T 3167/19 () of 30.9.2022

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2022:T316719.20220930
Datum der Entscheidung: 30 September 2022
Aktenzeichen: T 3167/19
Anmeldenummer: 14153013.9
IPC-Klasse: B05C 1/08
B05C 11/10
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: BELEIMUNG VON MATERIALSTREIFEN DER TABAK VERARBEITENDEN INDUSTRIE
Name des Anmelders: Körber Technologies GmbH
Name des Einsprechenden: G.D S.p.A.
Kammer: 3.2.07
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(2)
Schlagwörter: Änderungen - unzulässige Erweiterung (ja)
Spät eingereichte Hilfsanträge - zugelassen (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/05
G 0002/10
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 2604/18

Sachverhalt und Anträge

I. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) legte form- und fristgerecht Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, mit welcher der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 727 652 zurückgewiesen wurde.

II. Der Einspruch richtete sich gegen das erteilte Patent im gesamten Umfang und stütze sich auf die sämtlichen Einspruchsgründe mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit nach Artikel 100 a) EPÜ, mangelnder Offenbarung nach Artikel 100 b) EPÜ sowie der unzulässigen Erweiterung nach Artikel 100 c) EPÜ.

III. Mit Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 vom 16. Februar 2022 teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Beurteilung der Sach- und Rechtslage mit, wonach die Beschwerde voraussichtlich erfolgreich sein sein werde.

IV. Die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) reagierte mit Schriftsatz vom 24. August 2022 inhaltlich auf diese Mitteilung und legte zugleich einen dem Hilfsantrag I vorangingen Hilfsantrag 0 und einen dem Hilfsantrag I nachrangigen Hilfsantrag II vor.

V. Am 30. September 2022 fand die mündliche Verhandlung vor der Kammer statt. Zu den Einzelheiten des Verlaufs wird auf das Protokoll verwiesen.

VI. Die Beschwerdeführerin beantragte zuletzt:

die Aufhebung der angefochtene Entscheidung und

den vollständigen Widerruf des Patents.

VII. Die Beschwerdegegnerin beantragte zuletzt:

die Zurückweisung der Beschwerde,

d.h. die Aufrechterhaltung des Patents in erteilter Fassung (Hauptantrag),

sowie hilfsweise, bei Aufhebung der angefochtenen Entscheidung,

die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Basis des Anspruchssatzes gemäß Hilfsantrag 0, Hilfsantrag I oder Hilfsantrag II,

von denen die Hilfsanträge 0 und II mit Schriftsatz von 24. August 2022 eingereicht wurden, und

der Hilfsantrag I dem im Einspruchsverfahren vorgelegten Hilfsantrag I entspricht und mit der Beschwerdeerwiderung erneut eingereicht wurde,

weiter hilfsweise die Rückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung auf der Basis des Hilfsantrags 0.

VIII. Der unabhängige Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag) lautet:

"Verfahren zum Betrieb einer Leimauftragungsvorrichtung der Tabak verarbeitenden Industrie zum Auftragen von Leim (20) auf einen Materialstreifen (10) der Tabak verarbeitenden Industrie mit

einer, vorzugsweise Näpfchen aufweisenden, Rasterwalze (5),

einer Leimkammer (3) mit einer an der Rasterwalze (5) angeordneten Leimverteilungskammer (7),

einer Rakel (30), die an der Leimkammer angeordnet ist und eine Rakelfase (33) aufweist, die in berührendem Kontakt mit der Oberfläche der Rasterwalze (5) ist, so dass entlang der Rakelfase (33) ein linienförmiger Berührungsbereich von der Rakel (30) bzw. der Rakelfase (33) und der Rasterwalze (5) ausgebildet ist,

wobei zwischen der Rakel (30) und der im Berührungspunkt von der Rakel (30) mit der Rasterwalze (5) verlaufenden Tangente (38) ein Rakelwinkel (alpha) ausgebildet ist, und das Verfahren folgende Schritte umfasst:

- Entnahme von Leim (20) aus der Leimverteilungskammer (7) mittels der Rasterwalze (5) und

- Abrakeln von überschüssig von der Rasterwalze aufgenommenen Leim mittels der Rakel (30),

dadurch gekennzeichnet, dass

die Leimkammer über ein in der Mitte der Rückseite der Leimkammer angeordnetes Kugelgelenk, das mit einem Andrückmittel verbunden ist, gegen die Rasterwalze gedrückt wird,

so dass die Rakel (30) mit einem vorbestimmten Rakelandruck gegen die Rasterwalze (5) gedrückt wird und als Rakelwinkel (alpha) ein Winkel zwischen 15° bis 40° eingestellt ist oder wird,

wobei der Rakelwinkel derart ausgebildet ist, dass eine vorbestimmte Leimmenge, insbesondere eine vorbestimmte, gemittelte Leimmenge pro Zeiteinheit aus der Leimkammer entnommen wird."

IX. Der unabhängige Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 0 ergänzt Anspruch 1 gemäß Hauptantrag um das Merkmal

"wodurch bei Variation des Rakelwinkels der Rakelandruck bzw. der Andruck des Rakels an den linienförmigen Berührungsbereich der Rakelspitze bzw. der Rakelfase auf die Oberfläche der Rasterwalze variiert wird".

X. Der unabhängige Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag I lautet wie folgt (Änderungen gegenüber Anspruch 1 gemäß Hauptantrag dargestellt durch die Kammer):

"Verfahren zum Betrieb einer Leimauftragungsvorrichtung der Tabak verarbeitenden Industrie zum Auftragen von Leim (20) auf einen Materialstreifen (10) der Tabak verarbeitenden Industrie mit

einer[deleted: , vorzugsweise] Näpfchen aufweisenden[deleted: ,] Rasterwalze (5),

einer Leimkammer (3) mit einer an der Rasterwalze (5) angeordneten Leimverteilungskammer (7),

einer Rakel (30), die an der Leimkammer angeordnet ist und eine Rakelfase (33) aufweist, die in berührendem Kontakt mit der Oberfläche der Rasterwalze (5) ist, so dass entlang der Rakelfase (33) ein linienförmiger Berührungsbereich von der Rakel (30) bzw. der Rakelfase (33) und der Rasterwalze (5) ausgebildet ist,

wobei zwischen der Rakel (30) und der im Berührungspunkt von der Rakel (30) mit der Rasterwalze (5) verlaufenden Tangente (38) ein Rakelwinkel (alpha) ausgebildet ist, und das Verfahren folgende Schritte umfasst:

- Entnahme von Leim (20) aus der Leimverteilungskammer (7) mittels der Rasterwalze (5) und

- Abrakeln von überschüssig von der Rasterwalze aufgenommenen Leim mittels der Rakel (30),

dadurch gekennzeichnet, dass

die Leimkammer über ein in der Mitte der Rückseite der Leimkammer angeordnetes Kugelgelenk, das mit einem Andrückmittel verbunden ist, gegen die Rasterwalze gedrückt wird,

so dass die Rakel (30) mit einem vorbestimmten Rakelandruck gegen die Rasterwalze (5) gedrückt wird und als Rakelwinkel (alpha) ein Winkel zwischen 15° bis 40° eingestellt ist oder wird,

wobei der Rakelwinkel derart ausgebildet ist, dass eine vorbestimmte Leimmenge, insbesondere eine vorbestimmte, gemittelte Leimmenge pro Zeiteinheit aus der Leimkammer entnommen wird."

XI. Der unabhängige Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag II ergänzt Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag I um das Merkmal

"wodurch bei Variation des Rakelwinkels der Rakelandruck bzw. der Andruck des Rakels an den linienförmigen Berührungsbereich der Rakelspitze bzw. der Rakelfase auf die Oberfläche der Rasterwalze variiert wird".

XII. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Parteien wird im Detail in den Entscheidungsgründen diskutiert.

Entscheidungsgründe

1. Hauptantrag - Änderungen (Artikel 100 c) EPÜ)

1.1 Die Beschwerdeführerin bemängelte die Feststellung in Punkt 2 der Entscheidungsgründe zur ursprünglichen Offenbarung und wendete ein, dass der Gegenstand von Anspruch 1 wie erteilt über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen auf unzulässigen Änderungen in Form von Ergänzungen bzw. Streichungen gegenüber dem ursprünglich eingereichten Anspruch 1 hinausgehe.

1.2 Der Einwand der Beschwerdeführerin betraf unter anderem das Merkmal xiii des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag, das dem Anspruch 1 der ursprünglichen Unterlagen hinzugefügt sei (vgl. Beschwerdebegründung, Punkt 2.2.):

"wobei der Rakelwinkel derart ausgebildet ist, dass eine vorbestimmte Leimmenge, insbesondere eine vorbestimmte, gemittelte Leimmenge pro Zeiteinheit aus der Leimkammer entnommen wird".

1.3 Dem Anmelder steht im Rahmen von Artikel 123 (2) EPÜ grundsätzlich das Recht zu, Ansprüche zu ändern und sie auf Gegenstände zu erstrecken, die von den Ansprüchen in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht umfasst waren (vgl. G 1/05, Nr. 5.3 der Entscheidungsgründe). Solche Änderungen dürfen jedoch nur im Rahmen dessen erfolgen, was die Fachperson der Gesamtheit der Unterlagen in ihrer ursprünglichen Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissen - objektiv und bezogen auf den Anmeldetag - unmittelbar und eindeutig der Gesamtheit der Unterlagen entnehmen kann (vgl. insbesondere G 2/10).

1.4 Zu der Offenbarung des Merkmals xiii verweist die angefochtene Entscheidung in Punkt 2.4 der Entscheidungsgründe auf die Passage der Zeilen 24 bis 28 der Seite 11 der ursprünglichen Unterlagen. Die Beschwerdegegnerin verweist ergänzend darauf, dass sich aus der Offenbarung der Seite 11, Zeile 25, bis Seite 14, Zeile 12, ergibt, dass die Variation der Rakelwinkel für die Veränderung der Leimmenge entscheidend ist.

1.5 Hinsichtlich der Offenbarung des Merkmals xiii sind jedoch nicht nur die Zeilen 24 bis 28 der Seite 11 der ursprünglichen Unterlagen isoliert zu betrachten. Diese Passage ist vielmehr Teil eines umfassenden, in sich zusammenhängenden Absatzes ist. Dieser Absatz beschreibt einen Zusammenhang zwischen einer Einstellung des Rakelwinkels und einer Variation des Rakelandrucks, um die gewünschte bzw. vorbestimmte Leimmenge (pro Zeiteinheit), die auf einen Materialstreifen bzw. einem Belegpapierstreifen aufgetragen werden soll, bei konstant bleibender Produktionsgeschwindigkeit gezielt einzustellen. Im folgenden Absatz (Absatz 1 auf Seite 12 der ursprünglichen Unterlagen) wird ergänzend festgehalten:

"Durch die Einstellung des Rakelwinkels und die Variation Rakelandrucks [sic!] wird zudem gewährleistet, dass [...] die Näpfchen der Rasterwalze gleichmäßig gefüllt werden [...]",

wodurch die Einstellung der Leimmenge sowie die Anforderung der übergeordneten, durch die Erfindung gelösten Aufgabe des einwandfreien Leimbilds erst erreicht werden können. Damit sind zur Anpassung einer vorbestimmten Leimmenge eine Einstellung des Rakelwinkels und eine damit verbundene Variation des Rakelandrucks offenbart.

1.6 Die Fachperson entnimmt den ursprünglichen Unterlagen jedoch keine technische Lehre, die eine direkte Abhängigkeit zwischen dem Rakelwinkel und der freigesetzten Leimmenge herstellt, wie es in Merkmal xiii formuliert ist, ohne eine Variation des Rakelandrucks zu berücksichtigen.

1.7 Entgegen der Feststellung der Einspruchsabteilung findet das Merkmal xiii damit keine Grundlage in den ursprünglich eingereichten Unterlagen, so dass die angefochtene Entscheidung der Einspruchsabteilung zu Artikel 100 c) EPÜ unrichtig und folglich aufzuheben ist.

2. Hilfsanträge 0 und II - Zulassung (Artikel 13 (2) VOBK 2020)

2.1 Die Hilfsanträge 0 und II wurden von der Beschwerdegegnerin mit Schriftsatz vom 24. August 2022 und damit nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vorlegt. Die Zulassung dieser Anträge unterliegt den Voraussetzungen des Artikels 13 (2) VOBK 2020.

2.2 Die Beschwerdegegnerin argumentierte, dass diese Hilfsanträge zuzulassen sein, da sie eine Reaktion auf die vorläufige Meinung der Beschwerdekammer darstellten, welche einen ersten möglichen Hinweis auf eine mögliche unzulässige Erweiterung des erteilten Patents lieferten (vgl. Schriftsatz vom 24. August 2022, Seite 1, Absatz 3). Auch wenn sich die Beschwerdegegnerin, wie sie in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer zugestand, dem Einwand unzulässiger Erweiterung gemäß Artikel 100 c) EPÜ, insbesondere hinsichtlich des Merkmals xiii, bereits in der Beschwerdebegründung gegenüber sah (vgl. Beschwerdebegründung, Punkt 2.2.), habe sie angesichts der Vielzahl von Einwänden der Beschwerdeführerin und der bis dahin vorliegenden ihr günstigen Auffassung in der angefochtenen Entscheidung davon abgesehen, unterschiedliche Hilfsanträge zu einem früheren Zeitpunkt im Beschwerdeverfahren einzureichen, um eine große Anzahl von Anträgen zu vermeiden, was dem Gebot der Verfahrensökonomie entspreche.

2.3 Dieses Argument ist nicht überzeugend. Wie die Beschwerdegegnerin zugestand, reichte sie die neuen Hilfsanträge 0 und II ein, um einen Einwand der unzulässigen Änderung von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag zu beseitigen, der von der Beschwerdeführerin bereits zu Anfang des Beschwerdeverfahrens, d.h. in der Beschwerdebegründung, erhoben wurde.

2.4 Die Kammer stimmte in ihrer vorläufigen Stellungnahme lediglich den Argumenten der Beschwerdeführerin zu und auch, wenn sie sich nicht den Feststellungen in der angefochtenen Entscheidung anschloss, so ging sie in ihrer vorläufigen Stellungnahme nicht über den Rahmen des vorangegangenen Einspruchs hinaus (vgl. hierzu Punkt 2.4 der Entscheidungsgründe).

2.5 Eine rechtzeitige Reaktion war der Beschwerdegegnerin auch nicht unzumutbar, so dass der Aspekt der Verfahrensökonomie im dieser Sache irrelevant bleibt.

2.6 Der Beschwerdegegnerin hätte daher die Hilfsanträge 0 und II als Antwort auf die Einwände der Einsprechenden rechtzeitig formulieren können und müssen, bevor die Kammer ihre vorläufige Stellungnahme abgegeben hat. Es liegen vielmehr keine außergewöhnlichen Umstände vor und die Hilfsanträge 0 und II werden gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht zum Verfahren zugelassen.

2.7 Mangels Zulassung des Hilfsantrags 0 kann zudem dem Antrag gemäß Artikel 11 VOBK auf Rückweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung auf der Basis des Hilfsantrags 0 nicht stattgegeben werden.

3. Hilfsantrag I - Änderungen (Artikel 100 c) EPÜ)

3.1 Der mit der Beschwerdeerwiderung erneut vorgelegte Anspruchssatz des Hilfsantrags I aus dem Einspruchsverfahren unterscheidet sich vom Hauptantrag durch die alleinige Ergänzung des Merkmals, dass die Rasterwalze Näpfchen aufweist.

3.2 In der mündlichen Verhandlung bestätigten beide Parteien ausdrücklich, dass der Einwand hinsichtlich der unzulässigen Änderung im Anspruch 1 gemäß Hauptantrag entsprechend für den Hilfsantrag I zutrifft.

3.3 Hilfsantrag I räumt den oben in Punkt 1. diskutierten Mangel nach Artikeln 100 c) bzw. 123 (2) EPÜ folglich nicht aus und ist daher nicht gewährbar.

4. Da die angefochtene Entscheidung betreffend das Patent gemäß Hauptantrag einer Überprüfung durch die Kammer nicht standhält und das Patent daher nicht in der erteilten Fassung aufrechterhalten bleiben kann, sowie keiner der vorgelegten Hilfsanträge 0 bis II in Verfahren zugelassen ist, oder geeignet ist, die Mängel nach Artikel 100 c) bzw. 123 (2) auszuräumen, war das Patent zu widerrufen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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