European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2022:T040619.20220204 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 04 Februar 2022 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0406/19 | ||||||||
Anmeldenummer: | 13756291.4 | ||||||||
IPC-Klasse: | C08L 31/04 C08L 9/00 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | FLAMMGESCHÜTZTE POLYMERE ZUSAMMENSETZUNG | ||||||||
Name des Anmelders: | BATEGU Gummitechnologie GmbH & Co KG | ||||||||
Name des Einsprechenden: | GMT Gummi-Metall-Technik GmbH | ||||||||
Kammer: | 3.3.03 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Spät eingereichte Beweismittel (teilweise zugelassen) Neuheit (Ja) Erfinderische Tätigkeit (Ja) Nach der Ladung eingereichte Einwände der mangelnden erfinderischen Tätigkeit (nicht zugelassen) |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der der Einspruch gegen das europäische Patent 2 880 093 zurückgewiesen wurde.
II. Anspruch 1 des Streitpatents lautete wie folgt:
"1. Flammgeschützte, insbesondere zur Beschichtung von Werkstücken geeignete, polymere Zusammensetzung enthaltend
a) ein Vinylacetat-haltiges thermoplastisches Polymer sowie
b) ein Doppelbindungen-enthaltendes, ungesättigtes Elastomer,
als polymere Komponenten, wobei die polymeren Komponenten als homogene Polymermischung vorliegen, und eine ausschließlich durch ein Schwefel- bzw. schwefelhaltiges Vernetzungssystem vulkanisierte Mischungsmatrix ausgebildet ist, wobei sich das Schwefelvernetzungssystem über die gesamte Matrix erstreckt und diese vollständig durchsetzt, und
c) zumindest ein Flammschutzmittel oder eine Kombination von Flammschutzmitteln."
III. Im Einspruchsverfahren wurden inter alia folgende Dokumente herangezogen:
E1: EP 0 357 322 A2
E3: DE 41 29 741 A1
E4: "Handbuch für die Gummi-Industrie", Bayer AG, 1991, Seiten 132-153
E5: "Kautschuk-Technologie", Dr. W. Hofmann, 1980, Seiten 158-159.
IV. Die Gründe der angefochtenen Entscheidung, die für das Beschwerdeverfahren relevant sind, können folgendermaßen zusammengefasst werden:
a) Der Einspruchsschrift sei zu entnehmen, dass sich der Einspruch auf den gesamten Umfang des Patents richte. Der Antrag der Patentinhaberin, den Einspruch auf Anspruch 1 des Streitpatents zu begrenzen, sei daher zurückzuweisen.
b) Es sei nicht glaubhaft gemacht worden, dass das Lehrbuch E4 vor dem Prioritätszeitpunkt nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei. E4 gehöre somit zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ.
c) Die Neuheit gegenüber E3, E4 und E5 sei gegeben.
d) Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit gelte die auf Seite 149 von E4 beschriebene EVA/Kautschuk-Mischung als nächstliegender Stand der Technik. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents unterscheide sich von dieser Mischung dadurch, dass die ungesättigte Komponente mittels Schwefel vernetzt sei und zwar so, dass sich das Vernetzungssystem über die gesamte Matrix erstrecke. Dagegen mache E4 in dieser Passage keine Angabe wie die Vernetzung erfolgen solle.
In Abwesenheit unvorhersehbarer Effekte bestehe die gegenüber E4 zu lösende Aufgabe in der Bereitstellung einer alternativen Zusammensetzung zur Herstellung flammgeschützter Materialien.
Ausgehend von E4 sei diese Alternative jedoch nicht naheliegend, im Lichte von E4, dem allgemeinen Fachwissen oder E1. E4 befasse sich mehrheitlich mit einer Vernetzung mittels Peroxiden. Ein Hinweis, die ungesättigte Komponente mittels Schwefel zu vernetzen, finde sich lediglich in der Passage auf Seiten 137-138, die sich allerdings mit der Ozon- und Witterungsbeständigkeit befasse, aber brandgeschützte Materialien nicht betreffe.
Darüber hinaus erhalte der Fachmann keinen Hinweis, die Vernetzung so durchzuführen, dass sich das Vernetzungssystem über die gesamte Matrix erstrecke, sodass das Heranziehen dieser Passage, um diese Aufgabe zu lösen, als Ergebnis rückschauender Betrachtungsweise anzusehen sei. Somit sei der beanspruchte Gegenstand nicht als naheliegend zu betrachten.
Abgesehen von der Frage, ob eine Zusammensetzung, die neben unvernetztem EVA und einem Flammschutzmittel ein schwefelvernetztes Polymer enthalte, als erfinderisch anzusehen sei, würden die vorliegenden Beweismittel nicht zeigen, dass eine selektive Vernetzung einer ungesättigten Komponente über die gesamte Matrix in einer EVA-enthaltenden Mischung zum Prioritätszeitpunkt allgemein bekannt gewesen sei.
e) Der Einspruch sei daher zurückzuweisen.
V. Gegen diese Entscheidung erhob die Einsprechende (Beschwerdeführerin) Beschwerde.
VI. Mit ihrer Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin die folgenden Dokumente ein:
E10: US 4,869,848
E11: Stellungsnahme von Herrn Dr. Geisler vom 29 März 2019
E12: Sulphur and peroxide vulcanisation of rubber compounds - overview, J. Kruzelak et al., Chemicals Papers 70(12) 1553-1555 (2016)
E13: Ausdruck von https://www.sciencedirect.com/topics/chemistry/vulcanization; Seiten 1 bis 4 von 15.
VII. Die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) reichte mit ihrer Beschwerdeerwiderung die Hilfsanträge 1 bis 3 ein, deren Wortlaut für die vorliegende Entscheidung nicht relevant ist.
VIII. Die Ladung zur mündlichen Verhandlung erfolgte mit Schreiben von 23. Juni 2021.
IX. Mit Schreiben vom 20. Dezember 2021 machte die Beschwerdeführerin weitere Angaben.
X. Die mündliche Verhandlung fand am 4. Februar 2022 statt.
XI. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
XII. Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag), hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des europäischen Patents auf der Grundlage der Hilfsanträge 1 bis 3, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung.
XIII. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin sind den Entscheidungsgründen zu entnehmen. Die Beschwerdeführerin trug folgende Einwände vor:
a) Die Dokumente E10 bis E13 und die mit Schreiben vom 20. Dezember 2021 vorgebrachten weiteren Einwände einer mangelnder erfinderischer Tätigkeit seien zuzulassen.
b) Der Gegenstand von Anspruch 1 sei von E4 neuheitsschädlich getroffen.
c) Eine erfinderische Tätigkeit ausgehend der Lehre von E4 sei, Bezug nehmend auf E1, E3, E4, E5 und E11 bis E13, nicht gegeben.
XIV. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdegegnerin sind den Entscheidungsgründen zu entnehmen. Zusammenfassend brachte die Beschwerdegegnerin vor:
a) Die Dokumente E10 bis E13 und die mit Schreiben vom 20. Dezember 2021 vorgebrachten weiteren Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit seien nicht zuzulassen.
b) Die Neuheit gegenüber E4, sowie eine erfinderische Tätigkeit gegenüber diesem Stand der Technik sei anzuerkennen.
Entscheidungsgründe
Zulässigkeit der Dokumente E10 bis E13
1. Die Beschwerdeführerin hat erstmals mit der Beschwerdebegründung die Dokumente E10 bis E13 vorgelegt. Nach Artikel 25 (2) VOBK 2020 ist Artikel 12 Absätze 4 bis 6 dieser Fassung der VOBK auf Beschwerdebegründungen, die, wie im vorliegenden Fall, vor dem 1. Januar 2020 eingereicht wurden, nicht anzuwenden. Stattdessen ist weiterhin Artikel 12 (4) VOBK 2007 anzuwenden (Artikel 25 (2) VOBK 2020). Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zu Artikel 12 (4) VOBK 2007 steht es im Ermessen einer Beschwerdekammer, neues Vorbringen vom Beschwerdeverfahren auszuschließen, wenn dieses schon im vorhergehenden Einspruchsverfahren hätte vorgebracht werden können und sollen.
Dokument E10
2. Weshalb die Beschwerdeführerin das neue Dokument E10 erst im Beschwerdeverfahren eingereicht hat, wurde nicht dargelegt. Es wurde im Wesentlich vorgetragen, dass E10 dem ersten Anschein nach für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit / Neuheit hoch relevant und daher im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen sei.
Unabhängig von der Frage der Relevanz von E10, stellt das auf diesem Dokument basierende Vorbringen eine zusätzliche und unabhängige Angriffslinie dar, die durch die Entwicklung des Verfahrens vor der erstens Instanz nicht gerechtfertigt ist. Eine Begründung warum ein solches neues Vorbringen gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 grundsätzlich nicht zu berücksichtigen ist, ist exemplarisch in den Punkten 2.2 und 2.3 der Gründe der Entscheidung T 2270/17 dargelegt, der sich die Kammer sinngemäß anschließt.
Unter diesen Umständen übt die Kammer ihr Ermessen gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 dahingehend aus, das Dokument E10 nicht in das Verfahren zuzulassen.
Dokumente E11, E12 und E13
3. E11 ist eine Stellungnahme von Dr. Harald Geisler. Diese stellt entweder eine Wiederholung des Vorbringens der Einsprechenden vor der Einspruchsabteilung im Schreiben von 11. September 2018 dar oder betrifft das allgemeine Fachwissen hinsichtlich der Schwefelvulkanisation. Das Vorlegen von E12 ist in Reaktion auf die Feststellung der Einspruchsabteilung im sechsten Absatz auf Seite 11 der angefochtenen Entscheidung, wonach für den Fachmann aus der Passage auf den Seiten 137-138 von E4 nicht zu entnehmen sei, dass sich das Schwefelvernetzungssystem über die gesamte Polymermatrix erstrecke. E13 soll das allgemeine Fachwissen belegen, wonach die Schwefelvernetzung bei Dien-Kautschuk am meisten verbreitet sei. Die Einreichung von E13 stellt somit eine Antwort auf die Feststellung der Einspruchsabteilung im zweiten Absatz der Seite 12 der angefochten Entscheidung dar, wonach die Einsprechende den Nachweis schuldig geblieben sei, dass die Schwefelvernetzung den Standard in der Gummiindustrie darstelle, insbesondere für EVA-enthaltende Gummi-Zusammensetzungen.
4. Daher stellt die Einreichung der Dokumente E11 bis E13 eine angemessene Reaktion auf die angefochtene Entscheidung dar. Des Weiteren bleibt der darauf basierende Vortrag im Rahmen dessen, was vor der ersten Instanz vorgebracht wurde. Unter diesen Umständen sieht die Kammer keinen Grund, ihr gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 zukommendes Ermessen dahingehend auszuüben, E11 bis E13 nicht in das Verfahren zuzulassen.
Verletzung des Rechtlichen Gehörs vor der ersten Instanz
5. Die Beschwerdeführerin machte mit ihrer Beschwerdebegründung geltend, dass ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden sei, da die Einspruchsabteilung die angebotene Sachverständigeneinvernahme von Dr. Geisler hinsichtlich der Frage der Neuheit gegenüber E4 abgelehnt habe. Zu bemängeln sei ebenfalls gemäß den Ausführungen der Beschwerdeführerin, dass die Beantragung der Sachverständigeneinvernahme nicht einmal in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung erwähnt sei. Die Beschwerdeführerin habe einen solchen Antrag im Schreiben vom 11. September 2018 und 14. September 2018 gestellt.
5.1 Bezug nehmend auf das Schreiben der Einsprechenden vom 14. September 2018 und die Richtlinien für die Prüfung (D-VI.1) teilte die Einspruchsabteilung der Einsprechenden mit Schreiben vom 12. November 2018 mit (vorab per Telefax am 7. November versendet), dass es aufgrund der Sachkundigkeit der Mitglieder der Einspruchsabteilung der Beweisaufnahme durch ein Sachverständigengutachten in mündlicher und/oder schriftlicher Form nicht bedürfe. Die Einsprechende wurde mit einem weiteren Verweis auf die Richtlinien (E-IV, 1.6.1 und E-III.8.5) darauf hingewiesen, dass mündliche Ausführungen einer Begleitpersonen in der mündlichen Verhandlung unter den in der Entscheidung G 4/95 festgelegten Kriterien von der Einspruchsabteilung nach eigenem Ermessen der Einspruchsabteilung zugelassen werden können.
5.2 Mit Schreiben vom 8. November 2018 beantragte die Einsprechende, dass Dr. Geisler als Begleitperson gemäß den Voraussetzungen der G 4/95 und unter Verantwortung und Kontrolle der Vertreterin, bei der mündlichen Verhandlung technische Ausführungen machen dürfe, sollte es im Verlauf der Verhandlung erforderlich sein. Der Niederschrift über die mündliche Verhandlung ist nicht zu entnehmen, dass die Einsprechende im Lauf der mündlichen Verhandlung von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen gehindert wurde, oder, dass sie erneut einen Antrag auf Sachverständigeneinvernahme von Dr. Geisler gestellt hätte. Es oblag daher der Einsprechenden Dr. Geisler Ausführungen unter ihrer Verantwortung und Kontrolle machen zu lassen, bzw. die Einspruchsabteilung auf die Notwendigkeit hinzuweisen, eine Vernehmung von Dr. Harald Geisler anzuordnen. Es wird in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung der großen Beschwerdekammer R 6/12 (Punkt 1.3.3. der Entscheidungsgründe) hingewiesen.
5.3 Die Beschwerdeführerin hat auch nicht dargelegt, warum eine Stellungnahme von Dr. Geisler als Sachverständiger oder als Begeleitperson unter den in der Entscheidung G 4/95 festgelegten Kriterien zu unterschiedlichen Bewertungen der Entgegenhaltung E4 durch die Einspruchsabteilung hätte führen können. Dies ist der Kammer nicht ersichtlich.
5.4 Aus den obigen Gründen kommt die Kammer zu der Schlussfolgerung, dass die unterbliebene Einvernahme von Dr. Geisler durch die Einspruchsabteilung keine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellt. Am Rande ist zudem zu bemerken, dass die Beschwerdeführerin mit der Geltendmachung eines Verfahrensfehlers keine konkrete Rechtsfolge verbunden hat, sondern offensichtlich eine inhaltliche Beurteilung der Beschwerdesache durch die Kammer verfolgte. Eine ex officio Zurückverweisung der Angelegenheit erschien der Kammer schon deshalb nicht für angebracht.
5.5 Bezüglich der Frage der Einvernahme von Dr. Geisler durch die Kammer, wird auf die Ergebnisse der Erörterung derselben im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer verwiesen (vgl. Seite 3 f. des Protokolls der mündlichen Verhandlung).
Hauptantrag
Neuheit gegenüber E4
6. E4 mit dem Titel "Handbuch für die Gummi-Industrie" stellt ein Lehrbuch dar, dessen Herausgeber die Bayer AG war. Entgegen der Argumentation der Beschwerdegegnerin, kann aus dem Umstand des Fehlens einer ISBN und eines Copyright-Vermerks nicht zwingend darauf geschlossen werden, dass E4 der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden sei. Das Impressum dieses Lehrbuchs ist auf der zweiten verfügbaren Seite des Dokuments E4 zu finden. Das Vorhandensein eines Impressums und die Angabe einer Bestellnummer machen deutlich, dass sich die E4 an die Öffentlichkeit richtet. Dies ergibt sich ebenfalls aus dem Inhalt von E4, der sich unter anderem an potentielle Anwender der Produkte Levapren der Firma Bayer richtet (siehe insbesondere Sektion "Anwendungen" auf Seiten 151 und 152) und als einen Leitfaden für deren Verwendung zu verstehen ist. Aus der Angabe auf Seite 152 vor dem Kapitel 5.6, wonach "Information über diesen Sektor sowie entsprechende Produkte .... auf Anfrage zu Verfügung" stehen, geht hervor, dass E4 unter anderem an Kunden der Bayer AG gerichtet war. Nach Ansicht der Kammer besteht daher kein Zweifel, dass E4 zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ gehört, was zudem während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer von der Beschwerdegegnerin nicht mehr bestritten wurde.
7. Das Argument der Beschwerdeführerin (überbrückender Absatz zwischen den Seiten 3 und 4 der Beschwerdebegründung), dass das Merkmal, dass sich die Vernetzung über die gesamte Matrix der homogenen Polymermischung erstrecke, wie es eine statische Vulkanisation zur Folge habe, das einzige und entscheidende Merkmal sei, das zur Bewertung der neuheitsschädlichen Vorveröffentlichung noch gefehlt habe und damit entscheidungsrelevant gewesen sei, ist nicht korrekt. In der angefochtenen Entscheidung wurde die Neuheit ebenfalls anerkannt, weil E4 eine Vernetzung, die ausschließlich durch eine schwefelinduzierte Vulkanisation herbeigeführt werde, in Kombination mit der Verwendung von Flammschutzmitteln nicht offenbare (Seite 7, vorletzter Absatz der Entscheidung).
7.1 Die Ausführungen der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Neuheit gegenüber E4 betreffen, ebenso wie vor der Einspruchsabteilung, lediglich die Frage, ob die einzelnen Merkmale von Anspruch 1 des Streitpatents in dieser Entgegenhaltung verwirklicht werden. Der Vortrag der Beschwerdeführerin enthält aber keine Ausführungen zu der Frage, weshalb die von ihr genannten Merkmale, die angeblich der E4 zu entnehmen seien, kombinatorisch zu lesen seien.
Gemäß gefestigter Rechtsprechung der Beschwerdekammern (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 9. Auflage, 2019, I.C.4.2) dürfen bei der Beurteilung der Neuheit verschiedene Passagen eines Dokuments nicht kombiniert werden, wenn das Dokument nicht ausdrücklich eine entsprechende Lehre enthält. Mit anderen Worten, kann die Neuheitsschädlichkeit einer Entgegenhaltung nur auf einer unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung beruhen.
7.2 E4 umfasst die Sektionen 5.1 bis 5.6 eines Handbuchs für die Gummiindustrie, die verschiedene Ethylen-Vinylacetat-Copolymerisate der Firma Bayer unter der Handelsbezeichnung Levapren® und deren Verwendungen beschreiben. Es ist nicht strittig, dass die Verwendung von Schwefel in Zusammenhang mit einem Levapren® Produkt in E4 lediglich in dem Abschnitt "Verschnitte mit anderen Polymeren", der die Seiten 137 und 138 überbrückt, erwähnt wird. Diese Passage enthält in diesem Kontext aber weder explizit noch implizit einen Hinweis über die Mitverwendung von Flammschutzmitteln. Ein Hinweis, dass diese Passage im Lichte anderer Passagen der E4 zu lesen sei, besteht offenbar nicht.
7.3 Die Kammer kommt aus den oben angeführten Gründen zur Schlussfolgerung, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents gegenüber der E4 neu ist (Artikel 54 EPÜ), unabhängig von der Beantwortung der Frage, ob die von der Beschwerdeführerin herangezogenen Passagen eine statische oder dynamische Vulkanisation betreffen.
Erfinderische Tätigkeit
8. Der mit der Beschwerdebegründung erhobene Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit hinsichtlich des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1 geht von der Offenbarung einer flammgeschützten EPDM-Levapren® Mischung aus (Seite 149, Sektion "Brandverhalten" von E4).
Nächstliegender Stand der Technik
9. Die Auswahl von E4 als Ausgangspunkt für die Analyse der erfinderischen Tätigkeit wurde in der Beschwerdeerwiderung in Frage gestellt, da E4 ein Firmen-Handbuch sei und sich zudem auch noch größtenteils mit einem speziellen Bayer-Polymer Levapren® allein, und nur am Rande mit Verschnitten aus mehreren Polymeren, befasse.
Die von der Beschwerdeführerin herangezogene Passage auf der Seite 149 von E4 betrifft die flammwidrige Einstellung von Levapren® mit halogenfreien flammhemmenden Füllstoffen. Levapren® ist die Bezeichnung für Bayer-Spezialkautschuke, die Ethylen-Vinylacetat-Copolymerisate mit unterschiedlichen Gehalten an Vinylacetaten sind (E4, erste Hälfte der Seite 132). Diese Ethylen-Vinylacetat-Kautschuke werden auch als EVM bezeichnet (E4, Seite 132, Titel der Sektion 5).
9.1 Ein EVM mit einem Gehalt von 40 bis 80% Vinylacetat verhält sich nach Vernetzung wie ein Kautschuk (E4, Seite 133, erster Absatz), wobei zur Vulkanisation Peroxide dienen (E4, Seite 135, letzter Satz). Diese Art der Vernetzung für Levapren® wird in E4 durchgehend hervorgehoben, unter anderem in der Sektion "Vulkanisationschemikalien" auf Seite 138 und in den weiteren Sektionen "Mischungsherstellung" (Seite 141), "Lagerfähigkeit der Mischungen" (Seite 142) und "Vulkanisation" (Seite 143). Eine andere Art der Vernetzung für Levapren® ist der E4 nicht zu entnehmen.
Als einzige Ausnahme für die Verwendung eines Levapren® Polymers in einem unvernetzten Zustand ist in E4 die Passage überbrückend die Seiten 137 und 138 zu nennen. Es handelt sich dabei um eine spezielle Anwendung von Levapren® als Weichmacher, nämlich als niederviskoses Additiv für mit Schwefel vernetzte Mischungen auf Basis von Styrol-Butadien- oder Naturkautschuk, deren Wetter- und Ozonbeständigkeit es zu verbessern gilt. Die Beteiligten stimmen darin überein, dass durch die Vernetzung einer solchen Mischung mit Schwefel die Levapren® Komponente der Mischung nicht vernetzt wird, da sie keine C=C Doppelbindungen enthält.
9.2 Gemäß der als nächstliegender Stand der Technik zitierten Passage von D4 (Seite 149, letzter vollständiger Absatz) ging der erwähnte Verschnitt aus Levapren® und EPDM auf die Notwendigkeit zurück, flammgeschützte EPDM-Kautschuke für die Kabelindustrie herzustellen. Da die letzteren eine große Menge an Flammschutzmittel benötigten, was mit einer zu hohen Viskosität verbunden war, erwiesen sich diese flammgeschützten EPDM-Kautschuke in der Praxis als nicht verarbeitbar. Im folgenden Absatz wird beschrieben, dass ein Teil des EPDM-Kautschuks aus diesem Grund durch Levapren® ersetzt wurde, wobei selbst bei einem 50%igen Anteil von EVM eine zu hohe Mischungsviskosität erhalten wurde. Weiterhin wird im gleichen Absatz erklärt, dass sich Levapren® selbst dann als ideales Basispolymer zur Lösung des Problems erwies, da es aufgrund der niedrigen Polymerviskosität und des spezifischen Molekülaufbaus sehr hoch mit flammhemmenden Füllstoffen wie Aluminiumhydroxid gefüllt werden kann und dabei dennoch eine akzeptable Mischungsviskosität bietet. Der Inhalt der Seite 150 (Abbildung A5-9 und voranstehender Absatz; letzter Absatz) und der Seite 151 (Sektion "Anwendungen") verdeutlicht, dass das mit flammenhemmendem Füllstoff ausgerüstete LEVAPREN® ebenfalls der Isolierung von Kabeln (Ummantelung) dienen soll.
9.3 In Anbetracht des einzigen in E4 genannten Vernetzungsmittels für Levapren®, nämlich Peroxiden, und der Tatsache, dass die auf der Seite 149 erwähnte EPDM LEVAPREN® Mischung für die Ummantelung von Kabeln vernetzt werden muss, sowie im Hinblick auf das Fehlen der Angabe, dass LEVAPREN® in diesem Fall unvernetzt als Weichmacher gilt (siehe vorherige Punkte 9.1 und 9.2), besteht, entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin, kein Zweifel, dass die in E4 erwähnte flammgeschützte EPDM LEVAPREN® Mischung für die Ummantelung von Kabeln ebenfalls mit Perodixen vernetzt wird.
10. Ein ähnlicher, Flammschutzmittel enthaltender Verschnitt auf der Basis von Ethylenvinylacetat und EPDM, der mit Peroxiden vernetzt wird und für die Ummantelung von Kabeln verwendet wird, wird in Absatz [0005] des Streitpatents als Produkt beschrieben, dessen elastische und dynamische Eigenschaften nachteilig sind, vor allem dann, wenn es große Mengen an Flammschutzmittel enthält (Absatz [0006] des Streitpatents).
Gemäß Absatz [0008] des Streitpatents war es somit die Aufgabe der Erfindung, diese Nachteile zu überwinden und ein flammgeschütztes polymeres Material zu schaffen, das außergewöhnliche brandschutztechnische Eigenschaften in Kombination mit guten mechanischen Kennwerten aufweist, das also trotz eines hohen Füllungsgrades mit Flammschutzmitteln immer noch gute mechanische, elastische und dynamische Eigenschaften besitzt.
11. Nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Wahl des Standes der Technik, der als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz dient, zunächst der Stand der Technik, der in der Streitpatentschrift als nächstliegend und als möglicher Ausgangspunkt zur Bestimmung der der Erfindung zugrunde liegenden Aufgabe angegeben wird, in Betracht zu ziehen. Wie oben dargestellt, entspricht der in E4 erwähnte flammgeschützte EPDM LEVAPREN® Verschnitt dem im Streitpatent angegebenen Ausgangspunkt für die beanspruchte Erfindung. Entgegen der Meinung der Beschwerdegegnerin, die die Auswahl dieses flammgeschützten EPDM LEVAPREN® Verschnitts aus E4 als Ausgangspunkt für die Analyse der erfinderischen Tätigkeit in Frage gestellt hatte, bildet daher dieser Verschnitt einen realistischen Ausgangpunkt für den Fachmann, der sich die im Absatz [0008] des Streitpatents definierte Aufgabe stellte.
Da ein noch näher liegender Stand der Technik mit größerer technischer Relevanz nicht vorliegt, stellt der auf Seite 149 von E4 beschriebene Verschnitt aus EPDM und Levapren®, der mit einem flammenhemmenden Füllstoff ausgerüstet ist, den nächstliegenden Stand der Technik dar und bildet den Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach dem "Aufgabe-Lösungs-Ansatz".
Unterscheidungsmerkmale
12. Im Einklang mit der angefochtenen Entscheidung sind sich die Beteiligten einig, dass sich die beanspruchte Zusammensetzung vom nächstliegenden Stand der Technik dadurch unterscheidet, dass beide polymeren Komponenten als homogene Polymermischung vorliegen, wobei eine ausschließlich durch ein Schwefel- bzw. schwefelhaltiges Vernetzungssystem vulkanisierte Mischungsmatrix ausgebildet ist und sich das Schwefelvernetzungssystem über die gesamte Matrix erstreckt. Daraus resultiert, dass sich das vinylacetathaltige Polymer gemäß Anspruch 1 des Streitpatents vom nächstliegenden Stand der Technik dadurch unterscheidet, dass es in nicht vernetzter Form vorliegt.
Aufgabe und Lösung
13. Die von der Beschwerdeführerin in ihrem Schreiben von 20. Dezember 2021 formulierte Aufgabe, die darin bestand, ein Vulkanisationsmittel zu wählen, bei dem die Eigenschaft des EVA als Weichmacher auch im Zuge der Vulkanisation erhalten bleibt, wurde während der mündlichen Verhandlung nicht weiter verfolgt. Auf jeden Fall, da eine solche Formulierung nach Meinung der Kammer die beanspruchte Lösung teilweise vorwegnimmt, führt sie zu einer unzulässigen rückschauenden Betrachtungsweise der erfinderischen Tätigkeit.
Der im Absatz [0008] des Streitpatents formulierten Aufgabe im Wesentlichen entsprechend (siehe Punkt 10 oben), waren sich die Beteiligten anschließend darüber einig, dass die durch den Gegenstand von Anspruch 1 erfolgreich gelöste Aufgabe darin besteht ein polymeres Material zu schaffen, das die hohen brandschutztechnischen Eigenschaften des nächstliegenden Standes der Technik behält, aber gute mechanisch dynamische Eigenschaften aufweist. Unter diesen Umständen betrachtet die Kammer diese Aufgabe durch den Gegenstand von Anspruch 1 als erfolgreich gelöst.
Zur Lösung der oben genannten Aufgabe schlägt das Streitpatent die polymere Zusammensetzung gemäß Anspruch 1 vor, welche durch die im obigen Punkt 12 dargestellten Merkmale gekennzeichnet ist.
Naheliegen
14. Es bleibt zu beantworten, ob der Stand der Technik dem Fachmann Anregungen bot, die genannte objektive Aufgabe durch die Bereitstellung der anspruchsgemäßen Polymerzusammensetzung zu lösen.
14.1 Hierzu brachte die Beschwerdeführerin vor, dass E4 mit der Lehre aus der Sektion "Verschnitte mit anderen Polymeren" (Seiten 137 und 138), die ebenfalls einen Verschnitt von Levapren® mit dem ungesättigten Polymer Styrol-Butadien- oder Naturkautschuk beschreibt, der aber mit Schwefel vernetzt wird, die Verwendung von Schwefel ebenfalls als Vernetzungsmittel für den auf Seite 149 von E4 beschriebenen Verschnitt aus EPDM und Levapren® nahelegt.
E4 stellt, wie von der Beschwerdegegnerin bemerkt wurde, eine praktische Anleitung der Firma Bayer dar, die dem Fachmann konkrete Hinweise gibt, wie er mit verschiedenen Bayer-Produkten umgehen soll und was er damit tun kann. Die Vernetzung eines EPDM Levapren® Verschnitts mit Schwefel wird aber in E4 weder allgemein, noch in einem bestimmten Kontext gelehrt.
14.2 Die Beschwerdeführerin trug des Weiteren vor, dass es dem Fachmann bekannt sei, dass Schwefel ein mögliches Vernetzungsmittel für Dienkautschuken darstelle. Hierzu wurden E1 (Seite 5, Zeile 21), E3 (Seite 3, Zeile 50), E5 (Seite 159), E12, E13 und das Gutachten E11 herangezogen. Es wurde auf Basis dieser Dokumente betont, dass der Fachmann eine Vulkanisation durch Schwefel standardmäßig vorsehe, auch weil eine solche Vernetzung ein billiges und einfaches Verfahren darstelle.
14.3 Die Argumente der Beschwerdegegnerin, die in Punkten 14.1 und 14.2 dargestellt werden, beruhen auf bloßen strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen den herangezogenen Lehren aus dem zitierten Stand der Technik. Die Tatsache, dass der Fachmann, losgelöst vom Kontext der jeweiligen berücksichtigten Lehren aus dem Stand der Technik und der ihm gestellten Aufgabe, die Fähigkeit von Schwefel Dienkautschuke zu vernetzen kannte, sodass er theoretisch die Möglichkeit gehabt hätte, dieses Mittel für einen EPDM Levapren® Verschnitt einzusetzen, besagt lediglich, dass die theoretische Möglichkeit bestand, Schwefel auf eine solche Weise zu verwenden. Für eine objektive Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit, kommt es aber nicht nur darauf an, ob der Fachmann durch Modifikation des Stands der Technik zur Erfindung hätte gelangen können.
Die Frage, die es zu beantworten gilt, ist aber eine andere, nämlich, ob der Fachmann im Lichte der bestehenden technischen Aufgabe, d.h. im vorliegenden Fall in Erwartung die hohen brandschutztechnischen Eigenschaften der Zusammensetzung des nächstliegenden Stands der Technik bei gleichzeitiger Erzielung guter mechanischer und dynamischer Eigenschaften zu behalten, wie im erteilten Anspruch 1 definiert vorgegangen wäre, weil eine solche Vorgehensweise durch den Stand der Technik angeregt war.
14.4 In dieser Hinsicht ist aus dem allgemeinen Fachwissen zwar bekannt, dass Härte, Modul, Festigkeit, Bruchdehnung, Weiterreißwiderstand, Elastizität und die Grenzen der mechanischen und thermischen Belastbarkeit von der Art der Vernetzungsbrücken und der Netzwerkdichte beeinflusst werden können (siehe Absatz [0004] des Streitpatents). Die Tabelle 6 auf Seite 1551 von E12 enthält eine Zusammenfassung der wichtigsten Merkmale von Schwefel- und Peroxidvulkanisaten. Dieser Tabelle ist zu entnehmen, dass Schwefelvulkanisate gute mechanische und dynamische Eigenschaften aufweisen, womit der Fachmann zweifellos die Anregung erhalten hatte, das Peroxidvulkanisat gemäß dem nächstliegendem Stand der Technik durch ein Schwefelvulkanisat zu ersetzten. Es ist des Weiteren unbestritten, dass eine Schwefelvulkanisation die Verwendung eines Doppelbindungen-enthaltenden, ungesättigten Elastomers gemäß dem vorliegendem Anspruch 1 voraussetzt.
Dies reicht aber nicht aus, um zum Schluss zu gelangen, dass der Gegenstand des vorliegenden Anspruchs 1 eine naheliegende Lösung der gestellten Aufgabe darstellt. Selbst unter der Annahme, dass das weitere Unterscheidungsmerkmal, dass sich das Schwefelvernetzungssystem über die gesamte Matrix erstreckt und diese vollständig durchsetzt, als naheliegend zu betrachten wäre, oder rein hypothetisch kein Merkmal des vorliegenden Anspruchs 1 bilden würde, würde die vom Streitpatent vorgeschlagene Lösung nicht nur aus der Idee, eine Schwefel- bzw. schwefelhaltiges Vernetzungssystem zu verwenden, resultieren.
Die vom Fachmann getroffene Entscheidung hinsichtlich der zu treffenden Maßnahmen zur Lösung der gestellten Aufgabe betrifft nämlich nicht nur die durchgeführte(n) Änderung(en) gegenüber dem nächstliegendem Stand der Technik (die Verwendung eines Schwefel- bzw. schwefelhaltigen Vernetzungssystems), sondern gegebenenfalls das Beibehalten von weiteren Merkmalen, die den nächstliegenden Stand der Technik charakterisieren. Mit anderen Worten ist es nicht nur unabdingbar zu erklären, aus welchen Gründen der Fachmann die Verwendung festgestellter Unterscheidungsmerkmale in Betracht gezogen hätte, sondern auch erforderlich darzulegen, weshalb der Fachmann, in der Hoffnung die Aufgabe zu lösen, die anderen Merkmale, die den nächstliegenden Stand der Technik charakterisieren und Teil der beanspruchten Lösung sind, nicht modifiziert hätte.
Die Identifizierung der Unterscheidungsmerkmale gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik stellt einen wesentlichen Aspekt des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes dar, unter anderem weil sie zu einer objektiven Bewertung der technische Wirkung des beanspruchten Gegenstands beiträgt. Bei der Beurteilung des Naheliegens der Lösung, muss zudem, um die erfinderische Tätigkeit objektiv zu betrachten und nicht der beanspruchten Lösung vorzugreifen, gedanklich ein Schritt zurück gemacht werden, d.h. es darf nicht nur die Frage des Naheliegens der Unterscheidungsmerkmale in Betracht gezogen werden, sondern es muss auch die Frage aufgeworfen werden, ob es für den Fachmann naheliegend war, die mit dem nächstliegenden Stand der Technik gemeinsamen Merkmale unverändert beizubehalten, um zur Lösung der Aufgabe zu gelangen.
14.5 Demzufolge ist im vorliegenden Fall ebenfalls die Frage zu beantworten, ob es für den Fachmann zur Lösung der im Punkt 13 oben genannten Aufgabe naheliegend gewesen wäre, Levapren® beizubehalten bzw. ein anderes vinylacetathaltiges thermoplastisches Polymer zu verwenden, da ein solches Polymer im Gegensatz zu einer Peroxidvernetzung bei einer Schwefelvernetzung unvernetzt bleiben würde.
Die Beschwerdeführerin machte hierzu keine Angaben. Es wurde von der Beschwerdeführerin nicht erklärt, warum es aus Sicht des Fachmanns naheliegend gewesen wäre, ein solches System auszuprobieren, um gute mechanische und dynamische Eigenschaften zu erhalten, geschweige denn unter Beibehaltung der hohen brandschutztechnischen Eigenschaften der Zusammensetzung des nächstliegenden Stands der Technik, was zweifellos eine beachtliche Menge an flammhemmenden Füllstoffen erfordert. Ein solcher Ansatz ist aus dem zitierten Stand der Technik nicht ersichtlich.
14.6 Die Beschwerdeführerin brachte ebenfalls vor, dass der Fachmann auf die Lehre der E4, Seiten 137/138, hinsichtlich der Wetter- und Ozonbeständigkeit eines mit Schwefel vernetzten Verschnitts von Levapren® mit einem Styrol-Butadien- oder Naturkautschuk zurückgreifen würde, weil Bauteile, welche im Außenbereich eingesetzt werden, diese Anforderungen zusätzlich zu den Brandschutzanforderungen aufweisen sollten. Zudem würde der Fachmann nach Ansicht der Beschwerdeführerin das auf den Seiten 137/138 genannte spezifische Levapren® im unvernetzten Zustand wegen seiner angegebenen Wirkung als Weichmacher verwenden. Mit diesen zusätzlichen Argumenten wird aber der im obigen Punkt 13 definierten Aufgabe, die gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik als erfolgreich gelöst gilt, nicht Rechnung getragen. Einer solchen Argumentation zu folgen, würde bedeuten, dass der Umstand des Erzielens einer technischen Wirkung durch die Kombination der beanspruchten Merkmale, auf deren Grundlage die objektive Aufgabe formuliert wurde, und somit ein möglicher technischer Beitrag zum Stand der Technik, der das Verleihen eines Monopolpatentrechts rechtfertigen könnte, unberücksichtig bliebe. Diese beiden zusätzlichen Argumente der Beschwerdeführerin, die zu keiner objektiven Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit führen würden, können daher ebenfalls nicht überzeugen.
14.7 Im Hinblick auf die obigen Ausführungen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass sich der Gegenstand des Anspruchs 1 ausgehend von der flammgeschützten EPDM-Levapren® Mischung, die auf Seite 149 von E4 offenbart ist, nicht in naheliegender Weise aus dem zitierten Stand der Technik ergibt.
Weitere Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit
15. Die Beschwerdeführerin machte zwei weitere Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit geltend, ausgehend entweder von der in den obigen Punkten 14.1 dargestellten Ausführungsform der E4, die im Abschnitt "Verschnitte mit anderen Polymeren" auf den Seiten 137/138 beschrieben wird, sowie ausgehend von E4 als allgemeinem Fachwissen ohne Anwendung des Aufgabe-Lösungsansatzes.
Diese Einwände wurden erst mit Schreiben vom 20. Dezember 2021 vorgebracht, d.h. nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung, die nach Inkrafttreten der revidierten Verfahrensordnung (VOBK 2020) erfolgte. Somit ist nach Artikel 25 (1) und (3) VOBK 2020 Artikel 13 (2) VOBK 2020 für die Zulassung dieser weiteren Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit maßgeblich.
16. Nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen. Diese Änderungen beziehen sich auf das Beschwerdevorbringen eines Beteiligten gemäß Artikel 12 (3) VOBK 2020, der auf Grund der Übergangsbestimmungen nach Artikel 25 VOBK 2020 Anwendung findet.
17. Im vorliegenden Fall wurden von der Beschwerdeführerin keine Gründe für das späte Vorbringen, geschweige denn außergewöhnliche Umstände genannt.
Die Beschwerdeführerin brachte lediglich vor, dass dieses späte Vorbringen nicht unberücksichtigt bleiben könne, da der Sachvortrag auf der Grundlage des Dokuments E4 erfolgte, welches rechtzeitig eingereicht wurde. Es obliege demnach dem Gericht eine rechtliche Beurteilung dieses Sachvortrags vorzunehmen, d.h. im vorliegenden Fall die erfinderische Tätigkeit, im Lichte von E4 zu bewerten. Dieses Argument geht rechtlich ins Leere, da sich die Änderung des Vorbringens gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 auf das Vorbringen gemäß Artikel 12 (3) VOBK 2020 bezieht, wonach das Beschwerdevorbringen eines Beteiligten mit der Beschwerdebegründung und der Erwiderung vollständig sein muss, inklusive aller geltend gemachten Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel. Der Umstand, dass ein Dokument im Verfahren rechtzeitig eingereicht wurde, bedeutet jedoch nicht, dass erstmals in einem späten Verfahrensstadium vorgebrachte Einwände, die auf diesem Dokument beruhen, automatisch Teil des Beschwerdeverfahrens sind bzw. in das Verfahren zuzulassen sind.
18. Aus diesem Grund hat die Kammer ihr Ermessen nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 dahingehend ausgeübt, diese beiden weiteren Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
19. Eine erfinderische Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ ist somit für den Gegenstand des Anspruchs 1 anzuerkennen.
20. Der Gegenstand der Zusammensetzungen gemäß den Ansprüchen 2 bis 19, des Verfahrens gemäß den Ansprüchen 20 und 21, der Zusammensetzung gemäß dem Anspruch 22, der Artikeln gemäß den Ansprüchen 23 bis 27 und der Verwendung gemäß dem Anspruch 28 des Streitpatents wird durch einen direkten oder indirekten Rückbezug auf die Definition der Zusammensetzung nach Anspruch 1 definiert. Es war im schriftlichen Verfahren und während der mündlichen Verhandlung nicht strittig, dass die Schlussfolgerung hinsichtlich des erfinderischen Charakters des Gegenstands von Anspruch 1 für die restlichen Ansprüche des Streitpatents auch gelten soll. Aus diesem Grund kommt die Kammer ebenfalls zu Schlussfolgerung, dass der Gegenstand der Ansprüche 2 bis 28 ebenfalls erfinderisch ist.
21. Die Kammer kommt daher aus den oben angeführten Gründen zu der Schlussfolgerung, dass der Gegenstand des erteilten Patents auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.