtweise, da diese Schlussfolgerung nicht ohne eine Überprüfung der Änderung gezogen werden kann.

5.2 Im Hinblick auf die Zulässigkeit der Änderungen in Anspruch 1 von Hilfsantrag 3 stellt sich insbesondere die Frage, ob die Aufnahme des Merkmals "indem die erste Grenzlinie (8) für die erste Zutat und die weitere Grenzlinie (11) für die weitere Zutat verschoben wird" zu einem Gegenstand führt, der über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Die Beschwerde-führerin bejaht das unter Verweis auf Seite 2, Zeilen 21-26 und auf den Brückenabsatz zwischen den Seiten 4 und 5 der ursprünglich eingereichten Anmeldung (Absätze 10 und 22 der veröffentlichten Anmeldung), wo dieses Merkmal nur bei Benutzung je eines Fingers auf den beiden Grenzlinien bzw. nur für ein Getränk mit drei oder mehr Zutaten offenbart sei.

Die Kammer sieht das anders, da das strittige Merkmal unter Verwendung der Konjunktion "indem" auf das vorangehende Merkmal "wobei die Bedien- und Anzeigevorrichtung (1) dazu ausgebildet ist, mehr als eine Zutat (C, W, F) hinsichtlich ihres Anteils am Getränk (32) gleichzeitig durch Berührgesten verändern zu lassen" folgt. Die Konjunktion "indem" wurde von der Beschwerdeführerin mit "if" übersetzt (Seite 9, zweiter Absatz der Eingabe der Einsprechenden 2 an die Einspruchsabteilung vom 18. Juli 2019: "if the first boundary line (8) for the first ingredient and the further boundary line (11) for the further ingredient is shifted"). Diese Übersetzung ist aus Sicht der Kammer nicht korrekt, da "indem" im Deutschen nicht etwa einen Konditionalsatz (der mit falls oder wenn eingeleitet wird - was dann tatsächlich mit "if" zu übersetzen wäre), sondern einen Modalsatz einleitet. Aufgrund des Modalsatzes beschreibt das strittige Merkmal, auf welche Weise die zuvor genannte Nutzung von Berührgesten erfolgt. Die Konjunktion "indem" definiert somit die bei Benutzung der beanspruchten Bedien- und Anzeigevorrichtung mögliche Verschiebung der Grenzlinien als Folge von Berührgesten. Die aus Absatz 8 der veröffentlichten Anmeldung in den Anspruch aufgenommene Definition einer Berührgeste ("derart, dass der Benutzer den Finger auf die auf dem Bildschirm dargestellte Grenzlinie eines Zutatenanteils auflegt und anschließend mit einer Wischbewegung ...") verlangt unbestritten das Auflegen eines Fingers auf die Grenzlinie dieses Zutatenanteils und eine anschließende Wischbewegung. Da der Begriff "Berührgesten" in dem aus Absatz 0010 aufgenommenen Merkmal wegen seiner Pluralform mindestens zwei solche Berührgesten betrifft, folgt nach Auffassung der Kammer aus der Kombination der Absätze 0008 und 0010 im geänderten Anspruch 1 des Hilfsantrags 3, dass für jede Berührgeste ein eigener Finger auf eine Grenzlinie aufgelegt werden muss. Somit ist es unerheblich, ob die Nutzung dieser beiden Finger - des einen und des anderen Fingers in der Wortwahl von Absatz 0010 der Anmeldung - im geänderten Anspruch explizit genannt wird. Denn sie geht implizit aus den mehreren Berührgesten und deren Definition im Anspruch hervor.

Der Verweis der Beschwerdeführerin auf eine mögliche Programmierung der Bedien- und Anzeigevorrichtung dergestalt, dass mittels einer einzigen Wischbewegung beide Grenzlinien bewegt würden, führt zu keiner anderen Sichtweise. Bei dieser Programmierung würde nur eine einzige Berührgeste, also die Wischbewegung eines einzigen Fingers, erfolgen, so dass das Merkmal "durch Berührgesten verändern zu lassen" wegen der darin genannten Mehrzahl von Berührgesten nicht erfüllt wäre.

5.3 Aus diesen Gründen stellt die Kammer fest, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, Artikel 123 (2) EPÜ.

6. Erfinderische Tätigkeit

Die erfinderische Tätigkeit von Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 wurde ausgehend von D2 in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen bestritten.

6.1 Das Dokument D2 betrifft eine Kapselmaschine, mit der beispielsweise ein Kaffee aus den Zutaten Kaffeepulver und Wasser hergestellt werden kann, siehe die Absätze 0002, 0031 und 0033 des Dokuments. Dazu besitzt die Maschine eine Bedien- und Anzeigevorrichtung in Form eines berührungsempfindlichen Displays, auf welchem ein Benutzer die Getränkemenge einstellen kann, siehe Absatz 0051 und die Figur 7c. Die Parteien stimmen darin überein, dass eine veränderte Getränkemenge in D2 dadurch erzielt wird, dass die Menge der Zutat "Wasser" verändert wird. Dagegen lässt sich die Menge des Kaffeepulvers nicht verändern, da diese Zutat in D2 in einer Kaffeekapsel eingeschlossen und somit unveränderlich ist.

6.2 Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 unterscheidet sich somit unbestritten von der Offenbarung der D2 zumindest darin, dass die Bedien- und Anzeigevorrichtung dazu ausgebildet ist, mehr als eine Zutat hinsichtlich ihres Anteils am Getränk gleichzeitig durch Berührgesten verändern zu lassen, indem die erste Grenzlinie für die erste Zutat und die weitere Grenzlinie für die weitere Zutat verschoben wird, siehe Seite 10, erster Absatz der Eingabe der Einsprechenden 2 an die Einspruchsabteilung vom 18. Juli 2019.

6.3 Im Hinblick auf dieses Unterscheidungsmerkmal stellt sich die Frage, ob ein Fachmann auf naheliegende Weise anhand seines Fachwissens die aus D2 bekannte Kapselmaschine zur Herstellung von Kaffee zur Verwendung mindestens einer dritten Zutat auslegen und dabei die Bedien- und Anzeigevorrichtung derart anpassen würde, dass auch die Menge mindestens dieser dritten Zutat durch eine Berührgeste veränderbar ist.

6.4 Die Beschwerdeführerin Einsprechende 2 formuliert die objektive technische Aufgabe als Wunsch nach der Veränderung von mehr Zutaten in einem zuzubereitenden Getränk (Seite 10, dritter Absatz der Eingabe der Einsprechenden 2 an die Einspruchsabteilung vom 18. Juli 2019: "it is obvious to the skilled person when wanting to control the proportion of more ingredients in a beverage to be prepared"). Im Hinblick auf die Formulierung der objektiven technischen Aufgabe gilt dabei, dass die Aufgabe so zu formulieren ist, dass sie keine Lösungsansätze enthält oder teilweise die Lösung vorwegnimmt (RdBK, I.D.4.2.1). Da die Beschwerdegegnerin Patentinhaberin der obigen Formulierung der Aufgabe nicht widersprochen hat, hält die Kammer eine Neuformulierung dieser nicht für geboten.

Mithin hängt die Entscheidung zur erfinderischen Tätigkeit davon ab, ob der von D2 ausgehende Fachmann - wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen - ohne eine unzulässige rückschauende Betrachtungsweise zu obigem Unterscheidungsmerkmal gelangt wäre.

6.5 Nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Beurteilung der Frage, ob der beanspruchte Gegenstand eine naheliegende Lösung für eine objektive technische Aufgabe darstellt, danach zu fragen, ob der Fachmann in der Erwartung, die Aufgabe zu lösen, die Lehre der nächstliegenden Entgegenhaltung angesichts anderer Lehren des Stands der Technik so abgewandelt hätte, dass er zu der beanspruchten Erfindung gelangt wäre (RdBK, I.D.5 "Could-would approach"). Im vorliegenden Fall könnte der Fachmann durchaus anhand seines Fachwissens statt der in D2 vermutlich zur Zubereitung von Kaffee oder Espresso genutzten beiden Zutaten Kaffeepulver und Wasser auch noch die weitere Zutat Milch vorsehen, um beispielsweise Cappuccino oder Latte Macchiato zuzubereiten.

Die Kammer ist aber nicht davon überzeugt, dass der Fachmann ausgehend von D2 wirklich so verfahren würde. Die in D2 offenbarte Kapselmaschine soll nämlich das Getränk anhand der in einer Kapsel enthaltenen Zutaten zubereiten (Absatz 0001: "designed to produce a beverage on the basis of ingredients which are contained in a capsule", "interaction of the introduced liquid with the ingredients produces a beverage"). Folglich ist dazu neben einer Getränkekapsel in D2 nur noch die weitere Zutat Wasser nötig, die erhitzt und unter Druck in eine Extraktionskammer gefördert wird, siehe die Absätze 0037 und 0042 des Dokuments. Eine oder mehr weitere Zutaten, die nicht in der Kapsel enthalten sind, sind dagegen nicht vorgesehen.

Nach geltender Rechtsprechung ist der Fachmann zwar völlig frei in der Wahl eines Ausgangspunkts, er ist dann aber an diese Wahl gebunden. Insbesondere wird durch seine Wahl einer bestimmten Gattung der weitere Entwicklungsrahmen, nämlich innerhalb dieser Gattung, vorgegeben (RdBK, I.D.3.6). Nach Meinung der Kammer legt der Fachmann durch die Wahl von D2 als Ausgangs-punkt den Entwicklungsrahmen im Bereich Kapselmaschinen für die Zubereitung von reinen Kaffeegetränken aus den Zutaten Kaffee und Wasser fest. Danach liegt es nicht in diesem Rahmen, also nicht im normalen fachmännischen Können, eine solche Kaffeemaschine in eine Maschine zur Zubereitung von Milchkaffeegetränken aus den Zutaten Kaffee, Wasser und Milch mit einer entsprechenden Bedien- und Anzeigevorrichtung zur Veränderung der Zutaten Wasser und Milch mittels zweier Wischgesten auf zwei dargestellten Grenzlinien umzugestalten. Erforderlich wäre hierfür nämlich das Hinzufügen eines Milchbehälters nebst Milchschäumer, oder vielleicht eines weiteren Behältnisses für die Zugabe von Geschmacksstoffen, Zucker, etc. Sicherlich könnte eine Fachperson eine einfache Kapselmaschine dahingehend verändern. Aber das Problem ist ja nicht, ob eine einfache Kapselmaschine so verändert werden könnte, daß sie es dem Nutzer erlaubt, dem Kaffee zusätzliche Zutaten hinzuzufügen, sondern ob ein Fachmann die Kapselmaschine aus D2 so verändern und dabei die Bedien- und Anzeigevorrichtung derart anpassen würde, dass auch die Menge mindestens dieser dritten Zutat durch eine Berührgeste veränderbar ist. Das erscheint der Kammer fernliegend: Der Vorzug der Maschine in D2 besteht ja gerade in ihrem einfachen Aufbau, der wenige Komponenten erfordert, weil eben nur die Wassermenge veränderbar ist.

6.6 Aus diesen Gründen beruht der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 auf erfinderischer Tätigkeit gegenüber dem angezogenen Stand der Technik,

Artikel 56 EPÜ.

7. Anpassung der Beschreibung

7.1 Im Hinblick auf eine Anpassung der Beschreibung vertritt die Beschwerdeführerin die Auffassung, dass auch die Absätze 0022 bis 0024 anzupassen seien, da die Figuren 2 und 3 der Patentschrift eine Bedien- und Anzeigevorrichtung mit nur einer verschiebbaren Grenzlinie zeigen würden.

7.2 Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin darin zu, dass in den Figuren 2 und 3 nur eine Verschiebung der Grenzlinie zwischen den Zutaten Kaffee und Wasser gezeigt ist, um den Kaffee- und den Wasseranteil zu verändern. Jedoch ist Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 kein Verwendungsanspruch, sondern ein Vorrichtungs-anspruch. Daher reicht es für eine in der Beschreibung oder in einer Figur dargestellte Ausführungsform aus, dass die dort beschriebene Vorrichtung alle Merkmale des unabhängigen Anspruchs besitzt - im vorliegenden Fall die Möglichkeit, eine zweite Grenzlinie darzustellen und durch eine Berührgeste verschieben zu lassen - , selbst wenn diese Vorrichtung dort nicht mit all ihren Merkmalen verwendet wird - im vorliegenden Fall also ohne Darstellung bzw. ohne Verschiebung einer zweiten Grenzlinie.

7.3 Die Figuren 2 und 3 der Patentschrift betreffen unbestritten die Herstellung eines Cappuccino, der aus den drei Zutaten Kaffee, Wasser und Milchschaum besteht, siehe die explizite Angabe "Cappuccino" in Figur 2 und das Bezugszeichen F für die dritte Zutat Milchschaum in Figur 3. Zudem geht bereits aus Absatz 0024 hervor, dass die Figuren 2 und 3 "die Bedien- und Anzeigevorrichtung (1)" (Hervorhebung durch die Kammer) zeigen. Genau diese Bedien- und Anzeigevorrichtung wird mit demselben Bezugszeichen 1 in Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 dadurch definiert, dass sie dazu ausgebildet ist, mehr als eine Zutat hinsichtlich ihres Anteils am Getränk gleichzeitig durch Berührgesten verändern zu lassen. Daher besitzt die in den Figuren 2 und 3 dargestellte Bedien- und Anzeigevorrichtung alle Merkmale von Anspruch 1 des Hilfsantrags 3, selbst wenn die Verschiebung einer zweiten Grenzlinie dort nicht gezeigt wird. Aus diesen Gründen ist eine Anpassung der Beschreibung über die Absätze 0010 und 0014 hinaus nicht erforderlich.

8. Unter Berücksichtigung der nach dem Hilfsantrag 3 vorgenommenen Änderungen stellt die Kammer fest, dass das Patent die Erfordernisse des EPÜ erfüllt, und somit nach Artikel 101(3)(a) EPÜ in geänderter Fassung aufrechterhalten werden kann.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent in geändertem Umfang mit folgender Fassung aufrechtzuerhalten:

Ansprüche:

Ansprüche 1 - 9 des Hilfsantrages 3 wie eingereicht mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung vom 13. Juli 2020;

Beschreibung:

Beschreibung wie erteilt mit der Maßgabe,

"Anspruch 10" in Absatz 10 durch "Anspruch 9"

zu ersetzen;

sowie:

"In einer weiteren, insgesamt vorteilhaften Ausführung ist" in Absatz 14 durch "Erfindungsgemäß ist"

zu ersetzen;

Zeichnungen:

Figuren 1-4 wie erteilt.

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