T 2337/19 () of 14.10.2020

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2020:T233719.20201014
Datum der Entscheidung: 14 October 2020
Aktenzeichen: T 2337/19
Anmeldenummer: 13747655.2
IPC-Klasse: A61C19/045
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: BESTIMMEN DER LAGE DER KONDYLEN-GELENKACHSE ZUM ERSTELLEN EINES VIRTUELLEN ARTIKULATORS
Name des Anmelders: Sirona Dental Systems GmbH
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.2.08
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 83 (2007)
European Patent Convention Art 84 (2007)
European Patent Convention R 63(1) (2010)
Schlagwörter: -
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Anmelderin (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde gegen die am 29. März 2019 zur Post gegebenen Entscheidung der Prüfungsabteilung ein, die Patentanmeldung mit der Nummer 13 747 655.2 zurückzuweisen.

II. Die Prüfungsabteilung hatte entschieden, dass die Anmeldung die Erfindung nicht so ausreichend offenbart, dass sie von einem Fachmann ausgeführt werden kann (Artikel 83 EPÜ) und dass die Ansprüche nicht durch die Beschreibung gestützt werden (Artikel 84 EPÜ).

Daher wurde während der Recherchephase des Verfahrens keine Recherche durchgeführt (Regel 63(1) EPÜ) und in der Prüfungsphase die Anmeldung zurückgewiesen (Artikel 97(2) EPÜ).

III. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung wurde auf Antrag der Beschwerdeführerin nach Lage der Akten gefällt, und stützt sich auf die Mitteilung gemäß Artikel 94(3) vom 18. Juni 2018 und auf das Ergebnis der telefonischen Rücksprache vom 5. Dezember 2018.

IV. Die Beschwerdeführerin hat beantragt, die Entscheidung der Prüfungsabteilung aufzuheben und die Patentanmeldung an das Europäische Patentamt zurückzuverweisen zur Durchführung einer Recherche und zur Prüfung der Patentanmeldung.

V. Die folgenden durch die Beschwerdeführerin zitierten Dokumente wurden für diese Entscheidung berücksichtigt:

[3]

P.J. Besl & N.D. McKay: "A Method for Registration of 3-D Shapes". IEEE Transaction on Pattern Analysis and Machine Intelligence, Vol. 14, No. 2, Feb. 1992.

D1 US 2004/0172150 A1

VI. Die geltenden Ansprüche haben folgenden Wortlaut:

Anspruch 1:

"Verfahren zum Bestimmen der Lage der Kondylen-Gelenkachse (150) eines Kiefers relativ zu den Zähnen (130, 140) von Unter- und/oder Oberkiefer mit folgenden Schritten:

a) bukkale Aufnahme von Lage und Orientierung der Zähne des Ober- und Unterkiefers in Schlussbissstellung;

b) bukkale Aufnahme von Lage und Orientierung der Zähne des Ober- und Unterkiefers in einer Stellung, in der der Unter- oder Oberkiefer gegenüber der Schlussbissstellung um einen Winkel von 1-20° um die Kondylen-Gelenkachse rotiert ist; und

c) rechnerische Bestimmung der Lage der Kondylen-Gelenkachse relativ zu den Zähnen von Unter- und/oder Oberkiefer aus den aufgenommenen Lagen und Orientierungen."

Anspruch 2:

"Verfahren zum Erstellen eines virtuellen Artikulators für einen Kiefer und das zugehörige Gebiss, mit folgenden Schritten:

a) Aufnahme eines virtuellen Modells der Zähne (140) des Oberkiefers;

b) Aufnahme eines virtuellen Modells der Zähne (130) des Unterkiefers;

c) Bestimmen der Lage der Kondylen-Gelenkachse (150) des Kiefers nach Anspruch 1 relativ zu den Zähnen des virtuellen Modells von Unter- und/oder Oberkiefer; und

d) Erstellen des virtuellen Artikulators aus den virtuellen Modellen von Unter- und Oberkiefer, ihrer relativen Lage zueinander, sowie der relativen Lage der Kondylen-Gelenkachse (150)."

Anspruch 3:

"Verfahren nach einem der vorhergehenden Ansprüche, dadurch gekennzeichnet, dass die Aufnahmen der Lage und Orientierung der Zähne des Ober- und Unterkiefers und/oder des virtuellen Modells der Zähne des Ober- und Unterkiefers mittels flächiger Triangulation erfolgt."

Anspruch 4:

"Vorrichtung zum Bestimmen der Lage der Kondylen-Gelenkachse eines Kiefers relativ zu den Zähnen von Unter- und/oder Oberkiefer mit:

a) Aufnahmemitteln zur bukkalen Aufnahme von Lage und Orientierung der Zähne des Ober- und Unterkiefers;

b) Mitteln zur rechnerischen Bestimmung der Lage der Kondylen-Gelenkachse relativ zu den Zähnen von Unter- und/oder Oberkiefer aus

bl) einer mit Hilfe der Aufnahmemittel aufgenommenen bukkalen Aufnahme von Lage und Orientierung der Zähne des Ober- und Unterkiefers in Schlussbissstellung; und

b2) einer mit Hilfe der Aufnahmemittel aufgenommenen bukkalen Aufnahme von Lage und Orientierung der Zähne des Ober- und Unterkiefers in einer Stellung, in der der Unter- oder Oberkiefer gegenüber der Schlussbissstellung um einen Winkel von 1-20° um die Kondylen-Gelenkachse rotiert ist."

Anspruch 5:

"Vorrichtung zum Erstellen eines virtuellen Artikulators für einen Kiefer und das zugehörige Gebiss, mit:

a) Mitteln zum dreidimensionalen Aufnehmen der Zähne des Ober- und Unterkiefers;

b) Mitteln zum Berechnen eines virtuellen Modells der Zähne des Ober- und Unterkiefers ausgehend von den dreidimensionalen Aufnahmen der Zähne des Ober- und Unterkiefers;

c) Mitteln gemäß Anspruch 4 zum Bestimmen der Lage der Kondylen-Gelenkachse des Kiefers relativ zu den Zähnen des virtuellen Modells von Unter- und/oder Oberkiefer; und

d) Mitteln zum Berechnen des virtuellen Artikulators aus den virtuellen Modellen von Unter- und Oberkiefer, ihrer relativen Lage zueinander, sowie der relativen Lage der Kondylen-Gelenkachse."

VII. Die Beschwerdeführerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:

Im Hinblick auf die Möglichkeit der Durchführung einer Recherche ist die Beschwerdeführerin der Meinung, dass für die Merkmale a) und b) des Anspruchs 1 entsprechende Dokumente zitiert werden könnten. Auch das Merkmal d) sei durchaus recherchierbar. Dies sei beispielhaft daran zu erkennen, dass das JPO und das USPTO jeweils eine Recherche durchgeführt hätten.

Die Beschreibung enthalte genügend Hinweise auf das verfügbare Fachwissen, das nötig sei, um die Erfindung auszuführen.

Der Begriff "virtuell" sei in der Anmeldung klar definiert: Ein "virtueller" Artikulator sei ein "auf einem Rechner simulierter" Artikulator.

Der Fachmann für das technische Gebiet der Anmeldung sei z.B. ein Entwickler für computergestützte Gebissmodelle mit umfangreichem Wissen über 3D-Darstellungen am Computer. Daher sei dem Fachmann die Bestimmung einer Rotationsmatrix geläufig. Explizit verweise die Beschreibung auch auf die Veröffentlichung [3], die die Verbindung von dreidimensionalen Modellen mittels Rotationsmatrizen beschreibe.

Obwohl die natürliche Kieferbewegung eine Kombination aus Translations- und Rotationsbewegung sei, sei es möglich und sinnvoll, eine reine Rotationsmatrix zu bestimmen, weil sich das beanspruchte Verfahren auf kleine Öffnungswinkel des Kiefers beschränke.

Die zur Aufnahme der Lage und Orientierung der Zähne vorgeschlagene "flächige Triangulation" werde im Glossar der Beschreibung (Seite 12, Zeilen 33ff) erläutert. Es sei also klar, was darunter zu verstehen sei.

Entscheidungsgründe

1. Die Kammer prüft in dieser Entscheidung vornehmlich die Frage, ob die vorliegende Anmeldung die Anforderungen der Artikel 83 und 84 EPÜ erfüllt bzw. ob die Entscheidung, die Anmeldung zurückzuweisen begründet war. Die von der Prüfungsabteilung erhobenen Einwände basierend auf Artikel 83 und 84 EPÜ wurden im Prüfungsverfahren zwar weitgehend im Hinblick auf die Möglichkeit einer sinnvollen Recherche diskutiert. Sie treffen jedoch gleichermaßen auf die Frage zu, ob die Anmeldung in der vorliegenden Fassung die Erfordernisse des EPÜ erfüllt oder ob sie zurückzuweisen ist.

2. Die Argumente im Einzelnen

Die Patentanmeldung wurde zurückgewiesen, weil sie im Sinne der Artikel 83 und 84 EPÜ keine Stützung in der Beschreibung und keine ausreichende Offenbarung für eine Vorrichtung und/oder ein Verfahren mit der beanspruchten Wirkung enthalte, nämlich das Bestimmen der Lage der Kondylen-Gelenkachse eines Kiefers relativ zu den Zähnen von Unter- und/oder Oberkiefer. Dem Fachmann stünde auch kein allgemeines Fachwissen solcher Art zur Verfügung.

Der von der Prüfungsabteilung diskutierte Begriff "virtuell" wird in der Patentanmeldung klar definiert und lässt daher auch keinen Bedeutungsspielraum offen, der nicht durch die Beschreibung gestützt wäre. Insbesondere definiert die Beschreibung auf Seite 1, Zeile 4, den Begriff "virtuell" als "rechnergestützt". Aus dem ersten Absatz der Beschreibung wird für den Fachmann klar, dass es sich bei einem virtuellen Artikulator um ein digitales Modell eines Artikulators handelt, das ähnlich wie digitale Gebissmodelle durch entsprechende Software am Bildschirm dargestellt werden kann. Virtuelle Artikulatoren sind offenbar auch in der Patentliteratur bekannt (siehe z.B. D1).

Es wurde auch die Frage aufgeworfen, wie die rechnerische Bestimmung der Lage der Kondylen-Gelenkachse relativ zu den Zähnen von Unter- und/oder Oberkiefer stattfinde und wie die als Grundlage der Berechnung notwendige Rotationsmatrix zustande komme.

Auf Seite 9, Zeilen 2-20, ist hierzu beschrieben, dass die Rotationsmatrix aus der Registrierung bekannt ist (Zeilen 10-11). Die Registrierung wiederum wird beispielsweise mittels eines Verfahrens von Besl und McKay durchgeführt, auf das in Zeile 3 verwiesen wird und für das entsprechende Literatur angegeben ist (Seite 14, Zeilen 17-19; bzw. [3], wie der Beschwerdebegründung beigefügt).

[3] ist eine wissenschaftliche Veröffentlichung aus dem Jahre 1992, datiert also etwa 20 Jahre vor dem Anmeldedatum der vorliegenden Patentanmeldung. Dort wird ein Algorithmus diskutiert, der zwei Geometrien (data shape, model shape) zur räumlichen Übereinstimmung bringt. Dazu wird die Datengeometrie mittels Rotation und Translation iterativ auf die Modellgeometrie verschoben. Die dazu nötige Rotation und Translation stellt das Ergebnis des Algorithmus dar, und zwar beispielsweise in Form einer Rotationsmatrix und eines Verschiebungsvektors (Seite 250, rechte Spalte; Seite 251, linke Spalte). Die Tatsache, dass [3] keine Informationen über virtuelle Artikulatoren oder die Kondylen-Gelenkachse beinhaltet, spielt für die Anwendbarkeit der dort angegebenen Methoden auf die Situation der Anmeldung keine Rolle.

[3] offenbart zwar keine explizite Software, die nach Eingabe von Messdaten zur Lage und Orientierung von Zähnen vor und nach einer Verdrehung um 1-20° direkt eine Rotationsmatrix ausgibt. Im Anbetracht der Entwicklung der Digitaltechnik im Zeitraum von 1992 bis 2013 ist jedoch anzunehmen, dass eine entsprechende Software, die aus zwei gegeneinander rotierten, digital aufgenommenen Punktmengen oder Flächen eine Rotationsmatrix errechnet, zum Anmeldezeitpunkt zum Handwerkszeug eines Fachmanns im Bereich der digitalen 3D-Datenverarbeitung gehörte.

Es ist daher möglich das Verfahren nach Anspruch 1 entweder unter Zuhilfenahme der zitierten Literatur [3] oder auf Grundlage des zum Anmeldezeitpunkt vorhandenen Fachwissens durchzuführen.

Zusätzlich besteht der Kern der Erfindung nicht darin, auf welche Weise die Aufnahmen gemacht werden und wie genau die Kondylen-Gelenkachse bestimmt wird. Dies gehört im Sinne der Anmeldung bereits zum als bekannt vorausgesetzten Stand der Technik. Der Kern der Erfindung liegt vielmehr darin, dass nicht wie bisher die virtuellen Kiefermodelle mit dem virtuellen Modell eines mechanischen Artikulators virtuell zusammengefügt werden, sondern dass durch die Bestimmung der Kondylen-Gelenkachse der virtuelle Artikulator erst entsteht.

Die natürliche Kieferbewegung ist zwar nicht nur rotatorisch, sondern auch translatorisch. Die vorliegende Anmeldung beschränkt sich aber explizit auf eine Modellierung der rotatorischen Bewegung. Um zu große Fehler bei der Modellierung zu vermeiden, wird anspruchsgemäß der Rotationswinkel auf 1-20° eingeschränkt. Die Bestimmung der Rotationsmatrix wird auch nicht dadurch komplexer, dass hierfür unterschiedliche technische Mittel zur Auswahl stehen. Der zugrundeliegende mathematische Vorgang ist stets derselbe.

Zur Bestimmung der Kondylen-Gelenkachse sind zwar genaue Daten erforderlich, es ist aber für den Fachmann klar, wie mit den genannten Aufnahmetechniken die nötigen Daten gewonnen werden können und wie diese zur Bestimmung der Gelenkachse verwendet werden können. Denn es handelt sich um lediglich zwei Aufnahmen des gleichen Gegenstandes in zwei verschiedenen Stellungen, und die Bestimmung eines zugehörigen Drehwinkels oder einer Drehachse gehört in den Bereich der grundlegenden Ingenieur-Mathematik.

Die Patentanmeldung nennt als mögliche Technik zur Aufnahme der Lage und Orientierung der Zähne die flächige Triangulation (Seite 6, Zeilen 9-15 und Seite 8, Zeilen 10-15). Weit vor dem Anmeldezeitpunkt der Patentanmeldung waren im Bereich der Dentalmedizin bereits Vorrichtungen zur Vermessung von Gebissen auf dem Markt, die mit flächiger Triangulation arbeiteten. Die Technik der flächigen Triangulation war daher zum Anmeldezeitpunkt einem Fachmann gut bekannt und technisch ausgereift. Daher ist die in der Anmeldung gegebene Erläuterung hierzu ausreichend.

3. Ausführbarkeit - Artikel 83 EPÜ

Ein Mangel an Ausführbarkeit nach Artikel 83 EPÜ liegt beispielsweise vor, wenn die Erfindung aus Gründen der Naturgesetze nicht realisiert werden kann, oder wenn die Patentanmeldung so wenig Informationen enthält, dass der Fachmann als Leser der Patentanmeldung nicht zu dem beanspruchten Gegenstand gelangen kann, ohne erfinderisch tätig zu werden.

Dazu wird jedoch nicht gefordert, dass die Patentanmeldung sämtliche technischen Details beschreibt, die zwar nötig sind für die Ausführung der Erfindung, die aber bereits allgemein bekannt sind und auch nicht den Kern der Erfindung ausmachen. Selbst eine detaillierte Beschreibung in einer Patentanmeldung stellt daher immer eine gewisse Abstrahierung und Verallgemeinerung der technischen Details dar. Im Gegenteil wird stets vorausgesetzt, dass der Leser eine Patentanmeldung vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens lesen und eventuell ergänzen kann.

In diesem Sinne ist die Erfindung im vorliegenden Fall so ausreichend offenbart, dass die Anforderungen des Artikels 83 EPÜ erfüllt sind.

4. Stützung durch die Beschreibung - Artikel 84 EPÜ

Eine mangelnde Stützung durch die Beschreibung im Sinne von Artikel 84 EPÜ liegt vor, wenn der Schutzbereich des Anspruchs unverhältnismäßig breit ist im Vergleich zu den in der Beschreibung angegebenen Ausgestaltungsformen der Erfindung, so dass es dem Fachmann nicht möglich ist, die Erfindung über den vollen beanspruchten Bereich zu realisieren.

Die Ansprüche definieren zwar keine konkrete Messtechnik für die Aufnahmen der Zähne und keine konkrete Rechenmethode zur Bestimmung der Kondylen-Gelenkachse, und die Beschreibung stellt es dem Leser frei, welche konkrete Technik er verwenden möchte. Es ist aber legitim, den Anspruch so allgemein zu formulieren, dass er alle sinnvollen Messtechniken umfasst, solange die Beschreibung zumindest ein konkretes Beispiel liefert, welche Technik für die Realisierung der Erfindung geeignet ist. Auch hier ist es wiederum nicht erforderlich, jede erdenkliche Technik detailliert zu beschreiben, um eine Stützung des Anspruchs durch die Beschreibung zu erreichen.

In diesem Sinne erfüllen die vorliegenden Ansprüche die Anforderungen des Artikels 84 EPÜ.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

Die Angelegenheit wird zur weiteren Behandlung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.

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