T 0316/19 (Transdermales therapeutisches System/UCB-LOHMANN) of 23.7.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T031619.20210723
Datum der Entscheidung: 23 Juli 2021
Aktenzeichen: T 0316/19
Anmeldenummer: 12810316.5
IPC-Klasse: A61K 9/70
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: TRANSDERMALES THERAPEUTISCHES SYSTEM MIT GERINGER NEIGUNG ZUR SPONTANKRISTALLISATION
Name des Anmelders: UCB Pharma GmbH
LTS LOHMANN Therapie-Systeme AG
Name des Einsprechenden: Luye Pharma AG
Kammer: 3.3.07
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54
European Patent Convention Art 56
RPBA2020 Art 013(2)
Schlagwörter: Neuheit - Auswahlerfindung (ja)
Erfinderische Tätigkeit - naheliegende Alternative
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0783/09
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Das europäische Patent Nr. 2 797 588 (nachfolgend: das Patent) wurde mit dreizehn Ansprüchen erteilt.

Der erteilte Produktanspruch 1 lautet:

"Transdermales therapeutisches System (TTS), umfassend eine wirkstoffundurchlässige Rückschicht, eine Matrix bestehend aus einer, zwei oder mehr Schicht(en) und eine ablösbare Schutzschicht, dadurch gekennzeichnet, dass die Matrixschicht(en) oder mindestens eine der Matrixschichten mindestens einen Haftkleber, mindestens einen Arzneistoff sowie Partikel aus quervernetztem Polyvinylpyrrolidon umfassen/umfasst und dass während der Herstellung der arzneistoffhaltigen Matrixschicht(en) und/oder der Beschichtung der wirkstoffundurchlässige Rückschicht des transdermalen therapeutischen Systems eine Temperaturbehandlung durchgeführt wurde, bei der die Temperatur über dem Schmelzpunkt oder dem Schmelzbereich, vorzugsweise mindestens 10 °C über dem Schmelzpunkt oder dem Schmelzbereich, der stabilen Modifikation des/der Arzneistoffs/Arzneistoffe lag, wobei es sich bei dem Haftkleber um einen Schmelzhaftkleber handelt."

Der erteilte Verfahrensanspruch 8 lautet:

"Verfahren zur Herstellung eines TTS, umfassend

a) das Herstellen einer arzneistoffhaltigen Haftklebermasse, umfassend mindestens einen Haftkleber, mindestens einen Arzneistoff und Partikel aus quervernetztem Polyvinylpyrrolidon, wobei es sich bei dem Haftkleber um einen Schmelzhaftkleber handelt und der Arzneistoff und die Polyvinylpyrrolidon-Partikel in dem Schmelzhaftkleber dispergiert werden;

b) das Beschichten eines film- oder folienförmigen Polymerträgers mit der arzneistoffhaltigen Haftklebermasse;

dadurch gekennzeichnet, dass während der Herstellung eine Temperaturbehandlung erfolgt, wobei die Temperatur über dem Schmelzpunkt oder dem Schmelzbereich der stabilen Modifikation des/der Arzneistoffs/Arzneistoffe liegt."

II. Gegen die Erteilung des Patents wurde Einspruch eingelegt. Als Einspruchsgründe wurden fehlende Neuheit und fehlende erfinderische Tätigkeit unter Artikel 100 a) EPÜ sowie unzureichende Offenbarung unter Artikel 100 b) EPÜ angeführt.

Die Beschwerde der Einsprechenden (nachfolgend: Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch zurückzuweisen.

In der angefochtenen Entscheidung wurden inter alia die folgenden Dokumente zitiert

O1: WO2008/115317

O2: JPH10-306023

O2a: Maschinenübersetzte Version der O2

O3: US 2005/0260254

O4: WO 00/45797

O12: Auszug aus Römpp Chemielexikon zu Olanzapin

In der angefochtenen Entscheidung kam die Einspruchsabteilung zu folgendem Ergebnis:

a) Es lagen keine ernsthaften Zweifel an der Ausführbarkeit der beanspruchten Erfindung vor.

b) Das im Patent beanspruchte transdermale therapeutische System (TTS) stellte gegenüber dem Dokument O1 eine mehrfache Auswahl bezüglich des partikelförmigen quervernetzten Polyvinylpyrrolidons und des zur Herstellung verwendeten Heißschmelzverfahrens dar.

Gegenüber der Lehre aus Dokument O2a lag ebenfalls eine mehrfache Auswahl in Bezug auf das quervernetzte Polyvinylpyrrolidon und das Heißschmelzverfahren vor.

Die anspruchsgemäß definierte Wärmebehandlung implizierte die molekulare Dispergierung des Wirkstoffes in der Matrixschicht. Das Dokument O4 beschrieb kein TTS, in dem der Wirkstoff molekular dispergiert vorlag.

Der Anspruchsgegenstand war somit neu.

c) Nächstliegender Stand der Technik war das Dokument O1. Der Anspruchsgegenstand löste auf einfache Weise die Aufgabe, ein TTS mit höherer Stabilität gegenüber Rekristallisation bereitzustellen. Einen Hinweis auf die erfolgreiche patentgemäße Lösung der erwähnten Aufgabe konnte der Fachmann dem Stand der Technik nicht entnehmen. Zudem veranlasste das Dokument O1 den Fachmann nicht, quervernetztes Polyvinylpyrrolidon in Partikelform in einem Heißschmelzverfahren zu verwenden, weil die Anwendung des Heißschmelzverfahrens bekanntlich von einer Vielfalt kritischer Variablen, einschließlich geeigneter Zusätze, abhing.

Der Anspruchsgegenstand beinhaltete somit auch eine erfinderische Tätigkeit.

III. Die Beschwerdeführerin bestritt in ihrer Beschwerdebegründung die Neuheit des patentgemäß beanspruchten Gegenstands hinsichtlich der Dokumente O1, O2a und O4 und verneinte die erfinderische Tätigkeit des Anspruchsgegenstands ausgehend von sowohl Dokument O1 als auch Dokument O2a als nächstliegendem Stand der Technik.

IV. Mit der Beschwerdeerwiderung reichten die Beschwerdegegnerinnen (Patentinhaberinnen) neun Hilfsanträge ein.

Die Ansprüche 1 und 7 des Hilfsantrags 1 unterschieden sich von den erteilten Ansprüchen 1 und 8 durch die Aufnahme des Merkmals: "dass der/die Arzneistoff(e) eine geringe Neigung zur spontanen Kristallisation aufweist".

Die Ansprüche 1 und 6 des Hilfsantrags 2 unterschieden sich von den erteilten Ansprüchen 1 und 8 durch die Aufnahme des Merkmals: "dass der/die Arzneistoff(e) aus der Gruppe ausgewählt ist/ sind, die wasserfreies Estradiol sowie Buprenorphin, Rotigotin, Rivastigmin, Scopolamin, Granisetron, Lerisetron, Ramosetron, Ondansetron und Pramipexol und pharmazeutisch akzeptable Salze der vorgenannten Arzneistoffe umfasst".

Die Ansprüche 1 und 7 des Hilfsantrags 3 unterschieden sich von den erteilten Ansprüchen 1 und 8 durch die Aufnahme des Merkmals: "dass die mittlere Partikelgröße der Partikel aus quervernetztem Polyvinylpyrrolidon 5-500 mym beträgt".

Gemäß Hilfsantrag 4 wurden die erteilten Produktansprüche 1-7 und 13 gestrichen.

Gemäß Hilfsantrag 5 wurde im erteilten Verfahrensanspruch 8 folgendes Merkmal aufgenommen: "und dass die Temperaturbehandlung während der Herstellung der arzneistoffhaltigen Haftklebermasse und/oder der Beschichtung des film- oder folienförmigen Polymerträgers erfolgt".

Die Hilfsanträge 6-9 entsprachen den Hilfsanträgen 1-4 mit der zusätzlichen Änderung der Verfahrensansprüche gemäß Hilfsantrag 5.

V. Mit der Ladung vom 15 September 2020 lud die Kammer die Beteiligten zu einer mündlichen Verhandlung ein.

In ihrer vorläufigen Stellungnahme gemäß Artikel 15(1) VOBK vom 16 Dezember 2020 ging die Beschwerdekammer von der Neuheit des patentgemäßen Anspruchsgegenstands aus, äußerte jedoch ihre Bedenken bezüglich der erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf Dokument O1 oder O2a als nächstliegendem Stand der Technik.

VI. Mit der Eingabe vom 28. Juni 2021 reichten die Beschwerdegegnerinnen weitere Hilfsanträge ein.

Die Ansprüche des Hilfsantrags 10 unterschieden sich von den erteilten Ansprüchen durch die Aufnahme des Merkmals: "wobei die Arzneistoffkonzentration derart ist, dass die Matrixschicht(en)hinsichtlich der stabilen Modifikation des/der Arzneistoffs/Arzneistoffe übersättigt ist/sind" in Anspruch 1 und die Aufnahme des Merkmals: "und die Arzneistoffkonzentration derart ist, dass die Haftklebermasse hinsichtlich der stabilen Modifikation des/der Arzneistoffs/Arzneistoffe übersättigt ist" in Anspruch 8.

Die Hilfsanträge 11-13 entsprachen den Hilfsanträgen 4, 5 and 9, in denen zusätzlich die Änderungen gemäß Hilfsantrag 10 übernommen wurde.

VII. Die mündliche Verhandlung fand am 23. Juli 2021 in Form einer Videokonferenz statt. Am Ende der Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.

VIII. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:

a) Dokument O1 beschreibe die Herstellung von TTS, deren Matrixschicht mittels eines lösungsmittelbasierten Verfahrens oder eines Schmelzverfahrens hergestellt werde, und erwähne quervernetztes Polyvinylpyrrolidon in einer Liste von neun möglicherweise einzusetzenden Haftverstärkern.

Dokument O2a beschreibe TTS, deren Matrixschicht unter anderem mittels eines lösungsmittelbasierten Verfahrens oder eines Schmelzverfahrens unter Einsatz von polymeren Mikropartikeln hergestellt werden könnten. Quervernetztes Polyvinylpyrrolidon sei eines der vier exemplarisch erwähnten Polymere und werde beispielsgemäß in lösungsmittelbasierten Verfahren eingesetzt.

Bei der patentgemäßen Definition der Kombination des Schmelzhaftklebers mit dem quervernetzten Polyvinylpyrrolidon handele es sich gegenüber der Lehre aus den Dokumenten O1 und O2a, ähnlich wie im Fall der Entscheidung T 783/09, nicht um eine neue Auswahl. Das beanspruchte TTS unterscheide sich im Übrigen auch nicht von den in Dokument O2a unter Einsatz von quervernetztem Polyvinylpyrrolidon beispielsgemäß hergestellten TTS, weil der patentgemäß definierte Schmelzhaftkleber auch in lösungsmittelbasierten Verfahren zum Einsatz kommen könne.

Außerdem beschreibe das Beispiel 1 des Dokuments O4 die Herstellung eines TTS mittels eines Schmelzverfahrens, in dem Olanzapin und quervernetztes Polyvinylpyrrolidon in einem Haftkleber verarbeitet werden. Auch wenn der Schmelzpunkt des Olanzapins während dieses Verfahrens nicht erreicht werde, ergebe sich aus der patentgemäßen Temperaturbehandlung für das beanspruchte TTS kein unterscheidendes Merkmal.

Daher sei der Gegenstand von Anspruch 1 des erteilten Patents nicht neu gegenüber der Lehre der Dokumente O1, O2a sowie O4.

b) Sollte die Kammer zu dem Schluss kommen, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des erteilten Patents neu sei, so eigne sich Dokument O1 als Ausgangspunkt im Stand der Technik. Der patentgemäße Anspruchsgegenstand stelle allenfalls eine Auswahl gegenüber der Lehre des Dokuments O1 dar und unterscheide sich vom Beispiel 16 dieses Dokuments lediglich durch die Verwendung von quervernetztem Polyvinylpyrrolidon statt kolloidalen Siliciumdioxids. Weil für den beanspruchten Gegenstand im Vergleich zu diesem Stand der Technik kein Effekt belegt sei, könne die Aufgabe lediglich in der Bereitstellung einer Alternative gesehen werden. Weil Dokument O1 bereits auf den möglichen Einsatz von quervernetztem Polyvinylpyrrolidon an Stelle des kolloidalen Siliciumdioxids hinweise, handele es sich bei dem patentgemäßen Anspruchsgegenstand um eine für den Fachmann naheliegende Lösung.

c) Die Definition des Arzneistoffes gemäß den Hilfsanträgen 1 und 2 stelle kein zusätzlich unterscheidendes Merkmal gegenüber der Lehre des Dokuments O1 dar. Die gemäß dem Hilfsantrag 3 definierte mittlere Partikelgröße des quervernetzten Polyvinylpyrrolidons ergebe sich als naheliegende Ausführungsform im Hinblick auf die gemäß Dokument O4 verwendete mikronisierte Form des quervernetzten Polyvinylpyrrolidons. Die Einschränkungen auf die Verfahrensansprüche in Hilfsantrag 4, beziehungsweise die weitere Anpassung der Verfahrensansprüche gemäß den Hilfsanträgen 5-9 würden ebenfalls keine weitere Abgrenzung zum Stand der Technik bewirken.

d) Die Hilfsanträge 10-13 seien verspätet vorgelegt worden und gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.

IX. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdegegnerinnen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

a) Der patentgemäße Anspruchsgegenstand stelle gegenüber der Lehre aus den Dokumenten O1 und O2a eine neue Mehrfachauswahl dar. Der Anspruchsgegenstand unterscheide sich von den Bespielen des Dokuments O2a, in denen quervernetztes Polyvinylpyrrolidon verwendet wird, durch den Einsatz des Schmelzhaftklebers.

Beispiel 1 des Dokuments O4 beschreibe nicht die anspruchsgemäße Temperaturbehandlung. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass diese Temperaturbehandlung keine strukturellen Unterschiede bedinge.

b) Das Dokument O1 lasse bei der Anwendung eines Schmelzhaftklebers die Wahl, den Arzneistoff temperaturbedingt aufzulösen oder zu schmelzen (siehe Absatz [0039]) und beschreibe quervernetztes Polyvinylpyrrolidon lediglich als eines von mehreren Haftverstärkern. Um der Rekristallisation ausgehend von vorhandenen Kristallkernen des Arzneistoffes oder sonstiger Feststoffe entgegen zu wirken, beschreibe Dokument O1 die Verwendung geeigneter Schutz- und Rückschichten oder eine nachträgliche Temperaturbehandlung am fertig ausgestanzten Pflaster (siehe Absätze [0102] und [0104]). Beispiel 16 des Dokuments O1 beziehe sich auf die Herstellung einer Matrixschicht mittels eines Schmelzverfahrens. Die angewendete Verarbeitungstemperatur bleibe dabei ungeklärt, weil bei der beschriebenen Extrusionstemperatur (1100°C) von der Pyrolyse der organischen Verbindungen auszugehen wäre. Zudem gehe aus den Ergebnissen in Tabelle 5 und Absatz [0133] hervor, dass die gemäß Bespiel 16 des Dokuments O1 hergestellte Matrixschicht anfällig für Rekristallisation sei.

Der patentgemäße Anspruchsgegenstand unterscheide sich von den aus Dokument O1 bekannten TTS durch die Auswahl des Schmelzhaftklebers und des quervernetzten Polyvinylpyrrolidons sowie die durch den Temperaturbehandlungsschritt bedingte innere Struktur. Das quervernetzte Polyvinylpyrrolidon, das bei der Temperaturbehandlung nicht schmelze und Mikroreservoire bilde (siehe Absatz [0046] des Patents), bewirke in Zusammenhang mit der Temperaturbehandlung auf einfache Weise die Vermeidung der Rekristallisation des Arzneistoffes und fördere die damit einhergehende Lagerstabilität (siehe Absatz [0062] des Patents) unhabhängig von den gemäß Dokument O1 beschriebenen Maßnahmen. Die Aufgabe könne deswegen in der vereinfachten und somit verbesserten Bereitstellung eines lagerstabilen TTS gesehen werden. Im Stand der Technik befinde sich kein Hinweis auf die patentgemäß beanspruchte Lösung.

Außerdem sei der Anspruchsgegenstand auch nicht als Lösung der Aufgabe der Bereitstellung eines alternativen TTS naheliegend. Es handele sich nicht um eine willkürlich zusammengesetzte Merkmalskombination, sondern um eine gezielte Auswahl zur Bereitstellung eines funktionierenden Arzneimittels. Das Dokument O1 schlage eine Vielfalt an Systemen und Verfahren vor, jedoch fehle der erforderliche Hinweis, auf Basis dessen der Fachmann zum Anspruchsgegenstand gelangen würde.

c) Der gemäß den Hilfsanträgen 1-3 beanspruchte Gegenstand unterscheide sich durch die Definition des Arzneimittels beziehungsweise der Partikelgröße des quervernetzten Polyvinylpyrrolidons zusätzlich vom Stand der Technik. Hilfsantrag 4 beschränke den Anspruchsgegenstand auf ein Verfahren, das eindeutig durch den Temperaturbehandlungsschritt gekennzeichnet sei. Die Anpassung der Verfahrensansprüche gemäß Hilfsanträgen 5-9 komme Bedenken entgegen, dass die Durchführung der Temperaturbehandlung in den erteilten Verfahrensansprüchen breiter auszulegen sei, als im erteilten Anspruch 1.

d) Die Hilfsanträge 10-13 kämen der vorläufigen Stellungnahme der Kammer entgegen, dass eventuell auch Dokument O2a als nächstliegender Stand der Technik in Betracht zu ziehen sei.

X. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in vollem Umfang zu widerrufen. Außerdem beantragte sie, die Hilfsanträge 10-13 nicht in das Verfahren zuzulassen.

Die Beschwerdegegnerinnen beantragten die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag). Hilfsweise beantragten sie die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage eines der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsanträge 1-9 oder auf der Grundlage eines der mit dem Schreiben vom 28. Juni 2021 eingereichten Hilfsanträge 10-13.

Entscheidungsgründe

2. Hauptantrag

2.1 Neuheit

2.1.1 Dokument O1 und Dokument O2a

Das Dokument O1 beschreibt die Herstellung von TTS, in denen der Wirkstoff mit weiteren Zusätzen, wie Haftverstärker, in einer Haftschicht vorliegt (siehe Absätze [0011], [0016]). Quervernetztes Polyvinylpyrrolidon wird in einer Liste von möglichen Haftverstärkern erwähnt (siehe Absätze [0016] und [0082]). Die TTS können durch lösungsmittelbasierte Verfahren (siehe Absätze [0034]und [0097]) oder Schmelzverfahren (siehe Absätze [0039] und [0099]) hergestellt werden. Einer unerwünschten Kristallisierung des Wirkstoffes kann unter anderem durch Erhitzen des fertigen TTS auf eine Temperatur 20°C über dem Schmelzpunkt des Wirkstoffes entgegengewirkt werden (siehe Absatz [0104], vergleiche auch Absatz [0044]). Im Beispiel, das sich auf die Herstellung durch ein Schmelzverfahren bezieht, wird kein quervernetztes Polyvinylpyrrolidon verwendet (siehe Beispiel 16, Absätze [0126] bis [0128]).

Das Dokument O2a beschreibt die Herstellung von TTS mit einer wirkstoffhaltigen Haftschicht. Polymere Partikel, die mit dem Wirkstoff in amorpher Form imprägniert sind (siehe Absatz [0035]), werden dabei in den Haftkleber der Haftschicht dispergiert (siehe Absätze [0010] und [0011] und Anspruch 1). Quervernetztes Polyvinylpyrrolidon wird in einer Liste von geeigneten polymeren Partikeln erwähnt und wird auch beispielsgemäß eingesetzt (siehe Absätze [0032], [0053] und [0055]). Die mögliche Verwendung eines Heißschmelzverfahrens wird erwähnt, jedoch kommt vorzugsweise und beispielsgemäß ein lösungsmittelbasiertes Verfahren zum Einsatz (siehe Absatz [0040]).

Patentgemäß kommt im beanspruchten TTS und im beanspruchten Verfahren zur Herstellung des TTS ein Schmelzhaftkleber in Kombination mit quervernetztem Polyvinylpyrrolidon zum Einsatz. Es bedarf somit ausgehend von der Lehre des Dokuments O1 und der Lehre des Dokuments O2a eine mehrfache Auswahl bezüglich einerseits des mit der Wahl des Herstellungsverfahrens einhergehenden Haftklebertyps und andererseits des eingesetzten Zusatzstoffes, um zum patentgemäßen Anspruchsgegenstand zu gelangen. Im Hinblick auf diese mehrfache Auswahl ist nach Ansicht der Kammer der Anspruchsgegenstand den Dokumenten O1 und O2a nicht unmittelbar und eindeutig zu entnehmen.

Die Kammer hält die von der Beschwerdeführerin herangezogene Entscheidung T 783/09 in diesem Zusammenhang nicht für maßgebend. Im Fall der Entscheidung T 783/09 (siehe Abschnitte 5.4-5.7) handelte es sich um die Offenbarung von zwei besonders bevorzugten DPP-IV Hemmern, die mit jedem der weiteren Wirkstoffe aus einer Liste von 22 anti-diabetischen Verbindungen zu kombinieren waren. Daraus gingen für den Fachmann die 44 einzelnen Kombinationen unmittelbar und eindeutig als bevorzugt hervor. Dahingegen beschreiben die Dokumente O1 und O2a die Anwendung des Heißschmelzverfahrens nicht als bevorzugt und lassen dem Fachmann weiter die Wahl der möglichen Zusätze. Der Anspruchsgegenstand entspricht gegenüber diesen Dokumenten somit vielmehr einer klassischen Mehrfachauswahl, die im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung der Bescherdenkammer des EPA geeignet ist, die Neuheit zu begründen (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, neunte Auflage, I.C.6.2.1).

Das weitere Argument der Beschwerdeführerin, dass der anspruchsgemäß definierte Schmelzhaftkleber auch in einem lösungsmittelbasierten Verfahren eingesetzt werden könne und somit nicht zur Abgrenzung gegenüber dem Dokument O2a geeignet sei, ist auch nicht überzeugend. Wie aus Dokument O3 (Absätze [0050] bis [0053]) hervorgeht, werden für Schmelzhaftkleber spezifische Zusätze verwendet. Zudem wird auch in der Beschwerdebegründung anerkannt, dass ein Heißschmelzverfahren mit der Verwendung eines Schmelzhaftklebers einhergeht (siehe Seite 6, Abschnitt 2.1.7).

2.1.2 Dokument O4

Das Dokument O4 befasst sich mit der Herstellung von TTS, wobei die Einwirkung von Lösungsmittel und Temperatur auf den Wirkstoff vermieden wird (siehe Seite 3, Zeilen 8-10). Dazu wird ein polymerer Haftkleber mit einem Füllermaterial vermischt und der Wirkstoff dem erwärmten Gemisch zugefügt (siehe Seite 10, Zeile 13-15 und Seite 12, Zeilen 3-5). Quervernetztes Polyvinylpyrrolidon wird als mögliches Füllermaterial erwähnt, das auch beispielsgemäß Einsatz findet (siehe Seite 11, Zeilen 26-31). Gemäß dem Beispiel 1 werden Haftkleber und quervernetztes Polyvinylpyrrolidon bei 70-80°C vermischt, Olanzapine wird zugesetzt, das Gemisch wird auf 90-130°C erhitzt und anschließend zwischen einer Rückschicht und einer Schutzschicht angebracht (siehe Seite 20, Zeile 20 bis Seite 21, Zeile 6).

Der Schmelzpunkt des Olanzapins liegt bekanntlich bei 195°C (siehe Dokument O12) und es ist unstrittig, dass das Dokument O4 nicht die anspruchsgemäße Temperaturbehandlung über diesen Schmelzpunkt hinaus beschreibt. In diesem Zusammenhang weist die Kammer darauf hin, dass gemäß dem Dokument O1 eine Hitzebehandlung über dem Schmelzpunkt des Wirkstoffs hinaus geeignet ist, vorhandene Kristallisationskeime in einer Klebermatrix aufzulösen (siehe Absatz [0104]). Nach Ansicht der Kammer ist deswegen von einer strukturellen Änderung des in Dokument O4 beschriebenen TTS auszugehen, wenn dieses TTS der anspruchsgemäßen Temperaturbehandlung ausgesetzt wird.

Der Anspruchsgegenstand wurde somit nicht in Dokument O4 vorbeschrieben.

2.1.3 Der erteilte Anspruchsgegenstand erfüllt somit das Erfordernis der Neuheit.

2.2 Erfinderische Tätigkeit

2.2.1 Dokument O1 geht ausführlich auf die Anwendung eines Schmelzhaftklebers in einem Schmelzverfahren ein, in dem der Wirkstoff bei erhöhter Temperatur in der Klebermatrix gelöst oder verschmolzen uniform in der Schmelze dispergiert wird (siehe die Absätze [0039] und [0099]). Das Dokument illustriert in Beispiel 16 das Verfahren, in dem der Wirkstoff verschmolzen in der Schmelze dispergiert wird (siehe Absätze [0126] bis [0128]). Die Zweifel der Beschwerdegegnerinnen an der Verarbeitungstemperatur in Beispiel 16 wegen der beschriebenen Extrusionstemperatur von 1100°C können dahingestellt bleiben, da Absatz [0127] explizit auf ein Heißschmelzverfahren verweist. Nach Ansicht der Kammer beschreibt das Dokument O1 somit eine Temperaturbehandlung der schmelzhaftkleberbasierten Matrixschicht, die der anspruchsgemäßen Temperaturbehandlung entspricht. Der Unterschied des Anspruchsgegenstandes gegenüber dem im Beispiel 16 des Dokuments O1 beschriebenen Verfahren betrifft damit nur den Einsatz von quervernetztem Polyvinylpyrrolidon statt des im Beispiel 16 verwendeten kolloidalen Siliciumdioxids.

2.2.2 Es ist demnach zu beurteilen, welche Aufgabe durch den Einsatz des quervernetzten Polyvinylpyrrolidons in Zusammenhang mit dem verwendeten Schmelzhaftkleber und der definierten Temperaturbehandlung als gelöst gelten kann und ob im Hinblick auf den Stand der Technik der Anspruchsgegenstand für den Fachmann als Lösung naheliegend war.

2.2.3 Die Beschwerdegegnerinnen beriefen sich auf die im Patent angedeutete besondere Eignung von quervernetztem Polyvinylpyrrolidon, als Mikroreservoire zu fungieren und in Zusammenhang mit der definierten Temperaturbehandlung die Rekristallisation des Arzneistoffes zu vermeiden. Dahingegen zeige Dokument O1 (siehe Tabelle 5 und Absatz [0133]) die Kristallisationsanfälligkeit der gemäß Beispiel 16 hergestellten TTS. Die Kammer stellt jedoch fest, dass das Patent keinen Beleg für einen mit dem Anspruchsgegenstand verbundenen Vorteil gegenüber dem aus Dokument O1 bekannten Verfahren, zum Beispiel in Form experimenteller Daten, enthält und seitens der Beschwerdegegnerinnen ein solcher Beleg auch nicht nachgereicht wurde. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass laut Beispiel 16 des Dokuments O1 die zwischen glatten Deckschichten hergestellte und mikroskopisch untersuchte Matrixschicht kristallfrei blieb (siehe Dokument O1 Absatz [0128]). Es wurde seitens der Beschwerdegegnerinnen auch nicht nachgewiesen, dass sich die in Dokument O1 erwähnte Kristallbildung bei Verwendung kristallisationsfördernder Deckschichten (siehe Tabelle 5 und Absatz [0133]) durch die anspruchsgemäße Anwendung von quervernetztem Polyvinylpyrrolidon vermeiden lässt. Die Kammer erkennt somit keine Basis für die Annahme, dass der anspruchsgemäße Einsatz von quervernetztem Polyvinylpyrrolidon einen Vorteil gegenüber dem aus Dokument O1 bekannten Verfahren bietet.

Die anspruchsgemäß gelöste Aufgabe ist deswegen in der Bereitstellung eines alternativen TTS zu sehen.

2.2.4 Als Lösung dieser Aufgabe würde der Fachmann den Einsatz von quervernetztem Polyvinylpyrrolidon als naheliegend betrachten, weil Dokument O1 bereits ausdrücklich auf den möglichen Einsatz von quervernetztem Polyvinylpyrrolidon bei der Herstellung von TTS mit arzneistoffenthaltenden Matrixschichten hinweist (siehe Absätze [0016] und [0082]) und dem Fachmann der mögliche Einsatz von quervernetztem Polyvinylpyrrolidon in Matrixschichten von TTS auch aus den Dokumenten O2a und O4 hinreichend bekannt war. In diesem Zusammenhang spielt es nach Ansicht der Kammer keine Rolle, ob der Stand der Technik eine Vielfalt an Ausführungsvarianten vorschlägt und dabei den Einsatz des quervernetzten Polyvinylpyrrolidons nicht besonders hervorhebt, weil die gelöste Aufgabe lediglich in der Bereitstellung einer Alternative gesehen wird (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, neunte Auflage, I.D.9.19.10).

2.2.5 Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 erfüllt deswegen nicht das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit.

3. Hilfsanträge 1-9

3.1 Die Definition in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1, dass der Arzneistoff eine geringe Neigung zur spontanen Kristallisation aufweist, beinhaltet nach Ansicht der Kammer keinen weiteren Unterschied zum Stand der Technik, auf dem sich eine erfinderische Tätigkeit stützen könnte, weil diese unscharfe Definition auch auf die in Dokument O1 beschriebenen Wirkstoffe zutrifft.

3.2 Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 definiert spezifische im TTS enthaltene Arzneistoffe. Seitens der Beschwerdegegnerinnen wurde kein mit dem Einsatz der spezifisch definierten Arzneistoffe verbundener unerwarteter Effekt geltend gemacht. Es handelt sich deswegen bei diesem Hilfsantrag lediglich um weitere Alternativen zum Stand der Technik. Im Hinblick auf die Beschreibung der möglichen Wirkstoffe in Dokument O1, in der auch das im Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 definierte Scopolamin erwähnt wird (siehe Dokument O1 Absatz [0066]) treffen die in den Abschnitten 2.2.1-2.2.5 in Bezug auf den Hauptantrag erläuterten Gründe gleichermaßen auf den Hilfsantrag 2 zu.

3.3 Wegen fehlender Hinweise auf einen besonderen Effekt handelt es sich auch bei der gemäß dem Hilfsantrag 3 definierten mittleren Partikelgröße des quervernetzten Polyvinylpyrrolidons lediglich um eine Alternative zum Stand der Technik. Im Hinblick auf die in Dokument O4 bereits in einem Schmelzverfahren beschriebene Verwendung der mikronisierten Form des quervernetzten Polyvinylpyrrolidons trägt nach Ansicht der Kammer das Merkmal der Partikelgröße nicht zu einer erfinderischen Tätigkeit bei.

3.4 Die oben in den Abschnitten 2.2.1-2.2.5 in Bezug auf den Hauptantrag erwähnten Überlegungen treffen gleichermaßen auf das Verfahren gemäß Hilfsantrag 4 zu.

3.5 Die Ansprüche der Hilfsanträge 5-9 entsprechen den Ansprüchen des erteilen Patents, beziehungsweise den Ansprüchen der Hilfsanträge 1-4, worin in den Verfahrensansprüchen das Merkmal der Temperaturbehandlung während der Herstellung der Haftklebermasse oder der Beschichtung des Trägers aufgenommen wurde. Weil es sich dabei gegenüber der Lehre aus Dokument O1 nicht um ein zusätzlich unterscheidendes Merkmal handelt, trägt nach Ansicht der Kammer auch dieses Merkmal nicht zu einer erfinderischen Tätigkeit bei.

3.6 Der gemäß den Hilfsanträgen 1-9 definierte Anspruchsgegenstand erfüllt deswegen nicht das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit.

4. Hilfsanträge 10-13

Die Hilfsanträge 10-13 wurden von den Beschwerdegegnerinnen erst nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht.

Gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.

Den Beschwerdegegnerinnen zufolge kamen die Hilfsanträge 10-13 der vorläufigen Stellungnahme der Kammer entgegen, dass eventuell auch Dokument O2a als nächstliegender Stand der Technik in Betracht zu ziehen sei. Die Kammer stellt jedoch fest, dass die Beschwerdeführerin sich in der Beschwerdebegründung auf Dokument O2 als nächstliegendem Stand der Technik berufen hat. Die Kammer betrachtet die Rechtfertigung der Beschwerdegegnerinnen für die späte Einreichung der Hilfsanträge 10-13 deswegen nicht als stichhaltig und hat diese Hilfsanträge somit nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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