European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2021:T095519.20210326 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 26 März 2021 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0955/19 | ||||||||
Anmeldenummer: | 11001568.2 | ||||||||
IPC-Klasse: | B60T 8/17 B60T 13/08 B60T 7/20 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Verfahren zum Bremsen und Bremssystem eines fremdkraftgebremsten Gerätes | ||||||||
Name des Anmelders: | Robert Bosch GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | WABCO Europe BVBA | ||||||||
Kammer: | 3.2.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Neuheit - Hauptantrag (nein) Berücksichtigung - (nein) - Hilfsanträge 4, 6 |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Aufrechterhaltung des europäischen Patents Nr. 2384941 in geändertem Umfang, zur Post gegeben am 1. Februar 2019.
II. In ihrer Entscheidung ist die Einspruchsabteilung u.a. zu der Auffassung gelangt, dass das Verfahren des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 neu ist und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
Gegen diese Entscheidung hat die Einsprechende (Beschwerdeführerin) Beschwerde eingelegt.
III. Die angefochtene Entscheidung nimmt unter anderem Bezug auf die Entgegenhaltung
D4: WO 2011/054424 A1,
die auch der vorliegenden Entscheidung zugrunde liegt.
IV. Am 26. März 2021 fand eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts statt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag), hilfsweise die Zurückverweisung der Angelegenheit zur weiteren Entscheidung auf der Grundlage der Hilfsanträge 4 und 6 an die Einspruchsabteilung oder die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage des Hilfsantrags 4 oder des Hilfsantrags 6, die Hilfsanträge wie eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung.
V. Anspruch 1 in der von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Fassung (Hauptantrag) lautet wie folgt (Gliederung a) bis c) gemäß Merkmalsanalyse der Einsprechenden):
Verfahren zum Bremsen eines fremdkraftgebremsten Gerätes (2) mit eigenem Fahrwerk, das an ein motorgetriebenes Nutzfahrzeug (1) angehängt ist,
gekennzeichnet durch die Schritte:
a) Ermitteln eines Schleppmomentes des Motors (4) des Nutzfahrzeugs (1)
al) in dem Fall, in dem das Gerät (2) auf das Nutzfahrzeug (1) schiebt;
b) Bestimmen eines Bremssignals in Abhängigkeit vom Schleppmoment des Motors (4) und
c) Betätigen einer Bremse (16) des Gerätes (2) in Abhängigkeit vom Bremssignal.
VI. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin - soweit es für die Entscheidung wesentlich war - lässt sich wie folgt zusammenfassen:
D4 nehme das Verfahren des Anspruchs 1 neuheitsschädlich vorweg. Die umstrittenen Merkmale a, a1 und b seien in der D4 offenbart.
Entgegen der Ansicht der Einspruchsabteilung sei der Wortlaut der Merkmale a und a1 nicht darauf beschränkt, dass das Schleppmoment erst dann ermittelt werde, wenn festgestellt ist, dass das Gerät auf das Nutzfahrzeug schiebt. Vielmehr sei der Wortlaut derart zu verstehen, dass das Schleppmoment mindestens in dem Fall ermittelt werde, in dem das Gerät auf das Nutzfahrzeug aufschiebt.
Ein solches Verfahren werde in D4 auf Seite 5, Absätze 2-4 und Seite 6, Absatz 3 bis Seite 7, Absatz 2 offenbart. Das kontinuierlich ermittelte Motordrehmoment führe bei Auftreten eines negativen Drehmoments - sprich Schleppmoments - zum Bestimmen eines Bremssignals, das proportional zum Signal des Motordrehmomentsensor sei. Damit sei auch Merkmal b offenbart.
Die Hilfsanträge seien nicht ins Verfahren zuzulassen. Die Beschwerdegegnerin habe hierzu lediglich auf das erstinstanzliche Verfahren verwiesen. Auch sei bis zur mündlichen Verhandlung nicht vorgetragen worden, wie durch die vorgenommenen Änderungen die vorgebrachten Einwände beseitigt werden sollen. Weiterhin gäben die Hilfsanträge 4 und 6 Anlass zu weiteren Einwänden z.B. bzgl. Artikel 123(2) und (3) EPÜ oder Artikel 56 EPÜ.
VII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) - soweit es für die Entscheidung wesentlich war - lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Das beanspruchte Verfahren sei neu gegenüber D4. D4 fehle es an der Offenbarung der Merkmale a, a1 und b.
In D4 werde ein Drehmoment kontinuierlich gemessen, wobei bei Erkennen eines Schleppmoments (einer "Verzögerung", D4, Seite 5, Absatz 4) ein fixer Bremsdruck (Seite 7, Absatz 3) angelegt wird. Die Merkmale a und a1 definierten jedoch, dass dem Ermittlung des Schleppmoment das Feststellen des Aufschiebens vorausgehe. Dies sei z.B. mit einem Sensor an der Deichsel realisierbar. Weiterhin definiere Merkmal b einen Bremsdruck in Abhängigkeit des Schleppmoments, was dem fixen Bremsdruck aus D4 entgegenstehe. In der mündlichen Verhandlung wurde erstmals vorgebracht, dass in D4 - anders als in Merkmal b gefordert - das Bremssignal in Abhängigkeit der Verzögerung, nicht in Abhängigkeit des Schleppmoments bestimmt werde.
Die Hilfsanträge 4 und 6 lägen nach Artikel 12(4) VOBK 2007 dem Beschwerdeverfahren ausdrücklich zugrunde. Die bereits im erstinstanzlichen Verfahren eingereichten Hilfsanträge 4 und 6 seien konvergent und basierten lediglich auf der Kombination erteilter Ansprüche. Aus der Sachlage ergebe sich implizit, dass die vorgenommenen Änderungen der Überwindung der Neuheitseinwände dienten.
Da die Hilfsanträge nicht Teil der erstinstanzlichen Entscheidung waren, sei gegebenenfalls eine Zurückverweisung angemessen.
Entscheidungsgründe
1. Neuheit (Artikel 54 (1) EPÜ)
1.1 Das Verfahren des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag (aufrecht erhaltene Fassung des Streitpatents auf Basis des Hilfsantrags 1) ist nicht neu gegenüber D4.
1.2 Dokument D4 offenbart ein Verfahren zum Bremsen eines fremdkraftgebremsten Gerätes mit eigenem Fahrwerk, das an ein motorgetriebenes Nutzfahrzeug angehängt ist und beschäftigt sich mit der gleichen Problematik wie das Streitpatent (vgl. D4, Seite 3, Absatz 1 und Seite 6, Absatz 3).
D4 offenbart weiter (Seite 5, Absätze 2-5), dass zumindest ein Sensor in Form eines Motordrehmomentsensors vorgesehen ist, durch den eine Verzögerung des Traktorgespanns detektiert werden kann. Das Motordrehmoment wird kontinuierlich ermittelt.
Dies wird von keiner Partei bestritten.
1.3 Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) argumentiert nun, dass die Merkmale a und a1 derart auszulegen seien, dass das Schleppmoment erst dann ermittelt wird, nachdem festgestellt wurde, dass das Gerät auf das Nutzfahrzeug schiebt. In D4 werde das Schleppmoment jedoch kontinuierlich und damit bereits vor dem Feststellen des Aufschiebens ermittelt.
Dieser Auffassung folgt die Kammer nicht.
1.4 Aus Sicht der Kammer ist der Wortlaut des Anspruchs 1 klar und unmissverständlich formuliert und bietet keine Rechtfertigung für die von der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) vorgetragene einschränkende Auslegung ("... dass das Schleppmoment erst dann ermittelt wird..."). Dem Wortlaut der Merkmale a und a1 folgend wird zwar eine Forderung definiert, wenn das Gerät auf das Nutzfahrzeug schiebt. Was jedoch geschieht, wenn das Gerät nicht auf das Nutzfahrzeug schiebt, wird nicht thematisiert. Somit schließen die Merkmale a und a1 nicht aus, dass bereits vor dem Aufschieben ein Schleppmoment bestimmt werden kann. In D4 erfolgt die Schleppmomentermittlung zwar unmittelbar bei Einsetzten der Motorbremse, sie wird jedoch fortgeführt und erfolgt immer auch in dem Fall, in dem das Gerät aufschiebt.
1.5 Das Merkmal b ist ebenfalls in D4 offenbart. D4 offenbart zumindest einen Sensor zur Detektierung der Verzögerung. Dieser Sensor kann ein Motordrehmomentsensor 18 sein (Seite 5, Absätze 2-4). Ein Motordrehmomentsensor erkennt bekanntlich eine Verzögerung in Form eines negativen Drehmoments, sprich eines Schleppmoments. Seite 6, Absatz 4 beschreibt nun: "Jede Verzögerung wird durch den Sensor 18 erfasst und in Form von Sensorsignalen an das elektronische Steuergerät 16 weitergegeben. Im Ansprechen auf die eingegangenen Sensorsignale wird das Proportional-Druckregel-Ventil 2 mit einem elektrischen Strom angesteuert, das sich dementsprechend kontinuierlich um einen entsprechenden Betrag öffnet und Leistungsdruck vom Druckerzeuger 6 in die Bremsdruckleitung 12 freigibt." Daraus geht eindeutig hervor, dass das Bremssignal bestimmt wird in Abhängigkeit des Drehmomentsensorsignals, das im Falle einer Verzögerung ein Schleppmoment ist.
Insofern teilt die Kammer nicht die Sicht der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin), die erstmals in der mündlichen Verhandlung vorträgt, dass in D4 das Drehmoment nur dazu herangezogen werde, um eine Verzögerung zu ermitteln. Das Bremssignal werde dann in Abhängigkeit der Verzögerung ermittelt und nicht wie in Merkmal b gefordert, in Abhängigkeit des Schleppmoments.
Da der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags auch unter Berücksichtigung der erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Argumente der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) bezüglich des Merkmals b nicht neu ist, ist der diesbezügliche Zulassungseinwand der Beschwerdeführerin (Einsprechende) hinfällig.
2. Hilfsanträge 4 und 6
2.1 In Anlehnung an T 1822/17 werden die Hilfsanträge 4 und 6, vorgelegt mit der Beschwerdebegründung, im Beschwerdeverfahren gemäß Artikel 12(2) und (4) VOBK 2007 nicht berücksichtigt. Dieser Artikel ist gemäß Artikel 25(2) VOBK 2020 weiter auf den vorliegenden Fall anwendbar.
2.2 Gemäß Artikel 12(4) VOBK 2007 wird das gesamte Vorbringen der Beteiligten nach Absatz 1 von der Kammer berücksichtigt, wenn und insoweit es sich auf die Beschwerdesache bezieht und die Erfordernisse nach Absatz 2 erfüllt. Gemäß Artikel 12(2) VOBK 2007 müssen die Beschwerdebegründung und die Erwiderung den vollständigen Sachvortrag eines Beteiligten enthalten. Insbesondere ist anzugeben, aus welchen Gründen die angefochtene Entscheidung zu bestätigen, abzuändern oder aufzuheben ist und dabei sollen ausdrücklich und spezifisch alle Tatsachen, Argumente und Beweismittel angeführt werden.
2.3 Dieser Pflicht ist die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) nicht nachgekommen. Insbesondere nimmt die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) weder in der Beschwerdeerwiderung noch im Schreiben vom 15. September 2020 zu den Hilfsanträgen derart Stellung, dass für die Kammer und die andere Partei erkennbar wird, wie die in den Hilfsanträgen vorgenommenen Änderungen den vorgebrachten Mangel an Neuheit zu beheben in der Lage sein sollen.
In der Erwiderung vom 15. September 2020 wird bzgl. der Hilfsanträge nur vorgetragen, dass sie in unveränderter Fassung bereits im erstinstanzlichen Verfahren eingereicht wurden. In der mündlichen Verhandlung wurde ergänzt, dass es sich bei Anspruch 1 des Hilfsantrags 4 lediglich um die Kombination der erteilten Ansprüche 1 und 4, bei Anspruch 1 des Hilfsantrags 6 um die Kombination der erteilten Ansprüche 1, 2 und 4 handele.
2.4 Die Kammer ist der Auffassung, dass eine erstmalige Diskussion, inwieweit die Hilfsanträge die mit der Beschwerdebegründung der Einsprechenden vorgebrachten Einwände beheben können, in der mündlichen Verhandlung zu spät ist. Ein Vorbringen dazu in der mündlichen Verhandlung ist somit aus verfahrensökonomischen Gründen nicht zuzulassen. Dabei ist anzumerken, dass die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) im Beschwerdeverfahren ausreichend Möglichkeiten gehabt hat ihren Fall darzutun, dies jedoch unterlassen hat.
Zusätzlich handelt es sich bei den vorgenommenen Änderungen in den unabhängigen Ansprüchen der Hilfsanträge augenscheinlich nicht um eine wörtliche Aufnahme der erteilten Unteransprüche. Die Änderungen geben daher Anlass zu weiteren Einwänden, insbesondere bzgl. Art. 123(2) EPÜ, wie von der Beschwerdeführerin (Einsprechende) schriftlich vorgetragen. Diesbezüglich hat die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) ebenfalls vor der mündlichen Verhandlung keine Stellung genommen.
2.5 Angesichts der Nicht-Berücksichtigung der Hilfsanträge 4 und 6 ist eine Zurückverweisung zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung ausgeschlossen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.