T 2181/19 () of 27.4.2023

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2023:T218119.20230427
Datum der Entscheidung: 27 April 2023
Aktenzeichen: T 2181/19
Anmeldenummer: 02714025.0
IPC-Klasse: E04G 7/30
E04G 1/14
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: GERÜSTSYSTEM MIT HOHLPROFILSTÄBEN
Name des Anmelders: Wilhelm Layher Verwaltungs-GmbH
Name des Einsprechenden: PERI SE
Kammer: 3.2.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
European Patent Convention Art 56
Schlagwörter: Spät eingereichte Beweismittel - Antrag identisch mit dem im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassenen Beweismittel
Spät eingereichte Beweismittel - zugelassen (nein)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0007/93
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Das europäische Patent EP 1 362 151 B1 ("das Patent") betrifft ein Gerüstsystem mit Hohlprofilstäben, die als Vertikalstiele ausgebildet sind.

II. Der gegen das Patent eingelegte Einspruch stützte sich auf die Gründe der Artikel 100 a) und b) EPÜ. Der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ wurde im Rahmen des Einspruchsverfahrens zurückgenommen.

III. Die Einspruchsabteilung kam zu dem Schluss, dass der Einspruchsgrund des Artikels 100 a) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents nicht entgegensteht und entschied, den Einspruch zurückzuweisen.

IV. Gegen diese Entscheidung legte die Einsprechende ("die Beschwerdeführerin") Beschwerde ein.

V. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.

VI. Ansprüche

Die Entscheidung der Einspruchsabteilung betraf den folgenden Anspruch 1 gemäß Patent (die Nummerierung der Merkmale wurde in Anlehnung an die von den Beteiligten verwendete Merkmalsanalyse hinzugefügt):

1.1 |Gerüstsystem mit zumindest zwei Hohlprofilstäben (10), |

1.2a|die als Vertikalstiele des Gerüstsystems ausgebildet sind oder |

1.2b|als Vertikalstiele der Gerüstrahmen (50) des Gerüstsystems ausgebildet sind, wobei |

1.3 |die Hohlprofilstäbe (10) jeweils einen oberen Endbereich (20) und einem unteren Endbereich (22), |

1.4 |einen definierten Außendurchmesser (DA) und |

1.5 |eine Wandstärke (t) aufweisen, |

1.6 |der Außendurchmesser (DR) des oberen Endbereichs (20) gegenüber dem Außendurchmesser (DA) des unteren Endbereichs (22) verringert ist, |

1.7 |derart dass mehrere Hohlprofilstäbe (10) aufeinandersteckbar sind und |

1.8 |der obere Endbereich (20) eines ersten Hohlprofilstabes (10) im gesteckten Zustand in den unteren Endbereich (22) eines zweiten Hohlprofilstabes (10) bis zu einem Anschlag (24) eingeführt ist und |

1.9 |zwischen Außenwand des oberen Endbereichs (20) und Innenwandung des unteren Endbereichs (22) ein zulässiges Spaltmaß (S) vorhanden ist, und |

1.10|der untere Endbereich (22) des zumindest eines zweiten Hohlprofilstabes (10) zumindest bereichsweise eine Querschnittsverjüngung (30.1) aufweist,dadurch gekennzeichnet, dass |

1.11|- der zumindest eine zweite Hohlprofilstab (10) unter Beibehaltung des definierten Außendurch-messers (DA) eine gegenüber dem einen ersten Hohlprofilstab (10) des Systemgerüsts eine verringerte Wandstärke (t) und |

1.12|eine höhere Materialfestigkeit aufweist, wobei |

1.13|- die Querschnittsverjüngung (30.1) so ausgebildet ist, dass sich zwischen der Innenwandung des unteren Endbereiches (22) im Bereich der Querschnittsverjüngung (30.1) bei aufeinander gesteckten Hohlprofilstäben (10) und der Außenwandung des oberen Einsteckbereiches (20) des aufgesteckten Hohlprofilstabes (10) das zulässige Spaltmaß (S) oder ein kleineres Spaltmaß ergibt.|

VII. Stand der Technik

a) Die folgenden, in der angefochtenen Entscheidung zitierten Dokumente, sind für diese Entscheidung wesentlich:

E1: |CH 659 282 A5 |

E10:|Stellungnahme des Vorsitzenden Dipl.-Ing. Feldmann an das Institut für Bautechnik vom 16. Juni 1972|

E11:|DIN 2440 vom Juli 1972 |

E12:|DIN EN 39 vom September 1973 |

E13:|Konstruktionszeichnung Layher eines Stellrahmens von 1978 |

E14:|Zulassungsbescheid Layher-Blitzgerüst vom 30. April 1982 |

b) In der Beschwerdebegründung verwies die Beschwerdeführerin zusätzlich auf die folgenden Dokumente, die im Rahmen des Einspruchsverfahrens nicht in das Verfahren zugelassen worden waren:

E8:|Zulassungsbescheid des öffentlich-rechtlichen Instituts für Bautechnik bezüglich des Rahmengerüsts der Patentinhaberin mit der Bezeichnung "Layher-Blitzgerüst II" vom 30. März 1973 |

E9:|Verlängerungsbescheid zum Zulassungsbescheid des öffentlich-rechtlichen Instituts für Bautechnik bezüglich des Rahmengerüsts der Patentinhaberin "Layher- Blitzgerüst" vom 16. Dezember 1996|

VIII. Das schriftsätzliche und mündliche Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:

a) Zulassung von E8 und E9

Die Einreichung von E8 und E9 sei in Reaktion auf die in der Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung dargelegte vorläufige Meinung der Einspruchsabteilung erfolgt. Aus diesem Grund hätte die Einspruchsabteilung E8 und E9 zulassen müssen.

Die Einspruchsabteilung habe im Rahmen der Beurteilung der Zulässigkeit der Beweismittel E8 und E9 ihr Ermessen unter Berücksichtigung falscher Maßgaben unter Heranziehung falscher Kriterien ausgeübt.

Keiner der von der Einspruchsabteilung herangezogenen Gründe für die Nichtzulassung von E8 und E9 sei stichhaltig:

Die Seitenzahl eines Beweismittels stelle kein adäquates Kriterium für die Beurteilung der Zulässigkeit eines Beweismittels dar.

Die Offenbarung in E8 sei entgegen der Ansicht der Einspruchsabteilung nicht widersprüchlich in Bezug auf die Wandstärke der Vertikalstiele. E8 offenbare zwar für die Wandstärke der Vertikalstiele zwei Werte, nämlich 3.2 und 3.25 mm. Der fachkundige Leser würde jedoch zwangsläufig die in den technischen Zeichnungen angegebene Wandstärke in Betracht ziehen, zumal diese gemäß der in E8 genannten Norm 2440 (E11) zum Veröffentlichungszeitpunkt von E8 üblich gewesen sei. E8 liefere auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die beiden Werte für Wandstärke aufgrund üblicher Fertigungstoleranzen als identisch zu betrachten seien.

Ferner seien die im Rahmen der Ermessensausübung von der Einspruchsabteilung berücksichtigten Beweismittel E10, E13 und E14 erst nach E8 veröffentlicht worden. Entgegen der Ansicht der Einspruchsabteilung seien diese Dokumente daher für die Auslegung von E8 irrelevant.

Sollte nichtsdestotrotz Diskussionsbedarf aufgrund der beiden unterschiedlichen Angaben zur Wandstärke der Vertikalstiele nach E8 bestanden haben, so belege dies gerade, dass eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsgehalt von E8 (in Kombination mit E9) im Rahmen des Einspruchsverfahrens hätte stattfinden müssen.

Die von der Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Argumente bestätigten die hohe Relevanz der Dokumente E8 und E9, die daher von der Kammer unter Ausübung ihres eigenen Ermessens ins Verfahren zuzulassen seien.

Dabei sei zu berücksichtigen, dass E8 auch so verstanden werden könne, dass darin für die Vertikalstiele zwei Ausführungsformen mit jeweils unterschiedlichen alternativen Wandstärken beschrieben werden, die beide in Betracht zu ziehen seien.

Der Zulassungsbescheid für ein Gerüstsystem nach E9 ziele nach ständiger Praxis nicht darauf ab, dass alte, nach E8 hergestellte Gerüstteile nicht mehr eingesetzt werden dürften. Vielmehr sei es unmittelbar klar, dass Gerüstteile, die gemäß einem älteren Zulassungsbescheids hergestellt worden seien, nach Inkrafttreten von E9 weiter eingesetzt werden könnten. Dies werde auch unmittelbar aus den Anlagen von E9 deutlich, die einen direkten Hinweis auf Gerüstteile nach E8 enthielten. Ausgehend von E9 sei es daher naheliegend, dass Vertikalstellrahmen gemäß den Vorgaben in E8 auch in einem Gerüstsystem nach E9 weiter eingesetzt würden.

b) Zulassung von E8 allein

E8 beschreibe ein Gerüst, bei dem Aluminium- und Stahlvertikalstellrahmen eingesetzt würden. Sowohl die Wandstärke als auch die Materialfestigkeit der Aluminium- und Stahlrohre, die für das Gerüst nach E8 eingesetzt werden könnten, sei unterschiedlich. E8 offenbare daher ein Gerüst nach Anspruch 1, sei daher prima facie hoch relevant und müsse im Verfahren berücksichtigt werden.

c) Erfinderische Tätigkeit

Anspruch 1 mache lediglich relative Angaben zur Wandstärke und der Materialfestigkeit, so dass auch schon geringfügige Unterschiede diesbezüglich die Erfordernisse von Anspruch 1 erfüllten.

E11 und E12 belegten, dass die Wandstärke von Stahlrohren für den Gerüstbau um 12.5 % schwanken dürfe. Zudem schwanke auch die Materialfestigkeit der Stahlrohre fertigungsbedingt, denn die Materialfestigkeit werde neben der Stahlgüte auch von der Wärmebehandlung während des Herstellungsprozesses beeinflusst.

Aufgrund der unvermeidbaren Fertigungstoleranzen weise jedes aufgebaute Gerüst gemäß E1 zwangsläufig eine Kombination von Vertikalstielen auf, wovon einer eine dünnere Wandstärke, aber höhere Materialfestigkeit aufweise als der andere.

Der Gegenstand von Anspruch 1 sei daher ausgehend von E1 naheliegend.

IX. Das entsprechende Vorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

a) Zulassung von E8 und E9

Die Einreichung von E8 und E9 stelle keine Reaktion auf die in der Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung dargelegte vorläufige Meinung der Einspruchsabteilung dar. Im Gegenteil verwende die Beschwerdeführerin E8 und E9 als Grundlage für völlig neue Angriffslinien.

Die von der Beschwerdeführerin verspätet im Einspruchsverfahren vorgelegten Beweismittel E8 und E9 seien prima facie irrelevant und daher zu Recht von der Einspruchsabteilung nicht in das Verfahren zugelassen worden.

Ein Gerüst mit Vertikalstielen unterschiedlicher Wandstärke und Materialfestigkeit könne aus E9 in Kombination mit E8 nicht abgeleitet werden. Vertikalstiele von Gerüstsystemen nach E8 und E9 wiesen gemäß dem Text im eigentlichen Zulassungsbescheid die selbe Wandstärke auf. Die in den Zeichnungen von E8 beschriebene Wandstärke sei unbeachtlich, da nur maßgeblich sei, was im Zulassungsbescheid selbst definiert werde. Des Weiteren liege die in den Zeichnungen der Anlagen von E8 angegebene Wandstärke von 3.25 mm innerhalb der Fertigungstoleranzen der im Zulassungsbescheid selbst angegebenen Wandstärke von 3.2 mm. Im Übrigen gebe E9 keinen Hinweis darauf, dass Gerüstteile nach E8 in dem Gerüstsystem nach E9 eingesetzt werden könnten. Selbst wenn man Gerüstteile nach E8 und Gerüstteile nach E9 auf einer Baustelle miteinander mischen würde, erhalte man kein Gerüstsystem nach Anspruch 1, da die Vertikalstiele nach E8 ohnehin mit einer Wandstärke von 3.2 mm gefertigt worden seien, also mit der gleichen Wandstärke wie die Vertikalstiele nach E9.

b) Zulassung von E8 allein

E8 beschreibe ein Gerüst, bei dem Aluminium- oder Stahlrohre eingesetzt würden. Ein Fachmann würde Aluminium- und Stahlgerüstteile gemäß gängiger Praxis nicht kombiniert einsetzten, da Aluminiumteile zu weich seien, um mit Stahlteilen gemischt eingesetzt werden zu dürfen. E8 offenbare daher kein Gerüst nach Anspruch 1 und sei daher prima facie nicht relevant.

c) Erfinderische Tätigkeit

Ein Fachmann würde Anspruch 1 technisch sinnvoll auslegen und die relativen Angaben zur Wandstärke und Materialfestigkeit der Vertikalstiele so verstehen, dass die erforderlichen Unterschiede höher sein müssen als die im Rahmen der üblichen Fertigungstoleranzen zugelassenen Unterschiede. Die in Anspruch 1 definierten Unterschiede in Bezug auf die Wandstärke und Materialfestigkeit zwischen den einzelnen Gerüstteilen bezögen sich daher nicht auf übliche und unvermeidbare Fertigungstoleranzen.

Ausgehend von E1 bestehe keinerlei Veranlassung, Gerüstteile mit bewusst gewählter unterschiedlicher Wandstärke und Materialfestigkeit einzusetzen.

Entscheidungsgründe

1. Zulassung von E8 und E9

1.1 Die Beschwerde ist vor dem Inkrafttreten der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) am 1. Januar 2020 eingelegt worden. Gemäß Artikel 25 (2) VOBK 2020 sind Artikel 12 (4) und (6) VOBK 2020 auf vor ihrem Inkrafttreten eingereichte Beschwerdebegründungen und darauf fristgerecht eingereichte Erwiderungen nicht anzuwenden.

Stattdessen gilt im vorliegenden Fall weiterhin Artikel 12 (4) VOBK 2007.

1.2 Die beiden im Rahmen des Einspruchsverfahrens verspätet eingereichten Bescheide E8 und E9 über die Erteilung einer allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassung für jeweils ein Layher-Blitzgerüst wurden von der Einspruchsabteilung nicht in das Verfahren zugelassen. Die Zulassung von E8 und E9 in das Beschwerdeverfahren liegt somit im Ermessen der Kammer (Artikel 12(4) VOBK 2007).

1.3 Nach ständiger Rechtsprechung ist es bei einer erstinstanzlichen Ermessensentscheidung nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die Sachlage nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte. Ein erstinstanzliches Organ, das nach dem EPÜ unter bestimmten Umständen Ermessensentscheidungen zu treffen hat, muss bei der Ausübung dieses Ermessens einen gewissen Freiraum haben, in den die Beschwerdekammern nicht eingreifen. Eine Beschwerdekammer sollte sich nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz bei einer Entscheidung in einer bestimmten Sache ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher bzw. unangemessener Weise ausgeübt hat und damit ihr eingeräumtes Ermessen überschritten hat (siehe dazu G 7/93, Punkt 2.6 der Entscheidungsgründe).

1.4 Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nach Maßgabe falscher Kriterien ausgeübt hat.

Dieses Argument überzeugt nicht.

1.4.1 Auch wenn die Einspruchsabteilung in ihrer vorläufigen Meinung zum Ausdruck gebracht hat, dass keine der in der Einspruchsschrift vorgebrachten Angriffslinien der Einsprechenden überzeugend ist, leitet sich daraus weder eine Aufforderung noch ein Anspruch darauf ab, neue Angriffslinien auf Grundlage neuer Beweismittel einzureichen, da die Einspruchsabteilung hier nur die von der Patentinhaberin vorgebrachten Argumente aufnimmt (vgl. Schreiben der Patentinhaberin vom 9. April 2018 unter Punkt II.4). Die Einspruchsabteilung stellte daher entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin zutreffend fest, dass E8 und E9 verspätet eingereicht worden waren. Folglich lag die Zulassung von E8 und E9 nach Artikel 114(2) EPÜ im Ermessen der Einspruchsabteilung.

1.4.2 Die Einspruchsabteilung begründete die Verweigerung der Zulassung von E8 und E9 damit, dass sie prima facie nicht dazu geeignet seien, ihre Entscheidung zu beeinflussen. Insbesondere hat sie in Bezug auf deren mangelnde Relevanz darauf verwiesen, dass der kombinierte Einsatz von Vertikalstellrahmen mit Vertikalstielen unterschiedlicher Wandstärke und Materialfestigkeit in einem Gerüstsystem aus E8 und E9 nicht ableitbar sei.

Somit hat die Einspruchsabteilung ihr von Artikel 114 (2) EPÜ eingeräumtes Ermessen nach korrekten Kriterien ("prima facie" Relevanz) und unter Angabe konkreter Gründe ausgeübt.

Auch die einzelnen von der Einspruchsabteilung aufgezählten Kriterien für die mangelnde "prima facie" Relevanz lassen keine fehlerhafte Ermessensausübung erkennen.

1.4.3 In ihrer Entscheidung hat die Einspruchsabteilung unter anderem feststellt, dass die Dokumente E8 und E9 umfangreich sind. Die Seitenzahl der Dokumente wurde von der Einspruchabteilung dabei aber nicht isoliert als alleiniges Kriterium in Betracht gezogen wurde. Vielmehr hat die Einspruchsabteilung festgestellt, dass sich die Lehre der umfangreichen Dokumente nicht unmittelbar erschließe.

Wie auch die nachfolgenden Punkte zeigen, sind eine Vielzahl von Textstellen in E8 und E9 zu berücksichtigen, um den von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Offenbarungsgehalt der beiden Dokumente zu bestimmen. Die umfängliche Evaluierung des Inhalts eines Dokuments und der Anzahl der darin zu kombinierenden Textstellen steht daher in unmittelbaren Zusammenhang mit dem bei der Ausübung des Ermessens gemäß ständiger Rechtsprechung anzuwendenden Kriterium der prima facie Relevanz. Was sich bei verständiger Würdigung nicht auf den ersten Blick als relevant erschließt, ist nicht als prima facie relevant zu erachten.

1.4.4 Die Einspruchsabteilung kam weiterhin zu dem Schluss, dass E8 nicht prima facie ein Gerüstsystem mit Vertikalstielen offenbart, die eine höhere Wandstärke aufweisen als die Vertikalstiele eines Gerüstsystems nach E9.

Diese Feststellung der Einspruchsabteilung steht ebenfalls in direktem Zusammenhang mit dem Kriterium der prima facie Relevanz und erfolgte anhand der richtigen Maßgaben, denn die Einspruchabteilung hat überprüft, ob sich die von der Beschwerdeführerin postulierte Offenbarung von E8 auch wirklich unmittelbar und direkt aus E8 ergibt (vgl. Punkt 5.2.5 der Entscheidung: "von diesem Widerspruch innerhalb E8 kann keine deutliche Lehre einer Wandstärke von 3,25 mm gezogen werden ...").

Dass die Einspruchsabteilung zur Interpretation der aus E8 ableitbaren Lehre weitere Dokumente (E8, E10, E13, E14) berücksichtigt hat, zeigt keinen Mangel betreffend die Ausübung des Ermessens, sondern belegt vielmehr, dass sich die Einspruchsabteilung im Detail mit der prima facie Relevanz der Dokumente E8 und E9 beschäftigt hat.

Zwar mag die Einspruchsabteilung die Relevanz der Offenbarung der Dokumente E10, E13 und E14 in Bezug auf die Auslegung von E8 anders beurteilt haben als die Beschwerdeführerin. Daraus kann allerdings keine fehlerhafte Ermessensausübung abgeleitet werden.

1.4.5 Ebenso steht die Heranziehung üblicher Normen wie E11 bzw. die Berücksichtigung üblicher Fertigungstoleranzen zur Evaluierung der beiden in E8 offenbarten Werte für die Wandstärke bzw. deren Unterschied im Vergleich zu üblichen Fertigungstoleranzen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Kriterium der prima facie Relevanz und stellt ebenfalls keinen Mangel der Ermessensausübung seitens der Einspruchsabteilung dar.

1.4.6 Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin obliegt es einer Einspruchsabteilung auch nicht, Dokumente zuzulassen, die prima facie nicht relevant sind und für die erst eine ausführlichere und detaillierte Diskussion gegebenenfalls hätte weitere Erkenntnisse bringen können. Vielmehr hätte es der Beschwerdeführerin oblegen, die Beweismittel E8 und E9 schon mit der Einspruchsschrift einzureichen oder zumindest so hinreichend im Rahmen des verspäteten Vorbringens zu substantiieren, dass deren prima facie Relevanz sich unmittelbar zeigt.

1.4.7 Zusammenfassend kommt die Kammer daher zu dem Schluss, dass kein Fehler seitens der Einspruchsabteilung in der Ausübung ihres Ermessens bei der Nichtzulassung von E8 und E9 feststellbar ist.

1.5 Ungeachtet der Frage, ob sich die Einspruchsabteilung an die anzulegenden Ermessenskriterien gehalten hat, ist die Kammer allerdings auch nicht unabänderlich an die Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung gebunden. Vielmehr steht der Kammer nach Artikel 12(4) VOBK 2007 ein eigenes Ermessen zu, gegebenenfalls Beweismittel in das Verfahren zuzulassen, die die Einspruchsabteilung zuvor nicht in das Verfahren zugelassen hatte.

1.6 Aus Sicht der Kammer besteht allerdings in Hinblick auf die mangelnde prima facie Relevanz von E8 und E9 für den Gegenstand von Anspruch 1 des Patents keine Veranlassung, diese Beweismittel unter Ausübung ihres Ermessens in das Beschwerdeverfahren zuzulassen, siehe die folgenden Punkte.

1.7 Fraglich und damit prima facie nicht unmittelbar erkennbar ist bereits, ob die in E8 und E9 beschriebenen Vertikalstiele des jeweiligen Layher-Blitzgerüsts überhaupt zwangsläufig jeweils eine unterschiedliche Wandstärke aufweisen.

Während E9 unzweideutig auf ein Gerüst mit Vertikalstielen einer Wandstärke von 3.2 mm gerichtet ist, offenbart E8 zwei unterschiedliche Werte für die Wandstärke.

Einerseits schreibt E8 in Punkt 2.1.1 auf Seite 3 des eigentlichen Zulassungsbescheids explizit ein Nennmaß von 3.2 mm für die Wandstärke der Vertikalstiele vor. Andererseits wird in den als Anlage BL II 3 bis BL II 5 beigefügten Zeichnungen von E8 die Wandstärke mit 3.25 mm angegeben. E8 offenbart daher nicht unzweideutig, dass die Vertikalstiele eine Wandstärke von 3.25 mm aufweisen müssen.

Zwar weist E8 in dem den Punkt "2. Bauart und Einzelteile" einleitenden, die Seiten 2 und 3 überbrückenden Absatz auf Folgendes hin:

"Das Rahmengerüst "Layher-Blitzgerüst II" und seine Einzelteile müssen den anliegenden Zeichnungen (Anl. 1 bis 35) entsprechen. Bestandteile dieses Gerüstes sind: Vertikalrahmen, Horizontalrahmen, horizontale Rahmentafeln, Bestrebungen, Seitenschutz, Gerüstbelag für die Horizontalrahmen, [...]."

Allerdings verweist dieser Absatz lediglich allgemein auf die in den Zeichnungen dargestellten Einzelteile und offenbart daher nicht, dass die im unmittelbar anschließenden Absatz "2.1. Vertikalrahmen" in Bezug auf "2.1.1. Stahlrahmen" auf Seite 3 der E8 genannten Maße zur Wandstärke von 3.2 mm ignoriert werden und stattdessen vielmehr die in den Zeichnungen angegebenen Maße (3.25 mm) gelten sollen.

Eine Auslegung von E8, wonach die zulässige Wandstärke aus den Zeichnungen zu bestimmen ist und nicht aus dem eigentlichen Zulassungsbescheid, widerspräche zudem der gängigen und üblichen Lesart eines Zulassungsbescheids, bei dem nach allgemeinen Verständnis die verbindlichen Angaben im Zulassungsbescheid selbst und nicht in seinen Anlagen zu finden sind.

Auch die Heranziehung von E11 ändert an dieser Auffassung nichts. E11 offenbart in Tabelle 1, dass Gewinderohre mit der Nennweite 40 eine Wanddicke von 3.25 mm aufweisen und dass derartige Rohre der DIN-Norm 2440 entsprechen. Diese Norm wird auch in dem die Seiten 10 und 11 überbrückenden Absatz 3.3 von E8 zitiert:

"Die Güte der Stahlrohre und Stahlteile der Gerüsteinzelteile muß mindestens der Güte eines Stahles St 37-2 gemäß DIN 17 100 entsprechen. Für die Stahlrohre gilt DIN 2440/2441 bzw. DIN 2458/1626. Der Stahl muß für die vorgesehene Schweißung geeignet sein."

Auch wenn Stahlrohre mit einer Wandstärke von 3.25 mm vor dem Veröffentlichungszeitpunkt von E8 marktüblich waren, kann daraus jedoch nicht zwangsläufig gefolgert werden, dass die Angaben in den Zeichnungen von E8 die Vorgaben im eigentlichen Zulassungsbescheid auf Seite 3 bedeutungslos machen. Dies wird beispielsweise auch daran deutlich, dass gemäß dem zitierten Absatz 3.3 von E8 die Güte des Stahles der Güte des Stahls St 37-2 gemäß DIN 17 100 entsprechen muss, während gemäß den Zeichnungen Stahl mit der Güte des Stahles St 37 eingesetzt wird. Die in den als Anlagen beigefügten Zeichnungen von E8 dargstellten Angaben zur Wandstärke und Materialfestigkeit entsprechen daher nicht alle zwangsläufig den in dem die Seiten 10 und 11 überbrückenden Absatz 3.3 von E8 genannten Normen.

1.8 Die Beschwerdeführerin argumentiert alternativ, dass E8 zwei Ausführungsformen für die Wandstärke der Vertikalstiele offenbare (Seite 3: 3.2 mm, Zeichnungen: 3.25 mm).

Auch dieses Argument überzeugt nicht, denn der Unterschied zwischen den beiden in E8 offenbarten Werten für die Wandstärke fällt klar in den für Gerüstteile üblichen Toleranzbereich von 12.5 % (siehe E11: Seite 3, linke Spalte, erster Absatz und E12: Seite 2, Abschnitt 4.2.3)

1.9 Die Kammer ist daher der Auffassung, dass ein Fachmann E8 nicht so verstanden hätte, dass darin zwei alternative Stahlausführungsformen offenbart werden, sondern dass das Gerüstsystem nach E8 unter Berücksichtigung normgemäßer Fertigungstoleranzen Vertikalstiele mit einer Wandstärke von 3.2 mm aufweisen muss.

Die gleiche Auffassung der Kammer gilt auch in Bezug auf die in E8 beschriebenen Aluminiumausführungen, für die in Punkt 2.1.2 auf Seite 4 von E8 eine Wandstärke von 4,05 mm und in den Zeichnungen (siehe beispielsweise BL II 10 und BL II 11) eine Wandstärke von 4 mm angegeben wird.

1.10 Selbst wenn man der Beschwerdeführerin um des Arguments willen soweit zustimmen würde, dass in E8 und E9 alternative Vertikalstiele unterschiedlicher Wandstärke mit unterschiedlicher Materialfestigkeit (E8: Stahl vom Typ ST 37 mit einer Streckgrenze von 235 N/mm**(2), E9: Stahl vom Typ ST 37-2 mit einer Streckgrenze von 320 N/mm**(2)) offenbart werden, so wäre in E9 nichtsdestotrotz prima facie kein Hinweis darauf enthalten, dass die in E9 beschriebenen Vertikalstellrahmen mit den in E8 beschriebenen Vertikalstellrahmen in Kombination miteinander eingesetzt werden können.

1.10.1 Gemäß Position 1 der Tabelle A1.1 werden gemäß E9 Stahlvertikalstellrahmen nach Seite 4 der Anlage C eingesetzt. Diese weisen eine Wandstärke von 3.2 mm auf und sind daher zweifelsfrei die Vertikalstellrahmen nach E9.

Des Weiteren werden in der Tabelle A1.1 durch ein Sternchen "*" diejenigen Teile markiert, die nicht mehr hergestellt werden, beispielsweise gemäß Position 6 eine Diagonale "Ø42,4x2,6" oder gemäß Position 29 Holzrahmentafeln.

Ein Hinweis darauf, dass in dem Gerüstsystem nach E9 auch Gerüstteile gemäß den Zeichnungen von E8 eingesetzt werden können, findet sich in der Tabelle A 1.1 jedoch nicht.

1.10.2 Zudem wird in E9 in Anlage A1 in Punkt A 1.1 unter Allgemeines ausgeführt, welche weiteren Gerüstteile neben den Gerüstteilen nach Tabelle A 1.1 von E9 in dem Gerüstsystem verwendet werden dürfen, beispielsweise:

"Stahl-Vertikalrahmen b = 1,088 m, die bis zum 30.04.1982 mit einem oberen U-Querriegel 48 x 53 x 2,5 hergestellt worden sind, dürfen in Verbindung mit Stahl-Belagtafeln nur bei einer Feldweite von höchstens 2,57 m verwendet werden."

E9 verweist also auf Vertikalstellrahmen, die tatsächlich bis zum 30.04.1982 gefertigt wurden. Aus dem Bezug auf bis zum 30.04.1982 hergestellte Vertikalstellrahmen ist prima facie nicht ableitbar, dass ausgerechnet die in den Zeichnungen von E8 dargestellten Vertikalstellrahmen in einem Gerüstsystem nach E9 eingesetzt werden können.

Die Beschwerdegegnerin bestätigte zudem, dass die "alten" Gerüstteile nach E8 bereits mit einer Wandstärke von 3.2 mm hergestellt wurden. Diese Aussage der Beschwerdegegnerin wurde von der Beschwerdeführerin weder in Frage gestellt noch widerlegt.

Sollte dem Argument der Beschwerdeführerin folgend aus dem Verweis auf bis zum 30.04.1982 hergestellte Vertikalstellrahmen unmittelbar folgen, dass es sich dabei um Vertikalstellrahmen handelt, die gemäß der Zulassung von E8 tatsächlich hergestellt wurden, so führte eine derartige Umsetzung der in Punkt A 1.1 der Anlage A1 von E9 beschriebenen Ausführungsform trotzdem prima facie nicht zu einem Gerüstsystem nach Anspruch 1, da bei einer derartigen Umsetzung sämtliche hergestellte Vertikalstiele eine Wandstärke von 3.2 mm aufweisen würden.

1.10.3 Auf Seite 4 der Anlage C von E9 wird offenbart, dass U-Profile (Riegel) der alten und neuen Ausführung eingesetzt werden können.

Auch diese Angabe in Anlage C von E9 legt entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin nicht nahe, dass die Vertikalstellrahmen nach den Zeichnungen von E8 in einem Gerüstsystem nach E9 eingesetzt werden dürfen.

Einerseits handelt es sich bei den genannten U-Profilen nicht um die in Anspruch 1 adressierten Vertikalstiele.

Andererseits wird als Stahlgüte auf Seite 4 der Anlage C von E9 sowohl für die "alten" als auch die "neuen" Gerüstteile gefordert, dass diese aus Stahl ST-37-2 gefertigt sind. Da gemäß den Zeichnungen von E8 die Gerüstteile aus Stahl St-37 gefertigt sein sollen, verweist auch die Anlage C von E9 nicht prima facie auf "alte" Gerüstteile gemäß den Zeichnungen von E8.

1.10.4 Die Beschwerdeführerin argumentiert weiterhin, dass Gerüstsysteme gemäß einem neuen Zulassungsbescheid immer "abwärtskompatibel" zu bereits bestehenden Gerüstsystemen sein sollten.

Wie bereits oben dargelegt, bestätigte die Beschwerdegegnerin allerdings, dass die "alten" Gerüstteile nach E8 bereits mit einer Wandstärke von 3.2 mm hergestellt wurden. Ein Gerüstsystem mit Vertikalstielen unterschiedlicher Wandstärke gemäß Anspruch 1 ergibt sich daher prima facie auch nicht inhärent durch eine Mischung von Vertikalstellrahmen unterschiedlicher Generationen von Gerüstsystem, also durch eine Mischung von "neuen" Vertikalstellrahmen gemäß dem Zulassungsbescheid E9 mit "alten" Vertikalstellrahmen gemäß dem Zulassungsbescheid E8 auf einer Baustelle.

1.11 In Anbetracht der obigen Ausführung hat die Kammer daher entschieden, E8 und E9 nicht in das Verfahren zuzulassen.

2. Zulassung von E8 allein

Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer argumentierte die Beschwerdeführerin erstmalig, dass der Gegenstand von Anspruch 1 nicht neu und damit auch nicht erfinderisch gegenüber der Offenbarung von E8 als solches sei und E8 aus diesem Grund im Beschwerdeverfahren zugelassen werden sollte.

Dieser neu vorgebrachte Einwand stellt eine Änderung des Beschwerdevorbringens nach Einreichung der Beschwerdebegründung gemäß Artikel 13 (1) VOBK 2020 dar, deren Zulassung im Ermessen der Kammer steht.

Diese Änderung des Vorbringens erfolgte zudem nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer. Derartige Änderungen bleiben gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.

Derartige außergewöhnliche Umstände wurden im vorliegenden Fall nicht geltend gemacht, so dass der Angriff ausgehend von E8 alleine bereits aus diesem Grund nicht in das Verfahren zuzulassen ist.

Ohne dass es darauf noch ankäme, ist zudem festzustellen, dass der neu vorgebrachte Einwand auch in der Sache prima facie nicht überzeugt.

E8 offenbart zwar auf Seite 2 unter Punkt I.1 in Abschnitt 1.3 ein "0,70 m breites Unterhaltungs- und Putzergerüst mit Vertikalrahmen aus Stahl oder Aluminium und Horizontalrahmen aus Stahl".

Aus der Angabe zweier Alternativen (Vertikalstellrahmen aus Stahl oder Aluminium) in E8 ist jedoch prima facie nicht ableitbar, dass Vertikalstellrahmen aus Stahl und Aluminium miteinander gemischt eingesetzt werden können. Ein fachkundiger Leser würde den Abschnitt 1.3 auf Seite 2 von E8 auch nicht derart auslegen, dass darin ein Mischen von Vertikalstellrahmen aus Stahl und Aluminium umfasst sein soll, denn dies widerspräche, wie von der Beschwerdegegnerin angeführt, der gängigen Praxis und den üblichen Bestimmungen.

3. Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 56 EPÜ

3.1 E1 wird im Patent in Absatz [0005] gewürdigt und offenbart unstreitig ein Gerüstsystem nach dem Oberbegriff von Anspruch 1, siehe Figur 4 der E1.

3.2 Das Gerüstsystem nach Anspruch 1 des Patents unterscheidet sich von dem aus E1 bekannten Gerüstsystem durch die Merkmale 1.11 und 1.12, wonach das Gerüstsystem zwei aufeinander gesteckte, als Vertikalstiele ausgebildetete Hohlprofilstäbe unterschiedlicher Wandstärke und unterschiedlicher Materialfestigkeit aufweist.

3.3 Ausgehend von E1 kann die objektive technische Aufgabe in Anlehnung an die Ausführungen in den Absätzen [0009] und [0013] des Patents darin gesehen werden, ein Gerüstsystem bereitzustellen, das eine hohe Tragsicherheit gewährleistet und ein geringes Gewicht aufweist.

3.4 Ein Hinweis darauf, dass sich Vertikalstiele auch mit geringerer Wandstärke unter Beibehaltung der Tragsicherheit herstellen lassen, findet sich in E1 nicht. Der Gegenstand von Anspruch 1 ist daher ausgehend von E1 nicht naheliegend.

3.5 Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass Anspruch 1 nur relative Angaben in Bezug auf die Wandstärke und Materialfestigkeit mache. Folglich erfülle jedes Gerüst nach E1 unausweichlich die Erfordernisse nach Anspruch 1, denn aufgrund fertigungsbedingter Toleranzen der Wandstärke und der Materialfestigkeit müsse aufgrund der sehr hohen Anzahl an Kombinationen verschiedener Vertikalstiele jedes Gerüst nach E1 zwangsläufig Kombinationen von Vertikalstielen aufweisen, bei dem diese zumindest geringfügig unterschiedliche Wandstärken und Materialfestigkeiten aufweisen.

Dieses Argument überzeugt nicht.

3.6 Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Anspruch unter Berücksichtigung der gesamten Offenbarung des Patents mit der Bereitschaft auszulegen, den beanspruchten Gegenstand zu verstehen, und nicht mit dem Willen, diesen misszuverstehen, siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, Kapitel II.A.6.1.

Auch wenn in Anspruch 1 für die Wandstärke und Materialfestigkeit keine konkreten Werte, sondern lediglich relative Angaben gemacht werden, ist die Kammer davon überzeugt, dass der Gegenstand von Anspruch 1 mit dem Verständnis des Fachmanns dahingehend ausgelegt werden muss, dass die darin definierten relativen Unterschiede in der Wandstärke und Materialfestigkeit nicht im Rahmen des unvermeidbaren, fertigungsbedingten Toleranzbereichs liegen, der in E11 (Seite 3, linke Spalte, erster Absatz) und E12 (Abschnitt 4.2.3 auf Seite 2) beschrieben wird, sondern über diese hinausgehen müssen. Diese Auslegung wurde auch von der Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung geteilt.

Ein nach E1 aufgebautes Gerüst erfüllt daher selbst unter Berücksichtigung der Fertigungstoleranzen nicht die Erfordernisse nach Anspruch 1. Folglich legt E1 in Kombination mit dem Fachwissen um Fertigungstoleranzen den Gegenstand von Anspruch 1 nicht nahe.

Der Einspruchsgrund nach Artikel 100(a) EPÜ steht der Aufrechterhaltung des Patents daher nicht entgegen.

4. Da nach alledem keiner der Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents entgegensteht, hat die Beschwerde keinen Erfolg.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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