T 0085/19 () of 22.6.2022

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2022:T008519.20220622
Datum der Entscheidung: 22 Juni 2022
Aktenzeichen: T 0085/19
Anmeldenummer: 04716245.8
IPC-Klasse: B29C 45/00
C08J 9/32
B29C 70/66
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zur Herstellung von lichtstreuenden Formteilen mit hervorragenden optischen Eigenschaften
Name des Anmelders: Röhm GmbH
Name des Einsprechenden: Mitsubishi Chemical UK Limited
ARKEMA France
Kammer: 3.2.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 114(2)
European Patent Convention R 116(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 025(3)
Schlagwörter: Erstinstanzliche Ermessensentscheidung über Zulassung eines Hilfsantrags - Aufhebung (nein)
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (nein)
Spät eingereichter Hilfsantrag - Änderungen nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung - zugelassen (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0007/93
T 0989/15
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1776/18

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerden der beiden Einsprechenden 1 und 2 richten sich gegen die am 14. November 2018 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung, dass unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen gemäß dem am 19. Juli 2018 eingereichten Hilfsantrag 8 das europäische Patent Nr. 1 644 173 den Erfordernissen des EPÜ genügt.

II. Der Einspruch war gegen das Streitpatent in vollem Umfang eingelegt worden und auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikel 54 EPÜ (fehlende Neuheit) und i.V.m. Artikel 56 EPÜ (mangelnde erfinderische Tätigkeit), Artikel 100 b) EPÜ und Artikel 100 c) EPÜ gestützt worden.

III. Die Ladung zur mündlichen Verhandlung erfolgte am 7. Mai 2021. Am 20. April 2022 erließ die Kammer eine Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts in der seit 1. Januar 2020 gültigen Fassung (VOBK 2020, siehe ABl. EPA 2021, A35).

IV. Für die vorliegende Entscheidung sind folgende Dokumente relevant:

E1: US 2002/0123565 A1;

E11: EP 1 312 472 B1;

E12: JP 11-019928;

E12a: Professionelle Übersetzung der E12;

E12b: Maschinenübersetzung der E12;

E20: Kunststoff-Handbuch, R. Vieweg et al., Carl

Hanser Verlag München, 1975, Band IX,

Seiten 448 bis 465;

E25: JP 10-73726;

E25b: Professionelle Übersetzung der E25;

E28: Kunststoffverarbeitung, O. Schwarz et al.,

8. Auflage, Vogel Buchverlag, 1999,

Seiten 109 bis 112;

E29: Saechtling Kunststoff Taschenbuch, E. Baur,

S. Brinkmann et al., 30. Ausgabe, Carl Hanser

Verlag München, 2007, Seiten 417 bis 419.

V. Am 22. Juni 2022 fand die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer als Videokonferenz statt. Wie mit Schreiben vom 15. Juni 2022 angekündigt, war die Beschwerdeführerin II in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend. Das Verfahren wurde in Anwendung von Regel 115 (2) EPÜ und Artikel 15 (3) VOBK 2020 ohne sie fortgesetzt.

VI. Anträge

Die Beschwerdeführerinnen I und II (Einsprechende 1 und 2) beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents in vollem Umfang.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerden. Hilfsweise beantragte sie die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche gemäß Hilfsantrag 2, eingereicht mit Schreiben vom 20. Mai 2022.

VII. Der Wortlaut des unabhängigen Anspruchs 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hilfsantrags 8 ist wie folgt:

"Verfahren zur Herstellung eines lichtstreuenden, komplexen Formteils, das unterschiedliche Wanddicken aufweist und einen oder mehrere Durchbruch/Durchbrüche aufweist, wobei man in einem Spritzgießverfahren eine Formmasse einsetzt, welche eine Matrix aus mindestens 30 Gew.-%, bezogen auf das Gesamtgewicht der Formmasse, Polymethyl(meth)acrylat, erhalten durch radikalische Polymerisation von Mischungen, die, bezogen auf das Gesamtgewicht der Monomere, mindestens 80 Gew.-% Methyl(meth)acrylat enthalten, und darin eingelagerte sphärische Kunststoffpartikel mit einer Teilchengröße im Bereich von 2 bis 15 mym in einer Konzentration im Bereich von 0,1 bis 25 Gew.-% bezogen auf das Gewicht des Polymethyl(meth)acrylats umfasst, wobei die Polymethyl(meth)acrylate der Matrix der eingesetzten Formmasse einen Brechungsindex im Bereich von 1,46 bis 1,54 aufweisen, gemessen bei der Na-D-Linie (589nm) und bei 20°C und die sphärischen Partikel einen Brechungsindexunterschied zur Polymethyl(meth)acrylat-Matrix von 0,01 bis 0,2 aufweisen, wobei das Gewichtsmittel des Molekulargewichts Mw der in der Formmasse zu verwendenden Homo- und/oder Copolymere im Bereich zwischen 80 000 und 300 000 g/mol liegt, wobei die sphärischen Kunststoffpartikel in der eingesetzten Formmasse vernetzte Silikone und/oder vernetztes Polystyrol und/oder vernetzte Copolymere basierend auf (Meth)acrylaten und Styrol umfassen, und wobei die Formmasse in ein Werkzeug gespritzt wird, mit dem ein komplexes Formteil hergestellt werden kann."

VIII. In den Ansprüchen des Hilfsantrags 2 wurde die Anspruchskategorie geändert von einem "Verfahren zur Herstellung eines lichtstreuenden, komplexen Formteils" zu einer "Verwendung einer Formmasse zur Herstellung eines lichtstreuenden, komplexen Formteils".

IX. Der Vortrag der Beteiligten lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

Zulassung des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hilfsantrags 8 (Hauptantrag)

- Beschwerdeführerin I (Einsprechende 1)

Die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsantrag 8 zuzulassen, solle aufgehoben werden. Bereits in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung sei beantragt worden, den Hilfsantrag 8 nicht zuzulassen, da dieser ohne Grund zu spät eingereicht worden sei und gegenüber dem damaligen höherrangigen Hilfsantrag 7 nicht konvergent gewesen sei.

- Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin)

Der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsantrag 8 enthalte keine zusätzlichen Merkmale aus der Beschreibung und sei eindeutig gewährbar. Folglich sei die Ermessensausübung der Einspruchsabteilung nicht zu beanstanden.

Erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hilfsantrags 8 (Hauptantrag) ausgehend von Dokument E12

- Beschwerdeführerin I (Einsprechende 1)

Der Gegenstand von Anspruch 1 sei nicht erfinderisch gegenüber dem Dokument E12 in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen. Der Gegenstand von Anspruch 1 unterscheide sich von dem Beispiel 1 des Dokuments E12 in der Konzentration der eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikel und im Vorhandensein eines oder mehrerer Durchbrüche. Das Matrixmaterial sei aus Dokument E12 bekannt, siehe Absatz [0040], wo offenbart sei, dass das Molekulargewicht im Bereich zwischen 50 000 und 150 000 g/mol liege und dass die Matrix entweder ein Homopolymer oder ein Copolymer mit 50 Gew.-% oder mehr Methyl(meth)acrylat sei.

Bei den unterscheidenden Merkmalen handle es sich um willkürliche Auswahlmöglichkeiten. Im Streitpatent werde diesen Merkmalen keine technische Wirkung zugesprochen. Die im Streitpatent genannten Beispiele würden ferner nicht alle diese Merkmale aufweisen. Sie würden lediglich den Einfluss des Partikeldurchmessers auf das Auftreten von optischen Mängeln, wie Bindenähten, zeigen. Dieses Konzept sei allgemein bekannt aus den Dokumenten E1, E11, E12 oder E25.

Die objektive technische Aufgabe könne daher nur darin liegen, ein Verfahren zur Bereitstellung eines alternativen lichtstreuenden Formteils zu finden. Die Kombination der Parameter der Formmasse würde naheliegen, da die fehlenden Parameter der Formmasse aus Absatz [0040] des allgemeinen Teils des Dokuments E12 bekannt seien. Die Konzentration der eingelagerten Kunststoffpartikel solle zwischen 0,001 und 0,9 Gew.-% liegen (siehe Dokument E12, Absatz [0039]). Dem Fachmann werde lediglich abgeraten von niedrigeren oder höheren Konzentrationen. Die Auswahl der Konzentration solle gemäß Dokument E12 in Abhängigkeit von der Form des herzustellenden Formteils und der Größe der eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikel erfolgen. Ferner spiele die gewünschte Lichtstreuung eine Rolle. Es sei naheliegend, dass der Fachmann bei einer gewünschten höheren Lichtstreuung die Konzentration der eingelagerten sphärischen Partikel innerhalb des aus Dokument E12 bekannten Bereichs erhöhen würde. Sollte ein Formteil mit Durchbruch angestrebt sein, würde der Fachmann diesen Durchbruch in der Spritzgussform vorsehen, um eine Nachbearbeitung des Formteils zu vermeiden. Seitens der Beschwerdegegnerin seien keine technischen Vorurteile diesbezüglich geltend gemacht worden. Es gebe keine Hinweise für den Fachmann, Durchbrüche in Spritzgussformen zu vermeiden. Da Spritzgussformen mit Durchbrüchen dem Fachmann allgemein bekannt seien, wie u.a. aus den Dokumenten E20 und E28 ersichtlich sei, würde der Fachmann ausgehend von Dokument E12 ohne erfinderisches Zutun die aus Dokument E12 bekannte Formmasse in einer Spritzgussform mit Durchbruch verwenden und so zum Gegenstand von Anspruch 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hilfsantrags 8 (Hauptantrag) gelangen.

- Beschwerdeführerin II (Einsprechende 2)

Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht erfinderisch ausgehend von Dokument E12 in Zusammenschau mit dem allgemeinen Fachwissen auf dem Gebiet des Spritzgusses und insbesondere den Dokumenten E20 und E28. Wie die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung unter Punkt 11.4.6 festgestellt habe, könne der Fachmann ausgehend von Dokument E12 zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangen. In Anbetracht der Tatsache, dass das Streitpatent im Absatz [0080] einen Durchbruch als Formteil mit einer Stelle mit Wanddicke Null interpretiere, falle jedes keilförmige Element unter den beanspruchten Gegenstand. Entgegen der Argumentation der Einspruchsabteilung in Punkt 11.4.8 der Entscheidungs­begründung könne vom Fachmann erwartet werden, nicht nur benachbarte Gebiete, sondern auch allgemeine Gebiete, hier den Spritzguss, zu konsultieren (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 9. Auflage, Juli 2019, "Rechtsprechung", I.D.8.1.1). Dies gelte umso mehr, als die in den Absätzen [0071] bis [0074] des Streitpatents genannten Spritzgussparameter in den üblichen Bereichen lägen.

- Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin)

Ausgehend von dem Beispiel 1 des Dokuments E12 beruhe der Gegenstand von Anspruch 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit. Der Gegenstand von Anspruch 1 unterscheide sich vom Beispiel 1 des Dokuments E12 darin, dass das komplexe Formteil einen oder mehrere Durchbrüche aufweist, dass die Mischungen, aus der die Polymethyl(meth)acrylat-Matrix erhalten wird, mindestens 80 Gew.-% Methyl(meth)acrylat bezogen auf das Gesamtgewicht der Monomere enthalten, dass die Konzentration der darin eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikel im Bereich von 0,1 bis 25 Gew.-% liegt, und dass das Gewichtsmittel des Molekulargewichts MW der in der Formmasse verwendenden Homo- und/oder Copolymere im Bereich zwischen 80 000 und 300 000 g/mol liegt. Die in den Absätzen [0017], [0039] und [0040] des Dokuments E12 genannten Parameter der Formmasse würden sich auf den Extrusionsprozess und die Granulierung beziehen und stünden nicht in Zusammenhang mit dem im Absatz [0053] des Dokuments E12 beschriebenen Beispiel 1. Dokument E12 offenbare nicht, dass eine dort aus dem allgemeinen Teil bekannte Formmasse auch tatsächlich spritzgegossen werde, wie dies für die in Beispiel 1 offenbarte Formmasse mit einer geringeren Konzentration an eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikeln der Fall sei.

Die technische Wirkung dieser Unterscheidungsmerkmale liege in der optischen Güte des herzustellenden Formteils. Die optische Güte sei nicht eine inhärente Eigenschaft der Formmasse. Vielmehr beeinflusse die Fertigung die Eigenschaften des Bauteils, was z.B. aus Seite 417 von Dokument E29 ersichtlich sei. Daher sei die objektive technische Aufgabe zu formulieren als das Bereitstellen eines kostengünstigen Verfahrens zur Herstellung von komplexen Formteilen im Sinne der anspruchsgemäßen Definition mit hoher optischer Güte. Aus Dokument E12 sei weder die anspruchsgemäße Formmasse noch deren Verwendung in einem komplexen Formteil nahegelegt. Dokument E12 beschäftige sich nicht mit der Problematik der Bindenähte. Da im Dokument E12 keine komplexen Formteile hergestellt würden, stelle sich das Problem der optischen Güte nicht. Das Beispiel 1 des Dokuments E12 offenbare Silikonpartikel mit einem Durchmesser von 2 mym in einer Konzentration von 0,03 Gew.-%. Absatz [0039] des Dokuments E12 lehre, dass die Konzentration der eingelagerten Partikel in Abhängigkeit von der Form (Dicke, Größe etc.) und in Abhängigkeit von den Partikeldurchmessern ausgewählt werde. Daher hätte der Fachmann keine Veranlassung gehabt, bei Verwendung der aus Beispiel 1 des Dokuments E12 bekannten Formmasse in einer komplexen Form die Konzentration der eingelagerten Partikel zu erhöhen.

Der als Begleitperson der Beschwerdegegnerin an der mündlichen Verhandlung teilnehmende technische Experte führte ergänzend aus, dass an Stellen, an denen im Formteil Schmelzefronten zusammenstießen, Bindenähte aufträten. Dieses Problem werde verstärkt durch die in der Formmasse enthaltenen Füllstoffe. Je höher die Konzentration der Füllstoffe bzw. Partikel sei, desto eher würden sich Bindenähte bilden. Der Fachmann würde daher die Konzentration der eingelagerten Partikel niedrig halten. Es sei nicht wissenschaftlich untersucht, warum im Streitpatent keine sichtbaren Bindenähte aufträten. Dieser Effekt beruhe auf einer Kombination der speziellen Formmasse, der speziellen Partikel, deren Größe und Konzentration und der speziellen Matrix. Im Dokument E12 würden keine Bindenähte auftreten, insbesondere da das Dokument E12 keine komplexen Formteile mit einem oder mehreren Durchbrüchen zeige.

Zulassung des mit Schreiben vom 20. Mai 2022 eingereichten Hilfsantrags 2

- Beschwerdeführerin I (Einsprechende 1)

Der mit Schreiben vom 20. Mai 2022 eingereichte Hilfsantrag 2 solle nicht zugelassen werden, da keine außergewöhnlichen Umstände gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 geltend gemacht worden seien. Außerdem sei der Hilfsantrag nicht konvergent und prima facie nicht gewährbar, da der Wechsel der Anspruchskategorie nichts an der Stichhaltigkeit der Einwände hinsichtlich fehlender erfinderischer Tätigkeit ändere.

- Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin)

Der Hilfsantrag 2, eingereicht mit Schreiben vom 20. Mai 2022, solle zugelassen werden, da außergewöhnliche Umstände vorlägen. Ferner sei der Hilfsantrag 2 gewährbar, da die erfindungsgemäße Lösung in Form eines Verwendungsanspruches näher definiert werde. Diese andere Formulierung beinhalte die Wirkung auf die Qualität des Formteils.

Entscheidungsgründe

1. Zulassung des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hilfsantrags 8 (Hauptantrag)

1.1 Es ist unbestritten, dass die Zulassung des in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsantrags 8 im Ermessen der Einspruchsabteilung lag. Zur Frage, inwieweit die Ausübung dieses Ermessens, die zur Zulassung des Hilfsantrags 8 durch die Einspruchsabteilung führte, im Beschwerdeverfahren überprüft werden kann, verweist die Kammer auf die Entscheidung G 7/93 (ABl. EPA 1994, 775), in der die Große Beschwerdekammer festgestellt hat, dass es in Fällen, in denen die Art und Weise der Ermessensausübung durch die erste Instanz mit einer Beschwerde angefochten wird, nicht Aufgabe der Beschwerdekammer ist, die Sachlage des Falls nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte. Ein erstinstanzliches Organ, das nach dem EPÜ unter bestimmten Umständen Ermessens­entscheidungen zu treffen hat, muss nämlich bei der Ausübung dieses Ermessens einen gewissen Freiraum haben, in den die Beschwerdekammern nicht eingreifen. In derartigen Fällen sollte sich eine Beschwerdekammer nur dann über die Art und Weise, wie die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass das Ermessen nicht nach Maßgabe der richtigen Kriterien oder in unangemessener Weise ausgeübt wurde und die erste Instanz damit den ihr eingeräumten Ermessensspielraum überschritten hat (siehe G 7/93, supra, Punkt 2.6 der Entscheidungs­gründe, und "Rechtsprechung", V.A.3.5.1 b)).

1.2 Unter Beachtung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich, dass die Einspruchsabteilung bei ihrer Ermessensausübung hinsichtlich der Zulassung des Hilfsantrags 8 die falschen Kriterien angewandt hätte oder ihr Ermessen in unangemessener Weise ausgeübt hätte. Folglich ist nicht erkennbar, dass die Einspruchsabteilung den ihr nach Artikel 114 (2) EPÜ bzw. Regel 116 (1) EPÜ eingeräumten Ermessens­spielraum überschritten hätte.

1.3 Dem Antrag der Beschwerdeführerin I auf Aufhebung der Entscheidung der Einspruchsabteilung, den während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsantrag 8 zuzulassen, kann daher nicht stattgegeben werden.

2. Erfinderische Tätigkeit des Gegenstand des Anspruchs 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hilfsantrags 8 (Hauptantrag) ausgehend vom Dokument E12

2.1 Das Dokument E12 beschäftigt sich mit einem Verfahren zur Extrusion einer Formmasse basierend auf Methacrylat und einer aus dieser Formmasse hergestellten Lichtleiterplatte. Daher stellt das Beispiel 1 des Dokuments E12 einen möglichen Ausgangspunkt für die Prüfung der erfinderischen Tätigkeit dar.

2.2 Der Gegenstand von Anspruch 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hilfsantrags 8 (Hauptantrag) unterscheidet sich - wie von der Beschwerdegegnerin dargelegt - vom Beispiel 1 des Dokuments E12 darin, dass das komplexe Formteil einen oder mehrere Durchbrüche aufweist, dass die Mischungen, aus der die Polymethyl(meth)acrylat-Matrix erhalten wird, mindestens 80 Gew.-% Methyl(meth)acrylat bezogen auf das Gesamtgewicht der Monomere enthalten, dass die Konzentration der in der Matrix eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikel im Bereich von 0,1 bis 25 Gew.-% bezogen auf das Gewicht des Polymethyl(meth)acrylats liegt und dass das Gewichtsmittel des Molekulargewichts MW der in der Formmasse zu verwendenden Homo- und/oder Copolymere im Bereich zwischen 80 000 und 300 000 g/mol liegt.

Der beanspruchte Methyl(meth)acrylat-Anteil, das beanspruchte Molekulargewicht der Homo- und/oder Copolymere der Formmasse und die anspruchsgemäße Konzentration der eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikel sind in den Absätzen [0017], [0039] und [0040] des allgemeinen Teils des Dokuments E12 offenbart. Allerdings steht diese Offenbarung nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den spritz­gegossenen Lichtleiterplatten des Beispiels 1 des Dokuments E12, das den Ausgangspunkt für den Aufgabe-Lösungsansatz bildet.

2.3 Die technische Wirkung des Unterscheidungsmerkmals betreffend die Herstellung von komplexen Formteilen, also von Formteilen mit unterschiedlichen Wandstärken und einem oder mehreren Durchbrüchen, ist im Streitpatent in Absatz [0015] angeführt. Durch die direkte Herstellung komplexer Formteile in einem Werkzeug können nachgeschaltete aufwendige Weiterbearbeitungs­verfahren vermieden werden und die Herstellung kann kostengünstig erfolgen.

Die technische Wirkung der Materialparameter (Anteil von Methyl(meth)acrylat, Molekulargewicht, Konzentration der eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikel) ist im Streitpatent nicht erwähnt. Die Konzentration der eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikel wird unzweifelhaft einen Einfluss auf die Lichtstreuung des Formteils haben. Zusammen mit der Konzentration der eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikel hat der molekulare Aufbau, hier der Anteil von Methyl(meth)acrylat und das Molekulargewicht der Formmasse, allgemein Auswirkungen auf die Verarbeitung des Kunststoffes und die optische Güte des Formteils (siehe z.B. Dokument E29, Seite 417, Kapitel 5.3.3).

2.4 Die Kammer kann der Beschwerdegegnerin nicht zustimmen, dass die optische Güte nicht den Eigenschaften der Formmasse zuzurechnen sei, sondern nur als eine Eigenschaft des komplexen Formteils, das unterschiedliche Wanddicken und einen oder mehrere Durchbrüche aufweist, zu betrachten sei. Die resultierende optische Güte ist zwar eine Eigenschaft des spitzgegossenen Formteils, aber das Erzielen einer bestimmten optischen Güte beim Spritzgießen hängt im vorliegenden Fall einer komplexen Formteilgeometrie wesentlich von den Eigenschaften der Formmasse ab. Unterschiedliche Wanddicken und ein oder mehrere Durchbrüche tragen für sich genommen nicht zur Verbesserung der optischen Güte bei, sondern erhöhen im Gegenteil das Risiko für das Auftreten von Bindenähten, die im Dokument E29 als fertigungsbedingte Bauteileigenschaft erwähnt werden. Diese hängen von dem von der Formteilgeometrie bestimmten Schmelzefronten­verlauf während der Fertigung ab, werden aber auch von den Materialparametern der Kunststoffformmasse beeinflusst.

Im Streitpatent wird als Vorteil des anspruchsgemäßen Verfahrens angegeben, dass keine Bindenähte entstehen, (siehe Absätze [0009], [0016], [0075] bis [0077] und [0104]). Dieser technische Effekt beruht gemäß dem Streitpatent auf der Formmasse mit den eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikeln, die im Vergleich zu anderen Formmassen kleiner sind. Darauf wird im Streitpatent insbesondere im Absatz [0076] und in den Beispielen (siehe Streitpatent, Vergleichsbeispiel, Tabelle 4 und Absatz [0094]) hingewiesen. Formmassen mit der beanspruchten Größe der Kunststoffpartikel sind allerdings bereits aus dem Beispiel 1 des Dokuments E12 bekannt. Das Vermeiden von Bindenähten ist daher keine technische Wirkung, die auf die Unterscheidungsmerkmale zurückzuführen ist.

2.5 Angesichts der oben genannten technischen Wirkungen (siehe Punkt 2.3) lautet die objektive technische Aufgabe daher, ein kostengünstigeres Verfahren zur Herstellung eines lichtstreuenden komplexen Formteils mit hoher optischer Güte zu finden.

Die Kammer teilt nicht die Auffassung der Beschwerde­führerin I, dass die objektive technische Aufgabe in der Bereitstellung eines alternativen lichtstreuenden Formteils liegt. Das Formteil des Dokuments E12 ist keilförmig und ohne Durchbruch (siehe Dokument E12, Absatz [0050]). Die von der Beschwerde­führerin I vorgeschlagene Formulierung der objektiven technischen Aufgabe ist daher nicht auf die technische Wirkung der unterscheidenden Merkmale zugeschnitten.

2.6 Die Kammer ist der Auffassung, dass das beanspruchte Verfahren mit der anspruchsgemäßen Formmasse durch das Dokument E12 allein nahelegt ist. Wie bereits in Zusammenhang mit den unterscheidenden Merkmalen diskutiert (siehe Punkt 2.2) offenbart das Dokument E12 im allgemeinen Teil eine anspruchsgemäße Formmasse. Die Konzentration der eingelagerten sphärischen Kunststoff­partikel wird im Absatz [0039] des Dokuments E12 im Bereich von 0,001 bis 0,9 Gew.-% angegeben. Absatz [0040] des Dokuments E12 offenbart die Verwendung eines Methylmethacrylathomo- oder copolymers und ein Molekulargewicht zwischen 50 000 bis 150 000 g/mol für das Matrixmaterial. Der Fachmann würde daher die in Absatz [0053] des Dokuments E12 verwendete Formmasse für das Beispiel 1 entsprechend dem allgemeinen Teil dieser Druckschrift wählen bzw. bei einer gewünschten höheren Konzentration an lichtstreuenden Partikeln gemäß der Lehre von Absatz [0039] entsprechend abwandeln. Spritzgießwerkzeuge mit unterschiedlichen Wandstärken und einem oder mehreren Durchbrüchen sind dem Fachmann allgemein bekannt und werden abhängig von der geforderten Formteilgeometrie regelmäßig eingesetzt. Daher ist es naheliegend, dass der Fachmann die aus dem Dokument E12 bekannte Formmasse bei Bedarf hierfür einsetzen würde, um so zum Gegenstand von Anspruch 1 zu gelangen.

2.7 Die Kammer kann der Argumentation der Beschwerde­gegnerin nicht folgen, dass Absatz [0039] des Dokuments E12 für eine Änderung der Konzentration an eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikeln von 0,03 Gew.-% im Beispiel 1 des Dokuments E12 keine Veranlassung bieten würde. Absatz [0039] des Dokuments E12 weist darauf hin, dass bei Konzentrationen über 0,9 Gew.-% die Trübung zu groß wird, und dass bei Konzentrationen unter 0,001 Gew.-% die Lichtstreuung nicht mehr gegeben ist. Des Weiteren offenbart das Dokument E12 in diesem Absatz, dass die optimale Konzentration an eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikeln in Abhängigkeit von der Form der Lichtleiterplatte, wie z.B. Dicke und Größe, und in Abhängigkeit von der Größe der eingelagerten sphärischen Kunststoffpartikel ausgewählt wird. Dieser Lehre folgend würde sich der Fachmann also abhängig vom jeweiligen Anwendungsfall in dem vom Dokument E12 vorgeschlagenen Bereich von 0,001 bis 0,9 Gew.-% und damit auch im beanspruchten Konzentrationsbereich von 0,1 bis 25 Gew.-% bewegen.

2.8 Wie oben dargelegt, sind das beanspruchte Verfahren und die anspruchsgemäße Formmasse durch das Dokument E12 nahegelegt. Da nach Aussage der Beschwerdegegnerin und gemäß der Offenbarung in der Tabelle 4 des Streitpatents die anspruchsgemäße Formmasse für das Erreichen einer hohen optischen Güte auch im Fall von Durchbrüchen im Formteil ursächlich ist, wird ein damit spritzgegossenes, mit Durchbrüchen versehenes Formteil notwendigerweise eine hohe optische Güte erreichen können. Dies gilt unabhängig davon, ob das Dokument E12 komplexe Formteile und Bindenähte erwähnt. Somit kann auch dieser Aspekt keine erfinderische Tätigkeit begründen.

2.9 Schlussfolgerung

Der Gegenstand von Anspruch 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hilfsantrags 8 (Hauptantrag) beruht ausgehend von Dokument E12 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.

3. Zulassung des Hilfsantrags 2

3.1 Der Hilfsantrag 2 wurde mit Schreiben vom 20. Mai 2022 nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht.

3.2 Aufgrund der Übergangsbestimmungen gemäß Artikel 25 (3) VOBK 2020 ist für die Frage der Zulassung des Hilfsantrags 2 Artikel 13 (2) VOBK 2020 anzuwenden, demzufolge Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt bleiben, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.

Nach dem vierten Absatz der Erläuterungen zu Artikel 13 (2) VOBK 2020 (siehe Dokument CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Artikel 13 (2)), kann die Kammer in der sogenannten dritten Stufe des im Beschwerde­verfahren anzuwendenden Konvergenzansatzes aber auch die in Artikel 13 (1) VOBK 2020 genannten Kriterien heranziehen, die für die zweite Stufe des Konvergenzansatzes anwendbar sind (siehe dazu auch T 989/15, Punkt 16.2 der Entscheidungsgründe). Eines dieser Kriterien fordert, dass der Beteiligte aufgezeigt hat, dass die Änderung prima facie die von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren oder von der Kammer aufgeworfenen Fragen ausräumt und keinen Anlass zu neuen Einwänden gibt.

3.3 Im Hilfsantrag 2 wird anstelle eines "Verfahrens zur Herstellung eines lichtstreuenden, komplexen Formteils, [...] wobei man in einem Spritzgießverfahren eine Formmasse einsetzt", eine "Verwendung einer Formmasse zur Herstellung eines lichtstreuenden, komplexen Formteils, [...] wobei man in einem Spritzgießverfahren eine Formmasse einsetzt", beansprucht. Diese Änderung der Anspruchskategorie ändert nichts an der Stichhaltigkeit der vorstehenden Argumentation bezüglich fehlender erfinderischer Tätigkeit. Es besteht kein erkennbarer inhaltlicher oder technischer Unterschied, ob eine Formmasse in einem Spritzgießverfahren eingesetzt wird, oder ob eine Formmasse in einem Verfahren, in dem in einem Spritzgießverfahren diese Formmasse eingesetzt wird, verwendet wird.

3.4 Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass die Beschwerdegegnerin nicht aufgezeigt hat, dass die Änderungen im Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 prima facie den Einwand der fehlenden erfinderischen Tätigkeit ausräumen. Unabhängig davon, ob die Änderungen durch außer­gewöhnliche Umstände bedingt sind, ließ die Kammer daher in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 und unter Heranziehung der Kriterien nach Artikel 13 (1) VOBK 2020 den Hilfsantrag 2 nicht in das Verfahren vor der Beschwerdekammer zu.

4. Schlussfolgerung

Da der Gegenstand des Anspruchs 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrags 8 (Hauptantrag) nicht erfinderisch ist (Artikel 56 EPÜ) und der mit Schreiben vom 20. Mai 2022 eingereichte Hilfsantrag 2 nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen wurde, ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das europäische Patent zu widerrufen (Artikel 101 (3) b) EPÜ).

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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