T 1269/19 (Formstück/Bänninger) of 15.10.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T126919.20211015
Datum der Entscheidung: 15 October 2021
Aktenzeichen: T 1269/19
Anmeldenummer: 08158478.1
IPC-Klasse: B32B 27/32
B32B 27/18
F16L 9/133
B32B 1/08
F16L 11/04
B32B 27/08
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: FORMSTÜCK AUS KUNSTSTOFF
Name des Anmelders: Bänninger Kunststoff-Produkte GmbH
Name des Einsprechenden: Aquatherm GmbH
Kammer: 3.3.06
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 83 (2007)
Schlagwörter: Ausreichende Offenbarung - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0003/14
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 2 050 564 unter Artikel 100(b) EPÜ zu widerrufen.

II. Der erteilte Anspruch 1 in der von der Beschwerdeführerin vorgelegten Merkmalsgliederung hat den folgenden Wortlaut:

M 1.1 Formstück aus Kunststoff zum Herstellen von

Rohrleitungen mit einem im Querschnitt

mehrschichtigen Aufbau,

M 1.2 wobei das Formstück einen dreischichtigen

Aufbau aufweist,

M 1.3 wobei das Formstück zumindest eine Innenschicht

und

M 1.4 zumindest eine Barriereschicht aufweist,

M 1.5 wobei die Barriereschicht von einer

Außenschicht allseitig umfasst ist,

M 1.6 wobei das Formstück aus Polypropylen-Random-

Crystalline-Temperaturbeständigen Material

(PP-R-CT) hergestellt ist und

M 1.7 wobei das PP-R-CT-Polypropylenmaterial eine

Kristallstruktur mit in ß-Form kristallisierten

Polypropylen aufweist,

M 1.8 wobei die Außenschicht und die Barriereschicht

aus PP-R-CT-Polypropylenmaterial hergestellt

ist,

M 1.9 wobei das Formstück neben der ersten

Barriereschicht aus einem kristallinem und/oder

nukleiertem Polymer zumindest eine zweite

Barriereschicht aufweist.

III. Mit der Beschwerdebegründung beantragte die Beschwerdeführerin, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur Behandlung des Einspruchsgrundes der mangelnden erfinderischen Tätigkeit an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

IV. Mit der Beschwerdeerwiderung reichte die Einsprechende (Beschwerdegegnerin) einen "Screenshot" einer Webseite ein (D16) und beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.

V. Nach Erhalt der vorläufigen Meinung der Kammer zog die Beschwerdegegnerin ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurück.

VI. Die abschließenden Anträge der Parteien sind wie folgt:

Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, ferner D16 nicht ins Verfahren zuzulassen.

Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

1. Entscheidung ohne mündliche Verhandlung

Eine solche Entscheidung ist möglich, da einerseits die Beschwerdegegnerin ihren diesbezüglichen Antrag zurückgezogen hat und andererseits der Hauptantrag der Beschwerdeführerin auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung an die erste Instanz erfolgreich ist.

2. Artikel 100(b) EPÜ

2.1 Die Kammer hat bereits in ihrer vorläufigen Meinung ausgeführt, dass sie die Argumente, mit denen die Einspruchsabteilung den Widerruf des Patents begründet hat, nicht für stichhaltig hält. Da keine Gegenargumente vorgebracht wurden, sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer Meinung abzuweichen, dass der Einspruchsgrund nach Artikel 100 (b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents nicht entgegen steht.

2.2 Die Einspruchsabteilung war der Ansicht, die Erfindung sei nicht über den gesamten beanspruchten Bereich ausführbar, weil das Streitpatent nicht lehre, welche Polymere in der Innen- und zweiten Barriereschicht eingesetzt werden könnten, um Formstücke mit verbesserten mechanischen Eigenschaften zu erhalten. Konkret argumentierte sie, Merkmal 1.6 des erteilten Anspruchs 1 sei nicht so auszulegen, dass alle Schichten des Formstücks aus Polypropylen-Random-Crystalline-Temperaturbeständigen Material (PP-R-CT) bestünden, sondern lediglich die Außenschicht und die (erste) Barriereschicht (Merkmal 1.8). Die Innenschicht könne zwar gemäß Anspruch 2 ebenfalls aus PP-R-CT bestehen, aber Anspruch 1 lasse auch andere Materialien zu. Für die (zweite) Barriereschicht (Merkmal 1.9) offenbare die Anmeldung überhaupt kein geeignetes Material. Anspruch 1 umfasse somit Formstücke, bei denen die Innenschicht und die zweite Barriereschicht nicht aus PP-R-CT-Material bestünden, aber das Streitpatent enthalte keine Informationen, die es dem Fachmann erlauben würden, ohne unzumutbaren Aufwand geeignete Materialien zu identifizieren, mit denen Formstücke mit verbesserten mechanischen Eigenschaften erhalten werden könnten. Somit sei die Erfindung nicht so vollständig offenbart, dass der Fachmann sie ausführen könne.

2.3 Für die Kammer ist eindeutig, dass sich Merkmal 1.6 ("wobei das Formstück aus Polypropylen-Random-Crystalline-Temperaturbeständigen Material (PP-R-CT) hergestellt ist") auf das gesamte Formstück bezieht, woraus folgt, dass alle Schichten des Formstücks aus PP-R-CT hergestellt sind. Nach dieser Anspruchsauslegung stellt sich die Frage der Auswahl geeigneter Materialien für die Innenschicht und die zweite Barriereschicht nicht, denn diese bestehen wie das gesamte Formstück aus PP-R-CT. Es ist zudem nicht vorgebracht worden, dass dem Fachmann zum Prioritätszeitpunkt diese Materialbezeichnung nicht geläufig war und auch nicht, dass das entsprechende Material nicht zur Verfügung stand, so dass für die Kammer keine begründeten Zweifel daran bestehen, dass der Fachmann die in Anspruch 1 definierte Erfindung ausführen kann.

2.4 Die Kammer merkt noch an, dass die Ausführbarkeit der Erfindung unabhängig von der Interpretation des Merkmals 1.6 gegeben ist, d.h. auch wenn man wie die Einspruchsabteilung davon ausginge, dass Anspruch 1 die Materialien der Innenschicht und der zweiten Barriereschicht offen ließe, wäre die Erfindung ausführbar, denn nach gefestigter Rechtsprechung kann ein Einwand mangelnder Offenbarung nicht darauf gestützt werden, dass die Anmeldung es dem Fachmann nicht ermögliche, eine nicht beanspruchte Wirkung zu erzielen (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, neunte Auflage, II.C.3.2). Der erteilte Anspruch 1 ist nicht auf Formstücke mit verbesserten mechanischen Eigenschaften beschränkt, so dass der Widerruf nicht damit begründet werden kann, das Patent lehre nicht, wie derart verbesserte Formstücke erhalten werden könnten. Vielmehr fordert Anspruch 1 lediglich in allgemeiner Form, dass das Formstück sich für die Herstellung von Kunststoffrohrleitungen eignen soll, und es ist weder ersichtlich noch vorgetragen, dass der Fachmann nicht in der Lage wäre, solche im allgemeinen Sinne für die Herstellung von Rohrleitungen geeignete Materialien zur Verfügung zu stellen.

2.5 Auch die weiteren Argumente, die die Beschwerdegegnerin vorgebracht hat, überzeugen nicht. So sieht sie einen Widerspruch zwischen Merkmal 1.2 "dreischichtiger Aufbau" und der Tatsache, dass mindestens vier Schichten (Außen- und Innenschicht, Barriereschicht und zweite Barriereschicht) im Anspruch explizit genannt werden. Die Kammer stimmt der Beschwerdegegnerin zu, dass Anspruch 1 in dieser Hinsicht nicht völlig klar ist, aber Klarheitseinwände können gegen erteilte Ansprüche nicht erhoben werden (G 3/14). Vielmehr ist der Anspruch zunächst unter Berücksichtigung der Beschreibung in technisch sinnvoller Art und Weise auszulegen und dann ist zu prüfen, ob der Anspruchsgegenstand vom Fachmann ausgeführt werden kann, oder nicht. Die Kammer ist der Ansicht, dass Absätze 0013-0015 des Streitpatents entnommen werden kann, dass das Merkmal "dreischichtig" nicht abschließend, sondern offen zu verstehen ist, d.h. im Sinne von "drei Schichten aufweisend". Somit liegt kein Widerspruch vor, sondern der Anspruch legt fest, dass das Formstück neben dem im Oberbegriff genannten "dreischichtigen" Aufbau aus Innenschicht, Barriereschicht und Außenschicht noch eine zusätzliche Barriereschicht und somit insgesamt vier oder mehr Schichten aufweist. Es ist nicht gezeigt worden, dass dem Fachmann die Herstellung eines Formstücks mit einer solchen Schichtenfolge nicht oder nur mit unzumutbarem Aufwand möglich gewesen wäre.

2.6 Auch die die Barriereschichten betreffenden Einwände überzeugen nicht. Insbesondere greift der Einwand der Beschwerdegegnerin nicht durch, der Fachmann wisse nicht, aus welchen Materialien die Barriereschichten bestehen sollten, denn das Streitpatent lehrt in Absatz 0011, wie die Barriereschichten aufgebaut sein können. Zwar bezieht sich Absatz 0011 auf die "erste" Barriereschicht, aber der Fachmann erkennt ohne Weiteres, dass die "zweite" Barriereschicht analog aufgebaut sein kann, denn die zweite Barriereschicht hat die gleiche Aufgabe wie die erste, nämlich die Verringerung der Migration der Additive aus der Innenschicht (Absatz 0011 und 0015). Insofern erkennt der Fachmann, dass sich die Materialien, die sich für die erste Schicht eignen, auch für die zweite Schicht eignen werden. Das Argument der Beschwerdegegnerin, die zweite Barriereschicht müsse dabei gegenüber der ersten Barriereschicht eine verbesserte Barrierewirkung aufweisen, ist spekulativ bzw. nicht zutreffend, denn die Barrierewirkung beider Barriereschichten ist im Anspruch nicht quantifiziert.

2.7 Die Beschwerdegegnerin hat weiterhin vorgebracht, dass beide Schichten unterschiedlich aufgebaut sein müssten, weil sonst nur eine Schicht vorläge. Auch dieses Argument greift nicht durch, weil selbst wenn man zugunsten der Beschwerdegegnerin davon ausginge, dass Anspruch 1 implizit fordert, dass die beiden Barriereschichten unterschiedlich sind, führt dies nicht dazu, dass die Erfindung nicht ausgeführt werden kann, denn Absatz 0011 offenbart verschiedene Füllstoffe, die einzeln oder als Gemisch eingesetzt werden können. Der Fachmann könnte also zum Beispiel in einer Barriereschicht Glasmehl und in der anderen Glasfasern einsetzen. Alternativ könnten die beiden Barriereschichten unterschiedliche Mengen des gleichen Füllstoffs enthalten. Der Fachmann ist somit in der Lage, ohne unzumutbaren Aufwand zwei unterschiedliche Barriereschichten zur Verfügung zu stellen.

2.8 Schließlich überzeugt auch das Argument, das Streitpatent lehre nicht, welches Polymermaterial - außer PP-R-CT - für die Innenschicht zu verwenden sei, nicht, denn die Kammer geht davon aus, dass Anspruch 1 fordert, dass auch die Innenschicht aus PP-R-CT hergestellt ist, und selbst dann, wenn man zugunsten der Beschwerdegegnerin davon ausginge, dass Anspruch 1 auch Formstücke umfasst, bei denen auch andere Materialien eingesetzt werden können, hat die Beschwerdegegnerin jedenfalls nicht überzeugend begründet, warum der Fachmann dahingehend eine konkrete Lehre benötigt, denn mehrschichtige Kunststoffrohre als solche und die darin verwendeten Materialien sind dem Fachmann bekannt, siehe auch Absätze 0002-0005 des Streitpatents.

2.9 Die Beschwerdeführerin hat noch vorgebracht, Anspruch 1 umfasse auch Formstücke, bei der die Außenschicht und die zweite Barriereschicht zusammen fielen, d.h. die exakt drei Schichten aufwiesen. Die Kammer ist der Ansicht, dass die Frage, ob eine solche Ausführungsform tatsächlich vom Anspruch umfasst wird oder nicht, offen bleiben kann. Die Frage wäre unter Artikel 100(b) EPÜ nur dann zu klären, wenn gezeigt worden wäre, dass diese Ausführungsform der Erfindung nicht ausführbar wäre, aber ein solcher Nachweis wurde nicht erbracht.

2.10 Es folgt, dass nicht gezeigt worden ist, dass der Fachmann die im erteilten Anspruch 1 definierte Erfindung nicht ausführen kann. Da die angefochtene Entscheidung lediglich auf dem Einspruchsgrund unter Artikel 100(b) EPÜ beruht, ist sie aufzuheben.

3. Zurückverweisung

Die Kammer verweist die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurück (Artikel 111(1) EPÜ), denn die Frage der erfinderischen Tätigkeit wurde erstinstanzlich noch nicht erörtert. Die erstmalige Diskussion der erfinderischen Tätigkeit im Beschwerdeverfahren würde dem vorrangigen Ziel des Beschwerdeverfahrens zuwiderlaufen, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen (Artikel 12(2) VOBK 2020). Somit liegen besondere Gründe vor, die die Zurückverweisung der Sache zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz geboten erscheinen lassen (Artikel 11 VOBK 2020).

4. Zulassung D16

Den Antrag, D16 nicht ins Verfahren zuzulassen, lässt die Kammer offen. Dieses Dokument wurde von der Beschwerdegegnerin als weiterer Nachweis für das Veröffentlichungsdatum von D2 (Gard et al.: PP-RCT: A NEW MATERIAL CLASS FOR PLUMBING AND HEATING APPLICATIONS. 2006, Washington DC (Conference paper der Plastik-Pipe Conference vom 02. - 05.10.2006 in Washington DC, USA)) eingereicht. Da jedoch weder D2 noch D16 für die Frage der Ausführbarkeit der Erfindung relevant sind, ist eine Entscheidung über die Zulassung von D16 in diesem Stadium des Verfahrens nicht notwendig.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

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