European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2021:T186819.20210728 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 28 Juli 2021 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1868/19 | ||||||||
Anmeldenummer: | 06706682.9 | ||||||||
IPC-Klasse: | A61K 9/20 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | BRUCHFESTE DARREICHUNGSFORMEN MIT RETARDIERTER FREISETZUNG | ||||||||
Name des Anmelders: | Grünenthal GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | G. L. Pharma GmbH | ||||||||
Kammer: | 3.3.07 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Erfinderische Tätigkeit - (nein) | ||||||||
Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Das Europäische Patent Nr. 1 845 956 wurde mit 15 Ansprüchen erteilt. Die für die Entscheidung relevanten unabhängigen Ansprüche des Patents lauteten wie folgt:
"1. Darreichungsform umfassend
- eine physiologisch wirksame Substanz (A);
- ggf. einen oder mehrere physiologisch verträgliche Hilfsstoffe (B);
- ein synthetisches oder natürliches Polymer (C); und
- ggf. ein natürliches, halbsynthetisches oder synthetisches Wachs (D);
wobei die Darreichungsform
- eine Bruchfestigkeit von mindestens 400 N aufweist;
- weder Tramadol Hydrochlorid noch Oxycodon Hydrochlorid enthält;
- unter physiologischen Bedingungen nach 5 Stunden höchstens 99% der Substanz (A) freisetzt; und
- ein Gesamtgewicht im Bereich von 0,1 g bis 1,0 g aufweist."
"14. Verwendung einer Darreichungsform nach einem der Ansprüche 1 bis 10 zur Herstellung eines Medikaments zur Vorbeugung und/oder Behandlung einer Erkrankung unter Verhinderung einer Überdosierung der physiologisch wirksamen Substanz (A), insbesondere infolge einer Zerkleinerung des Medikamentes durch mechanische Einwirkung."
"15. Verwendung einer Darreichungsform nach einem der Ansprüche 1 bis 10 zur Herstellung eines Medikaments zur Vorbeugung und/oder Behandlung einer Erkrankung unter Verhinderung einer unbeabsichtigten Störung der retardierten Freisetzung der physiologisch wirksamen Substanz (A) infolge einer Zerkleinerung des Medikaments durch mechanische Einwirkung."
II. Gegen die Erteilung des Patents wurde Einspruch eingelegt. Als Einspruchsgründe wurden fehlende erfinderische Tätigkeit (Artikel 100 a) EPÜ) und unzureichende Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ) angeführt.
III. Die Einspruchsabteilung kam zu der Entscheidung, das Patent in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten. Dieser Entscheidung lagen das erteilte Patent als Hauptantrag, ein am 10. Januar 2019 eingereichter Hilfsantrag 1 und ein in der mündlichen Verhandlung am 12. März 2019 eingereichter Hilfsantrag 1A zugrunde.
IV. Folgendes Dokument wurde inter alia in der Entscheidung der Einspruchsabteilung zitiert:
D4: W02005/016314
V. Die Einspruchsabteilung kam in ihrer Entscheidung insbesondere zu folgenden Ergebnissen:
a) Das Patent sei ausreichend offenbart.
b) Die Dokumente D2-D5 gehörten zum Stand der Technik gemäß Artikel 54(2) EPÜ, da der Zeitrang des Streitpatents der Anmeldetag, d.h. 6. Februar 2006 sei.
c) Der Hauptantrag sowie der Hilfsantrag 1 erfüllten die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ nicht. Der nächstliegende Stand der Technik sei D4. Das Produkt des Hauptantrags unterscheide sich von den Produkten aus D4 in der Art des Wirkstoffs. Da kein Effekt damit verbunden sei, liege die zu lösende Aufgabe folglich in der Bereitstellung einer Alternative. Die im Hauptantrag vorgeschlagene Lösung sei ausgehend von D4 naheliegend. Das Produkt des Hilfsantrags 1 (Produktanspruch 8) unterscheide sich ferner von D4, indem psychotrope Substanzen im Allgemeinen ausgeschlossen wurden. Da dem Fachmann bekannt sei, dass andere Wirkstoffe ein Missbrauchspotential aufzeigen könnten, wäre es dem Fachmann offensichtlich erschienen, diese in gleicher Weise wie in D4 zu vertablettieren.
d) Der Hilfsantrag 1A genüge den Erfordernissen der Artikel 123(2) und 123(3) EPÜ sowie der Regel 80 EPÜ. Der Gegenstand des Hilfsantrags 1A wurde auf die Verwendung der Produkte eingeschränkt. Der nächstliegende Stand der Technik sei weiterhin D4. Die Verwendung des Hilfsantrags 1A unterscheide sich von der Verwendung gemäß D4, indem sie therapeutisch bleibe. Die Zerstörung der Darreichungsform im vorliegenden Hilfsantrag führe lediglich zu einer unbeabsichtigten Überdosierung und unterscheide sich somit von dem in D4 offenbarten beabsichtigten Missbrauch. Die vorliegende Darreichungsform erzeuge eine retardierte Abgabe des Wirkstoffs und verhindere somit eine Überdosierung. Die Verwendung einer retardierenden Darreichungsform, um eine Überdosierungsgefahr infolge unsachgemäßer Handhabung zu reduzieren, werde im Stand der Technik nicht vorgeschlagen. Der Hilfsantrag 1A erfülle folglich die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ.
VI. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde gegen die obige Entscheidung ein.
VII. Mit der Beschwerdeerwiderung vom 23. Januar 2020 verwies die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) auf die aufrechterhaltenen Ansprüche als Hauptantrag und reichte ferner 5 Hilfsanträge (Hilfsanträge 1-5) ein.
VIII. Die unabhängigen Ansprüche des Hauptantrags lauten wie folgt:
"1. Verwendung einer Darreichungsform umfassend
- eine physiologisch wirksame Substanz (A);
- ggf. einen oder mehrere physiologisch verträgliche Hilfsstoffe (B);
- ein synthetisches oder natürliches Polymer (C); und
- ggf. ein natürliches, halbsynthetisches oder synthetisches Wachs (D);
wobei die Darreichungsform
- eine Bruchfestigkeit von mindestens 400 N aufweist;
- weder Tramadol Hydrochlorid noch Oxycodon Hydrochlorid enthält;
- unter physiologischen Bedingungen nach 5 Stunden höchstens 99% der Substanz(A) freisetzt; und
- ein Gesamtgewicht im Bereich von 0,1 g bis 1,0 g aufweist;
zur Herstellung eines Medikaments zur Vorbeugung und/oder Behandlung einer Erkrankung
unter Verhinderung einer Überdosierung der physiologisch wirksamen Substanz (A), insbesondere infolge einer Zerkleinerung des Medikamentes durch mechanische Einwirkung."
"2. Verwendung einer Darreichungsform umfassend
- eine physiologisch wirksame Substanz (A);
- ggf. einen oder mehrere physiologisch verträgliche Hilfsstoffe (B);
- ein synthetisches oder natürliches Polymer (C); und
- ggf. ein natürliches, halbsynthetisches oder synthetisches Wachs (D);
wobei die Darreichungsform
- eine Bruchfestigkeit von mindestens 400 N aufweist;
- weder Tramadol Hydrochlorid noch Oxycodon Hydrochlorid enthält;
- unter physiologischen Bedingungen nach 5 Stunden höchstens 99% der Substanz(A) freisetzt; und
- ein Gesamtgewicht im Bereich von 0,1 g bis 1,0 g aufweist;
zur Herstellung eines Medikaments zur Vorbeugung und/oder Behandlung einer Erkrankung
unter Verhinderung einer unbeabsichtigten Störung der retardierten Freisetzung der physiologisch wirksamen Substanz (A) infolge einer Zerkleinerung des Medikaments durch mechanische Einwirkung."
Der Hilfsantrag 1 basiert auf dem Hauptantrag, wobei das Wort "insbesondere" im Anspruch 1 gestrichen wurde.
Der Hilfsantrag 2 basiert auf dem Hauptantrag, wobei der Anspruch 1 gestrichen wurde.
Der Hilfsantrag 3 basiert auf dem Hilfsantrag 2, wobei "Störung" durch "Aufhebung" ersetzt wurde.
Der Hilfsantrag 4 basiert auf dem Hilfsantrag 3, wobei das Merkmal "durch orale Verabreichung" am Ende des Merkmals "Zur Herstellung eines Medikaments zur Vorbeugung und/oder Behandlung einer Erkrankung" eingeführt wurde.
Der Hilfsantrag 5 basiert auf dem Hilfsantrag 4, wobei das Merkmal "weder Tramadol Hydrochlorid noch Oxycodon Hydrochlorid enthält" weiter geändert wurde durch die Einführung von "noch sonst eine psychotrop wirkende Substanz".
IX. Am 28. Juli 2021 fand die mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
X. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
XI. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen (Hauptantrag). Hilfsweise beantragte sie, das Patent auf der Grundlage eines der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 5 aufrechtzuerhalten.
XII. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Hauptantrag
D4 sei der nächstliegende Stand der Technik. Die Ansprüche 1-2 des Hauptantrags stellten keine zweiten medizinischen Verwendungsansprüche dar, weil die Verhinderung einer Überdosis bzw. einer unbeabsichtigten Störung der retardierten Freisetzung des Wirkstoffs keine weitere therapeutische Anwendung definiere, sondern lediglich auf ein galenisches Problem ausgerichtet sei. Ferner seien diese Effekte in D4 zumindest implizit offenbart. Der vorliegende Gegenstand unterscheide sich somit von D4 einzig durch die Wahl eines von Tramadol oder Oxycodon abweichenden Opioids. Die objektive Aufgabe könne lediglich in der Bereitstellung einer Alternative gesehen werden. Es sei für den Fachmann naheliegend, Tramadol HCl oder Oxycodon HCl durch einen weiteren in D4 offenbarten Wirkstoff zu ersetzen. Die Ansprüche 1-2 des Hauptantrags erfüllten folglich die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ nicht.
b) Hilfsanträge 1-5
Die Hilfsanträge 1-5 genügten mutatis mutandis den Erfordernissen des Artikels 56 EPÜ nicht. Bezüglich des Hilfsantrags 5 wurde bemerkt, dass D4 generell Substanzen mit Missbrauchspotential betreffe, während psychotrope Substanzen lediglich als Beispiele angeführt wurden. Weitere Substanzen mit Missbrauchspotential und ohne psychotrope Wirkung seien ferner dem Fachmann allgemein bekannt. D4 liefere somit einen Hinweis auf die Verwendung weiterer Substanzen mit Missbrauchspotential in den beschriebenen Darreichungsformen.
XIII. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Hauptantrag
D4 sei der nächstliegende Stand der Technik. Die Ansprüche 1-2 des Hauptantrags stellten zweite medizinische Verwendungsansprüche dar. Die beanspruchten therapeutischen Verwendungen (d.h. Verhinderung einer Überdosis bzw. einer unbeabsichtigten Störung der retardierten Freisetzung des Wirkstoffs) seien D4 nicht zu entnehmen, da D4 einen absichtlichen durch Zweckentfremdung erzielten Missbrauch betreffe. Der vorliegende Gegenstand unterscheide sich somit von D4 hauptsächlich durch die neuen Verwendungszwecke. Ferner sei auch der Patient unterschiedlich, da dieser im Gegensatz zu D4 gemäß dem Streitpatent kein Missbraucher sei. Die objektive Aufgabe bestehe daher im Auffinden weiterer Verwendungsmöglichkeiten der bruchfesten Darreichungsform von D4, die einen geringeren Betreuungsaufwand der Patienten ermöglichen. Eine Verwendung von Retard-Darreichungsformen mit erhöhter Bruchfestigkeit, um eine Überdosis bzw. Störung der retardierten Freisetzung infolge unsachgemäßer Handhabung zu vermeiden, werde in keinem der zitierten Dokumente des Stands der Technik offenbart. Der Hauptantrag genüge folglich den Erfordernissen des Artikels 56 EPÜ.
b) Hilfsanträge 1-5
Die Hilfsanträge 1-5 genügten mutatis mutandis den Erfordernissen des Artikels 56 EPÜ. Insbesondere sei der Gegenstand des Hilfsantrags 5 auf Substanzen ohne psychotrope Wirkung eingeschränkt. D4 betreffe hingegen ausschließlich psychotrop wirkende Substanzen. Dies stelle ein weiteres Unterscheidungsmerkmal dar. Die zu lösende Aufgabe liege im Auffinden einer Verwendung der Darreichungsformen aus D4, die eine geringere Gefährdung für den Patienten darstelle. Der Fachmann hätte im Stand der Technik keine Veranlassung gefunden, die Darreichungsformen aus D4 so zu ändern, dass sie weitere Wirkstoffe enthalten.
Entscheidungsgründe
Hauptantrag
1. Erfinderische Tätigkeit
1.1 Nächstliegender Stand der Technik
1.1.1 In Übereinstimmung mit den Parteien wird D4 als nächstliegender Stand der Technik betrachtet.
1.1.2 D4 offenbart eine Darreichungsform, die eine physiologisch wirksame Substanz mit Missbrauchspotential (A) sowie ein synthetisches oder natürliches Polymer (C) und gegebenenfalls physiologisch verträgliche Hilfsstoffe und ein Wachs enthält (s. Seite 1 erster Absatz). In einer bevorzugten Ausführungsform ist die Darreichungsform eine retardierte orale Darreichungsform (s. Seite 1, letzter Absatz; Seite 18, 2 letzte Zeilen; Seiten 28-32; Beispiele). Ferner weisen die in den Beispielen hergestellten Darreichungsformen ein Gesamtgewicht in dem Bereich von 0.1-1.0 g auf. Die in D4 offenbarten Darreichungsformen werden durch die Verhinderung einer Zerkleinerung der besagten Darreichungsformen (s. beispielsweise Seite 2, Absatz 5 oder Seite 10, Absatz 3) gegen Missbrauch gesichert. Dies erfolgt durch die Verwendung eines Polymers, das eine Bruchfestigkeit von mindestens 500N aufweist. In einer bevorzugten Ausführungsform weist die gesamte Darreichungsform eine Bruchfestigkeit von mindestens 500N auf (s. Seite 3, Absatz 2; Seite 20, Absatz 3). In diesem Zusammenhang bemerkt die Kammer, dass die seitens der Beschwerdegegnerin erwähnte Verwendung eines Emetikums und/oder Bitterstoffes lediglich optional ist. Eine hohe Anzahl an Substanzen mit Missbrauchspotential wird in D4 erwähnt (s. Seiten 4-8). In den spezifischen Beispielen wurden jedoch lediglich die gemäß den vorliegenden Ansprüchen ausgeschlossenen Wirkstoffe (nämlich Tramadol Hydrochlorid oder Oxycodon Hydrochlorid) verwendet.
1.2 Unterschied
1.2.1 Die Parteien stritten um die Auslegung der unabhängigen Ansprüche des Hauptantrags. Es wurde erörtert, ob die Verhinderung einer Überdosierung des Wirkstoffs (Anspruch 1) beziehungsweise einer unbeabsichtigten Störung der retardierten Freisetzung des Wirkstoffs (Anspruch 2) eine zweite medizinische Anwendung oder lediglich eine Eignung für den besagten Zweck definierte. In diesem Zusammenhang verwiesen beide Parteien auf verschiedene Entscheidungen der Beschwerdekammern (G 2/08, T 24/91, T 241/95, T 836/01, T 406/06 and T 2251/14).
1.2.2 Die Kammer bemerkt, dass sich aus den zitierten Entscheidungen zu dieser Frage im Zusammenhang mit den vorliegenden Ansprüchen keine eindeutige Schlussfolgerung ziehen lässt. Die Kammer ist jedoch der Ansicht, dass dieser Punkt im vorliegenden Fall nicht entscheidend ist, weil es sich dabei um kein unterscheidendes Merkmal gegenüber D4 handelt. In D4 wird eine erste medizinische Verwendung offenbart, da sich D4 auf Darreichungsformen bezieht, die pharmazeutische Wirkstoffe enthalten. Ferner ist der D4 auch die Verhinderung einer Überdosierung des Wirkstoffs sowie einer Störung dessen retardierter Freisetzung aus folgenden Gründen eindeutig und unmittelbar zu entnehmen.
a) D4 bezieht sich auf eine Sicherung gegen Missbrauch und offenbart somit bereits implizit die Verhinderung einer Überdosis.
Während der mündlichen Verhandlung argumentierte diesbezüglich die Beschwerdegegnerin, dass die Verhinderung einer Überdosierung der D4 nicht zu entnehmen sei. D4 beschreibe weder eine normale Dosis noch eine einen Kick verursachende Dosis. D4 liefere somit keine Angaben bezüglich einer Überdosierung. Wie auf Seite 1 von D4 erklärt, werde ferner der Missbrauch in D4 nicht durch eine Überdosierung sondern durch eine Veränderung der Verabreichungsroute (nasal nach Zerkleinerung oder intravenös nach Zerkleinerung und Extraktion) erzielt. Eine Überdosierung lediglich durch Zerkleinerung und orale Verabreichung sei folglich der D4 auch nicht zu entnehmen.
Die Kammer kann dieser Auffassung nicht zustimmen. Im Streitpatent wird die zu verhindernde Überdosierung ebenfalls nicht durch eine erhöhte Gesamtmenge an Wirkstoff sondern durch die Aufhebung der retardierten Freisetzung, d.h. die Erzeugung eines Kicks, erzielt. Das Argument der Beschwerdegegnerin bezüglich der fehlenden Angaben zu einer einen Kick verursachenden Dosis in D4 ist deswegen nicht überzeugend. Die missbräuchliche Verabreichungsroute und die gegebenenfalls damit verbundene Extraktion des Wirkstoffes sind außerdem irrelevant, da in D4 sowie im vorliegenden Hauptantrag die Zerkleinerung der Darreichungsform und eine daraus resultierende potenzielle Überdosierung verhindert werden. Wie seitens der Beschwerdeführerin vorgebracht, offenbart D4 weiterhin ebenfalls die Möglichkeit eines Missbrauchs durch orale Verabreichung (s. Seite 3 Absatz 5 und Seite 10 Absatz 3).
Die Beschwerdegegnerin brachte ferner vor, dass im vorliegenden Fall die Überdosierung "unbeabsichtigt" sei. Dieses Argument ist jedoch bereits deshalb nicht überzeugend, da der vorliegende Anspruch 1 diesbezüglich keine Einschränkung darstellt.
b) D4 offenbart die Bereitstellung einer gegen Zerkleinerung gesicherten Darreichungsform, die bei bestimmungsgemäßer Applikation "die gewünschte therapeutische Wirkung gewährleistet", (s. Seite 2, Absatz 5). Retardierte Darreichungsformen werden in D4 bevorzugt (s. Beispiele). Ferner wird, wie seitens der Beschwerdeführerin während der mündlichen Verhandlung argumentiert, auf Seite 3 Absatz 3 explizit erwähnt, dass ohne ausreichende Zerkleinerung keine spontane Freisetzung stattfindet. Die Verhinderung einer Aufhebung der retardierten Freisetzung (und somit die Gewährleistung der gewünschten Wirkung) ist daher in D4 offenbart. Das Argument der Beschwerdegegnerin, dass eine "bestimmungsgemäße Verwendung" nicht zwangsläufig eine Verhinderung der Störung der retardierten Freisetzung impliziert, ist folglich im vorliegenden Fall nicht überzeugend.
Schließlich ist die Kammer der Ansicht, dass eine "unbeabsichtigte" Störung der Freisetzung von einer "beabsichtigten" im vorliegenden Fall nicht unterschieden werden kann, da letztendlich die Ursache der Störung (nämlich die Zerkleinerung der Darreichungsform) in beiden Fällen (d.h. in D4 und im Streitpatent bzw. Hauptantrag) beabsichtigt ist, auch wenn aus unterschiedlichen Motivationen.
1.2.3 D4 offenbart folglich die gleiche Verhinderung (Verhinderung einer Zerkleinerung der Darreichungsform) mit der gleichen Konsequenz (Gewährleistung der gewünschten retardierten Freisetzung des Wirkstoffs und somit Vermeidung einer Überdosierung) wie im vorliegenden Hauptantrag.
1.2.4 In diesem Zusammenhang argumentierte die Beschwerdegegnerin, dass es sich im vorliegenden Hauptantrag um eine neue therapeutische Situation handelt. Insbesondere könnte eine neue Untergruppe von Patienten ausgewählt werden.
Zuerst bemerkt die Kammer, dass in den vorliegenden Ansprüchen keine Untergruppe von Patienten definiert wird. Ferner scheint die Tatsache, dass die Einnahme des Medikaments den Patienten selbstständig ohne weitere Aufsicht überlassen werden kann, im Falle von D4 ebenfalls zuzutreffen. Das Argument der Beschwerdegegnerin, dass Missbraucher in D4 möglicherweise keine Patienten sind, ist folglich in Anbetracht des Wortlauts der Ansprüche des vorliegenden Hauptantrags irrelevant. Schließlich führt die Verhinderung der Zerkleinerung zu keinem besonderen therapeutischen Effekt im Vergleich zur zweckmäßigen Verwendung des Wirkstoffs in einer gegen Zerkleinerung nicht geschützten Darreichungsform. Die Kammer kann im Gegensatz zu den Ausführungen der Beschwerdegegnerin keine neue Behandlung einer Funktionsstörung oder Funktionsschwäche des Körpers erkennen.
1.2.5 Entgegen der Meinung der Beschwerdegegnerin stellen die beanspruchten Zwecke (d.h. Verhinderung einer Überdosis oder Verhinderung einer Störung der retardierten Freisetzung) demnach keinen Unterschied zu D4 dar. Die Kammer sieht somit das Unterscheidungsmerkmal lediglich in der Art des in der Darreichungsform enthaltenen Wirkstoffs.
1.3 Objektive technische Aufgabe
Die Kammer sieht folglich die objektive technische Aufgabe ausgehend von D4 in der Bereitstellung weiterer nicht pulverisierbarer verzögernd freisetzender Darreichungsformen, die andere Wirkstoffe enthalten, zur therapeutischen Verwendung der besagten Wirkstoffe unter Einhaltung der vorgesehenen Freisetzungsbedingungen.
1.4 Naheliegen der vorgeschlagenen Lösung
Die Kammer bemerkt, dass die Beschreibung sowie die Ansprüche von D4 im Allgemeinen Wirkstoffe mit Missbrauchspotential betreffen. D4 offenbart ferner eine Vielzahl an geeigneten Wirkstoffen (s. Seiten 4-8), wobei lediglich die Beispiele auf Tramadol Hydrochlorid und Oxycodon Hydrochlorid beschränkt sind. Demzufolge wäre dem Fachmann offensichtlich erschienen, die Wirkstoffe aus den Beispielen von D4 durch weitere in D4 zitierte Wirkstoffe zu ersetzen, um die vorliegende Aufgabe zu lösen.
1.5 Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 2 des Hauptantrags beruht folglich nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).
Hilfsanträge 1-4
2. Erfinderische Tätigkeit
2.1 Die in den Hilfsanträgen 1-4 durchgeführten Änderungen stellen keine weiteren Unterschiede zu D4 dar:
a) Wie bereits unter Punkt 1.2.2 a) erklärt, offenbart D4 die Verhinderung der Zerkleinerung der Darreichungsform (Hilfsantrag 1).
b) Der Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 entspricht dem Anspruch 2 des Hauptantrags.
c) Wie bereits unter Punkt 1.2.2 b) erklärt, ist eine Verhinderung der Aufhebung der retardierten Freisetzung D4 zu entnehmen, siehe insbesondere Seite 3 Absatz 3 (Hilfsantrag 3).
d) D4 offenbart ferner einen Missbrauch durch orale Verabreichung, siehe Seite 3 Absatz 5 und Seite 10 Absatz 3 (Hilfsantrag 4).
2.2 Die Hilfsanträge 1-4 erfüllen demzufolge die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ aus denselben Gründen wie für den Hauptantrag erläutert nicht.
Hilfsantrag 5
3. Erfinderische Tätigkeit
3.1 Der Hilfsantrag 5 unterscheidet sich vom Hauptantrag, indem psychotrop wirkende Substanzen allgemein ausgeschlossen werden. Somit sind alle in D4 spezifisch aufgelisteten Substanzen ausgeschlossen. Dadurch entsteht lediglich eine weitere Abgrenzung gegenüber der Offenbarung von D4. Der Unterschied zum nächstliegenden Stand der Technik bleibt jedoch entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin unverändert und liegt weiterhin in der Art des in der Darreichungsform enthaltenen Wirkstoffs.
3.2 Demzufolge ist auch die objektive technische Aufgabe die gleiche wie für den Hauptantrag. In diesem Zusammenhang hat die Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung argumentiert, dass die zu lösende Aufgabe im Auffinden einer Verwendung der Darreichungsformen aus D4, die eine geringere Gefährdung für den Patienten darstellt, zu sehen sei. Die Kammer kann dieser Formulierung der Aufgabe nicht folgen. Die erwähnte geringere Gefährdung wird gemäß dem Streitpatent nicht durch die Art des Wirkstoffs sondern durch die Bruchfestigkeit erzielt. Diese ist bereits in D4 offenbart und stellt somit keinen Unterschied zu D4 dar.
3.3 Die im Hilfsantrag 5 vorgeschlagene Lösung ist weiterhin naheliegend. D4 erwähnt im Allgemeinen Substanzen mit Missbrauchspotential (s. Anspruch 1 und Seite 1) und liefert somit einen Hinweis auf weitere Substanzen. Die Offenbarung von D4 ist entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin weder auf die auf Seiten 4-8 offenbarten Substanzen noch auf psychotrop wirkende Substanzen eingeschränkt. In diesem Zusammenhang argumentierte die Beschwerdegegnerin, dass der Missbrauch in D4 auf einen "euphorisierenden" Effekt fokussiert. Die Kammer bemerkt jedoch, dass der "euphorisierende" Effekt lediglich als Beispiel für ein Missbrauchsziel in D4 erwähnt wird (s. Seite 1 Absatz 2 Satz 2 "beispielsweise"). Des Weiteren bemerkt die Kammer, dass der Gegenstand der Ansprüche des Hilfsantrags 5 hingegen auf keine spezifischen Substanzen gerichtet ist, sondern lediglich die in D4 spezifisch erwähnten Substanzen ausschließt. Die Kammer erkennt nicht, inwiefern dieser Ausschluss eine erfinderische Tätigkeit begründen kann. Wie seitens der Beschwerdeführerin während der mündlichen Verhandlung vorgebracht, sind dem Fachmann nicht psychotrop wirkende Substanzen mit Missbrauchspotential bekannt. Die Kammer kommt somit zum Schluss, dass der Fachmann die Wirkstoffe aus den Beispielen von D4 durch weitere bekannte Substanzen mit Missbrauchspotential und ohne psychotrope Wirkung ersetzt hätte, um die vorliegende Aufgabe zu lösen.
3.4 Der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs des Hilfsantrags 5 beruht demzufolge nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen