European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2023:T135418.20230117 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 17 Januar 2023 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1354/18 | ||||||||
Anmeldenummer: | 11700739.3 | ||||||||
IPC-Klasse: | H04N 5/225 B60R 11/04 B60R 11/00 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | VEREINFACHTE VORRICHTUNG EINER KAMERAEINHEIT EINES KRAFTFAHRZEUGS | ||||||||
Name des Anmelders: | Huf Hülsbeck & Fürst GmbH & Co. KG | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Witte Automotive GmbH | ||||||||
Kammer: | 3.5.04 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Zulässigkeit der Beschwerde - Beschwerdeschrift Zulässigkeit der Beschwerde - fristgerecht eingelegt (ja) Zulässigkeit der Beschwerde - Beschwerdebegründung Zulässigkeit der Beschwerde - fristgerecht eingelegt (ja) Zulässigkeit der Beschwerde - Beschwerde hinreichend begründet (ja) Auslegung des Anspruchs 1 des Patents zu eng (ja) Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung (ja) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 7. Mai 2018, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. EP 2 524 494 B1 zurückzuweisen. Die Entscheidung war in der mündlichen Verhandlung vom 8. März 2018 verkündet worden.
II. Die der Entscheidung beigefügte Beweismittelliste nahm auf die folgenden Entgegenhaltungen Bezug:
E1:|WO 2010/091657 A1|
E2:|JP H08 150875|
E3:|DE 10 2006 048 373 A1|
E4:|DE 102 04 764 A1 |
E5:|DE 10 2006 048 371 A1|
E6:|WO 2008/022717 A1|
E7:|DE 10234 483 A1 |
E8:|WO 2009/056510 A1|
Eine Übersetzung von E2 ins Englische war am 30. August 2017 von der Einsprechenden ins Einspruchsverfahren eingeführt worden.
III. Der Entscheidung lagen Sätze von Patentansprüchen gemäß Hauptantrag und Hilfsanträgen 1 bis 18 zugrunde. Die Unterlagen des Hauptantrags entsprachen der Patentschrift.
IV. Anspruch 1 des Patents lautet wie folgt:
"Vorrichtung (1) für ein Kraftfahrzeug, mit einer Kameraeinheit (10), die in eine Ruheposition (A) und in eine aktive Position (B) bringbar ist, und einem Schutzelement (12), das in eine Schließstellung (C) und in eine Offenstellung (D) führbar ist, wobei in der Schließstellung (C) des Schutzelementes (12) die Kameraeinheit (10) sich in ihrer Ruheposition (A) von außen unzugänglich hinter dem Schutzelement (12) und in der Offenstellung (D) des Schutzelementes (12) die Kameraeinheit (10) sich in der aktiven Position (B) zur Bilderfassung befindet, und mit einer Antriebseinheit (11) zur Bewegung der Kameraeinheit (10) und des Schutzelementes (12), dadurch gekennzeichnet, dass die Kameraeinheit (10) und das Schutzelement (12) beweglich aneinander angelenkt sind, und
dass das Schutzelement (12) um eine erste Achse (13) drehbar und/oder schwenkbar angeordnet und dass die Kameraeinheit (10) um eine zweite Achse (2) drehbar gelagert ist
und wobei die Antriebseinheit (11) zur Bewegung der Kameraeinheit (10) und des Schutzelementes (12) mittelbar oder unmittelbar an der Kameraeinheit (10) oder an dem Schutzelement (12) angreift."
V. In der angefochtenen Entscheidung hat die Einspruchsabteilung das Merkmal "dass die Kameraeinheit (10) und das Schutzelement (12) beweglich aneinander angelenkt sind" als Merkmal 5 bezeichnet.
Die Einspruchsabteilung befand, dass dieses Merkmal bei richtiger Auslegung bedeute, dass die Kameraeinheit und das Schutzelement unmittelbar über ein (einziges) Gelenk beweglich seien.
Ferner zog die Einspruchsabteilung die folgenden Schlussfolgerungen:
- Der Gegendstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sei neu (Artikel 100 a) i. V. m. Artikel 54 EPÜ), da keine der Entgegenhaltungen E1, E2, E3 das Merkmal 5 offenbare.
- Der Gegendstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags beruhe auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 100 a) i. V. m. Artikel 56 EPÜ), da sich das Merkmal 5 weder aus dem allgemeinen Fachwissen des Fachmanns noch aus den übrigen Entgegenhaltungen (E4, E5, E6, E7, E8) in naheliegender Weise ergebe.
VI. Am 29. März 2018, also noch vor Zustellung der schriftlichen Entscheidungsgründe, hat die Einsprechende ("Beschwerdeführerin") gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt. In ihrer am 22. August 2018 eingereichten Beschwerdebegründung vertrat sie die folgende Ansicht:
- Die Einspruchsabteilung habe das Merkmal "beweglich aneinander angelenkt" zu Unrecht auf eine Verbindung "unmittelbar über ein Gelenk" reduziert und dadurch dem im Verfahren befindlichen Stand der Technik seine Relevanz genommen.
- Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Patents sei nicht neu, da jede der Entgegenhaltungen E1, E2 und E3 ihn offenbare.
- Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Patents beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit, da er sich aus dem Dokument E4 für sich genommen und aus jeder der folgenden Kombinationen in naheliegender Weise ergebe: E4 in Kombination mit E5/E6/E7/E8, E5 in Kombination mit E4/E2 sowie E6/E7/E8 in Kombination mit E2/E4.
- Die abhängigen Ansprüche des Patents enthielten lediglich Merkmale, die aus dem Stand der Technik bereits bekannt seien und somit nicht zur Neuheit oder erfinderischen Tätigkeit beitragen könnten.
Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
VII. Ihrer am 28. Dezember 2018 eingereichten Erwiderung fügte die Patentinhaberin ("Beschwerdegegnerin") Sätze von Ansprüchen gemäß Hilfsanträgen 1 bis 14 bei.
In dieser Erwiderung führte die Beschwerdegegnerin aus, dass die Beschwerde nicht die Erfordernisse des Artikels 108 Satz 1 und Satz 3 EPÜ erfülle und daher unzulässig sei.
Ferner führte die Beschwerdegegnerin Argumente an, warum die Einspruchsabteilung das Merkmal 5 des Anspruchs 1 des Patents zutreffend ausgelegt habe und richtigerweise zum Schluss gekommen sei, dass der Gegenstand dieses Anspruchs neu und erfinderisch gegenüber den von der Beschwerdeführerin vorgebrachten (Kombinationen von) Entgegenhaltungen sei.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen (also den Einspruch zurückzuweisen und das Patent im ursprünglich erteilten Umfang aufrechtzuerhalten), oder, hilfsweise, unter Zugrundelegung der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Ansprüche gemäß einem der Hilfsanträge 1 bis 14 das Patent in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten.
VIII. Mit Schreiben vom 18. April 2019 hat die Beschwerdeführerin unter anderem Argumente vorgebracht, warum die Beschwerde zulässig sei und warum die Formulierung "beweglich aneinander angelenkt" sich nicht auf die Ausführungsbeispiele des Patents reduzieren ließe.
IX. Die Kammer hat die Parteien zu einer mündlichen Verhandlung geladen. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 (siehe Zusatzpublikation 2, ABl. EPA 2020) äußerte die Kammer unter anderem die folgende vorläufige Einschätzung:
- Die Beschwerde sei zulässig.
- Die Einspruchsabteilung habe das Merkmal 5 des Anspruchs 1 des Patents zu eng und damit unzutreffend ausgelegt.
- Sollte die Kammer in der mündlichen Verhandlung ihre vorläufige Meinung hinsichtlich der Auslegung des Anspruchs 1 des Patents bestätigen, sei sie geneigt, gemäß Artikel 111 (1) Satz 2 Alt. 2 EPÜ die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
X. Mit Schreiben vom 16. September 2022 hat die Beschwerdegegnerin weitere Argumente vorgebracht, warum die Beschwerde nicht zulässig sei und warum die Einspruchsabteilung das Merkmal 5 des Anspruchs 1 des Patents zutreffend ausgelegt habe und richtigerweise zum Schluss gekommen sei, dass der Gegenstand dieses Anspruchs neu und erfinderisch sei.
XI. Mit Schreiben vom 13. Dezember 2022 ist die Beschwerdeführerin auf die weiteren Argumente der Beschwerdegegnerin eingegangen.
XII. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand wie geplant am 17. Januar 2023 statt.
Am Ende der mündlichen Verhandlung bestätigten die Parteien folgende Schlussanträge:
Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen (also den Einspruch zurückzuweisen und das Patent im ursprünglich erteilten Umfang aufrechtzuerhalten), oder, hilfsweise, unter Zugrundelegung der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Ansprüche gemäß einem der Hilfsanträge 1 bis 14 das Patent in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten.
XIII. Zur Frage der Zulässigkeit der Beschwerde können die Argumente der Beteiligten - soweit sie für diese Entscheidung von Relevanz sind - wie folgt zusammengefasst werden.
Beschwerdegegnerin
Einhaltung der Beschwerdefrist
a) Die Beschwerde erfülle nicht die Erfordernisse des Artikels 108 Satz 1 EPÜ, da sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung, sondern vor dieser Zustellung eingelegt worden sei.
b) Die Entscheidung T 389/86, welche die Zulässigkeit einer vor Zustellung der Entscheidung eingelegten Beschwerde bejahte, beruhe auf dem Vorliegen unterschiedlicher Umstände, welche auf den vorliegenden Fall nicht zutreffen würden. Im Rahmen der damaligen Beschwerde habe die Beschwerdebegründung bereits mit Einlegung der Beschwerde gleichzeitig stattgefunden, nachdem das Protokoll zur mündlichen Verhandlung bereits zugestellt worden sei.
c) Die zweimonatige Frist gemäß Artikel 108 Satz 1 EPÜ könne sich im allgemeinen Rechtsschutzinteresse der am erstinstanzlichen Verfahren beteiligten Parteien nicht auf den Zeitraum vor Zustellung der Entscheidung erstrecken. Bei einer Zulässigkeit der vorzeitigen Einlegung der Beschwerde bestünde systemisch zumindest die Möglichkeit, dass die Einspruchsabteilung aus menschlichen Gründen die Bearbeitung der Entscheidungsgründe anders vornehme, als sie dies ohne die Gewissheit der Überprüfung dieser Entscheidungsgründe getan hätte. Es könne nicht geduldet werden, dass ein systemischer Umstand dazu führe, dass die Fragestellung der Beeinflussbarkeit, sei sie spekulativ oder nicht, überhaupt auftrete.
d) Genau wie Regel 137 (1) EPÜ verbiete, dass eine Rechercheabteilung durch Änderungen der Patentanmeldung gestört wird, solle Artikel 108 Satz 1 EPÜ jegliche Beeinflussung auf die Ausformulierung der Entscheidungsgründe durch das Entscheidungsorgan unterbinden.
Begründung der Beschwerde
e) Die Eingabe der Beschwerdeführerin vom 22. August 2018 erfülle nicht die inhaltlichen Erfordernisse des Artikels 108 Satz 3 EPÜ, da die Beschwerdeführerin ihr erstinstanzliches Vorbringen ihres Einspruchsschriftsatzes vom 19. Januar 2017 pauschal wiederverwendete, ohne einen konkreten Bezug zur angegriffenen Entscheidung vorzunehmen. Es sei daher nicht klar, inwiefern die Beschwerdeführerin die angefochtene Entscheidung als fehlerhaft ansehe.
f) Die Beschwerdeführerin habe in ihrer Beschwerdebegründung die Interpretation des Merkmals 5 losgelöst vom Stand der Technik diskutiert. Um die Entscheidung in zulässiger Art und Weise anzufechten, hätte es in Bezug auf Artikel 100 a) i. V. m. Artikel 52 ff. EPÜ eines konkreten Bezugs zur angefochtenen Entscheidung sowie zum Stand der Technik bedurft.
g) Es werde durch den "Copy-and-Paste"-Vortrag der Beschwerdeführerin eine Kausalität geschaffen, nach der eine sich in Bezug auf die angefochtene Entscheidung nicht mit dem Stand der Technik auseinandersetzende Beschwerdebegründung nahezu automatisch zu einem besonderen Grund nach Artikel 11 VOBK 2020 führe.
h) Die Beschwerdeführerin sei in ihrer Beschwerdebegründung nicht substantiiert auf den Gegenstand des Anspruchs 16 eingegangen.
Beschwerdeführerin
Einhaltung der Beschwerdefrist
i) Es sei mehr als fraglich, wie die Einspruchsabteilung durch das frühe Einlegen der Beschwerde in der schriftlichen Ausformulierung der Entscheidungsgründe beeinflusst werden könne.
j) Die in der Entscheidung T 389/86 vertretene Rechtsauffassung sei durch die späteren Beschwerdekammerentscheidungen T 427/99, T 1125/07 und T 1431/12 immer wieder bestätigt worden. Die von der Beschwerdegegnerin angeführten "systemischen Umstände" hätten in den Verfahren T 389/86, T 427 /99, T 1125/07 und T1431/12 gleichermaßen vorgelegen und hätten in diesen Fällen keine Rolle gespielt.
Begründung der Beschwerde
k) Die Beschwerdegegnerin ignoriere, dass die Auslegung des Merkmals 5 der Dreh- und Angelpunkt des Verfahrens sei und natürlich losgelöst vom Stand der Technik diskutiert werden müsste, da sie maßgeblich über die Relevanz der zitierten Druckschriften entscheide. Folgerichtig müsste sich die Beschwerdebegründung vor allem mit der Auslegung des Merkmals 5 beschäftigen, wohingegen die Argumente zum Stand der Technik unverändert bleiben könnten.
l) Warum die zu Anspruch 1 vorgetragene Begründung der mangelnden Patentfähigkeit nicht eins zu eins auf Anspruch 16 übertragbar sein sollte, sei nicht nachvollziehbar.
XIV. Zur Frage der Auslegung des Merkmals 5 des Anspruchs 1 des Patents können die Argumente der Beteiligten wie folgt zusammengefasst werden.
Beschwerdeführerin
a) In gängigen Wörterbüchern der deutschen Sprache, z. B. Duden, sei der Begriff "anlenken" nicht aufgeführt. Somit sei keine genaue Definition dieses Begriffs gegeben.
b) Die Auslegung des Begriffs "anlenken" durch die Einspruchsabteilung sei willkürlich. Ebenso gut könne der Begriff "anlenken" auch auf den Begriff "lenken" bzw. "steuern" zurückgeführt werden. Diese Auslegung beschränke eine "Anlenkung" keinesfalls auf nur zwei Komponenten bzw. ein einziges Gelenk. Sie vermittle lediglich, dass die Bewegung der einen Komponente eine Bewegung einer anderen Komponente hervorrufe.
c) Eine solche Auslegung des Begriffs "anlenken" sei durch den Absatz [0009] des Patents selbst gestützt. Dort sei offenbart, dass die Formulierung "beweglich aneinander angelenkt" gleichbedeutend mit "relativ zueinander, beweglich miteinander verbunden" sei, so dass die Bewegung eines der beiden Elemente die Mitbewegung des anderen Elements bewirke. Weder die Formulierung "beweglich aneinander angelenkt", noch die (gleichbedeutende) Formulierung "relativ zueinander, beweglich miteinander verbunden" schließe eine mittelbare Verbindung aus, bei welcher ein Zwischenelement zwischen die Kameraeinheit und das Schutzelement geschaltet sei.
d) Laut Absatz [0010] des Patents stelle eine Verbindung von Kameraeinheit und Schutzelement mittels eines Gelenks lediglich eine beispielhafte Variante einer bevorzugten Ausführungsform des Gegenstands des Anspruchs 1 des Patents dar. Daraus folge zwangsläufig, dass die anspruchsgemäße Formulierung "beweglich aneinander angelenkt" darüber hinaus gehen müsse.
e) Die Formulierung, dass zwei Elemente A und B "aneinander angelenkt" seien, drücke nichts anderes aus, als dass A an B angelenkt sei und folglich auch B an A angelenkt sei. Wenn in Absatz [0012] des Patents also die Rede davon sei, dass ein Element A unmittelbar oder alternativ mittelbar, nämlich über wenigstens ein weiteres Zwischenelement, an B angelenkt sein könne, so ließe die Formulierung "an ... angelenkt" für sich genommen zwangsläufig offen, ob es sich um eine mittelbare oder unmittelbare Anlenkung handele. Nichts anderes könne somit für die Formulierung "aneinander angelenkt" gelten, welche folgerichtig sowohl die mittelbare als auch die unmittelbare Anlenkung umfassen müsse.
f) Die Absätze [0038] und [0058] des Patents würden Ausführungsformen offenbaren, in denen ein Schwenkarm zwischen der Kameraeinheit und dem Schutzelement stünde. Der dritte Satz des Absatzes [0038] stelle klar, dass die Kameraeinheit und der Schwenkarm separate Komponenten darstellen könnten. Aus dem letzten Satz des Absatzes [0058] sei abzuleiten, dass die Einbeziehung des Schwenkarms in die Kameraeinheit lediglich eine Option darstelle.
g) Der Effekt, dass eine Bewegung eines Elements immer eine Bewegung eines anderen Elements verursacht, könne durch eine Verbindung der zwei Elemente anhand einer Schubstange erzielt werden.
Beschwerdegegnerin
h) Dem Präfix "an" sei selbstverständlich sprachlich eine Bedeutung zuzumessen. Während "lenken" ein Synonym für das Verb "steuern" sei, bei welchem aktiv eine Richtung beeinflusst werde, drücke das Verb "anlenken" gerade eine gelenkige Befestigung zweier Komponenten mit einer passiven Kopplung aus. Ist diese "aneinander", beschreibe dies auch die unmittelbare gegenseitige Relativbeziehung, d. h. eine unmittelbare Wechselwirkung, der Komponenten.
i) Alle Ausführungsbeispiele würden eine direkte bzw. unmittelbare Verbindung von Kameraeinheit und Schutzelement aufzeigen. Absatz [0047] des Patents lege eindeutig dar, dass die Figur 1 genau das Merkmal 5 beschreibe. Die sich daraus ergebende Kinematik werde in den Absätzen [0010] und [0011] des Patents zusammengefasst. Die fakultative Formulierungen in diesen Absätzen könnten nicht dazu führen, dass ein Anspruch, der aus sich heraus verständlich sei, einen anderen Schutzumfang erhalte.
j) Die Formulierung "relativ zueinander, beweglich miteinander verbunden" in Absatz [0009] sei nicht darauf zu reduzieren, dass die Bewegung eines der beiden Elemente die Bewegung des anderen Elementes bewirke. Teil dieser Formulierung sei nämlich auch das Begriffspaar "miteinander verbunden", welches somit nicht bloß die Relativbeziehung der beiden Elemente Kameraeinheit und Schutzelement in Bezug auf die Bewegung definiere, sondern auch deren gegenseitige unmittelbare Verbindung. Ferner werde in Absatz [0009] ein klarer Zusammenhang zwischen der beweglichen Anlenkung von Kameraeinheit und Schutzelement aneinander und der Lösung der im Absatz [0006] dargelegten Aufgabe aufgezeigt, nach welcher die Vorrichtung kompakt ausgebildet und daher Zwischenbauteile vermieden werden sollten.
k) Absatz [0059] führe ferner aus, dass die Kameraeinheit und das Schutzelement bei einer Bewegung eines der Elemente durch ihre bewegliche Verbindung aneinander "immer" relativ zueinander bewegt werden. Das Merkmal, dass eine Bewegung des einen Elementes, die "immer" auch eine Bewegung des anderen Elementes bedinge, sei bei einer mittelbaren Anordnung offensichtlich nicht gegeben.
l) Absatz [0012] des Patents beschreibe keine Relativbeziehung des Schutzelementes und der Kameraeinheit, sondern eine andere Relativbeziehung, nämlich die des Antriebselementes zu einem der Elemente Kameraeinheit oder Schutzelement. Die Begriffe "mittelbar" und "angelenkt" im dritten Satz des Absatzes [0012] seien nicht in Verbindung miteinander zu lesen. Ferner sei für jeden Muttersprachler offensichtlich, dass der Begriff "an", welcher im Absatz [0012] verwendet wird, sich von dem Begriff "aneinander" unterscheide.
m) Aus den Absätzen [0038] und [0058] sei keine Ausführungsform zu entnehmen, in denen der Schwenkarm kein Teil der Kameraeinheit sei. Im Kontext des Patents seien Komponenten als Teile einer Einheit zu betrachten, wenn sie fest miteinander verbunden seien, d. h. eine einheitliche Bewegung vorweisen würden. Aus Absatz [0038] sei deshalb zu entnehmen, dass der Schwenkarm ein Teil der Kameraeinheit bildet. Die Formulierung "Das Kameragehäuse 30 kann, wie in den Fig. 6 bis 8 dargestellt Teil des Schwenkarms 3 sein" in Absatz [0058] sei so zu verstehen, dass das Kameragehäuse wie in den Figuren 6 bis 8 Teil des Schwenkarms "ist".
n) Eine unmittelbare bzw. direkte Verbindung der Kameraeinheit mit dem Schutzelement impliziere nicht, dass alle Teile der Kameraeinheit (bzw. des Schutzelements) aus einem Guss seien, sondern lediglich, dass alle Bauteile der Kameraeinheit (bzw. des Schutzelementes) fest miteinander verbunden seien.
Entscheidungsgründe
Zulässigkeit der Beschwerde
1. Einhaltung der Beschwerdefrist (Artikel 108 Satz 1 EPÜ)
1.1 Gemäß Artikel 108 Satz 1 EPÜ ist die Beschwerde nach Maßgabe der Ausführungsordnung innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung beim Europäischen Patentamt einzulegen. Entspricht die Beschwerde nicht Artikel 108 EPÜ, so ist sie als unzulässig zu verwerfen (Regel 101 (1) EPÜ).
1.2 Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin am 29. März 2018 Beschwerde eingelegt, das heißt vor Zustellung der schriftlich begründeten Entscheidung, aber nach Verkündung der Entscheidung in der mündlichen Verhandlung vom 8. März 2018.
1.3 Im Fall T 389/86 (ABl. EPA 1988, 87) hat sich die Beschwerdekammer mit der Frage befasst, ob eine nach Verkündung einer Entscheidung in einer mündlichen Verhandlung, aber vor Zustellung der schriftlich begründeten Entscheidung eingelegte Beschwerde die Frist nach Artikel 108, Satz 1 EPÜ wahrt. Die Beschwerdeführerin reichte die Beschwerde zusammen mit der Beschwerdebegründung ein. Punkte 1.1 und 1.2 der Entscheidungsgründe lauten wie folgt (Hervorhebung durch die Kammer):
1.1. Diese Frage ist zu bejahen, da eine Beschwerde nicht voraussetzt, daß die angefochtene Entscheidung mit Gründen versehen ist; daher kann Beschwerde eingelegt werden, sobald eine Entscheidung existent geworden ist. Das ist hier der Fall, da die Entscheidung am 10. Oktober 1985 während der mündlichen Verhandlung verkündet worden ist.
1.2. Eine Beschwerde, die vor Beginn der in Artikel 108, Satz 1 EPÜ enthaltenen Zweimonatsfrist eingelegt worden ist, wahrt diese Frist. Artikel 108 EPÜ verbietet nach Meinung der Kammer keinesfalls die Einlegung einer Beschwerde vor Zustellung der Entscheidung, sondern schreibt lediglich vor, daß sie nicht später als zwei Monate nach deren Zustellung eingelegt werden kann.
1.4 Die im Fall T 389/86 vertretene Auffassung, dass Artikel 108 EPÜ keinesfalls die Einlegung einer Beschwerde vor Zustellung der Entscheidung verbietet, wird im vorliegenden Fall von der Beschwerdeführerin in Frage gestellt (siehe Punkt XIII.c) oben). Bei einer Zulässigkeit der vorzeitigen Einlegung der Beschwerde bestünde nach Ansicht der Beschwerdegegnerin systemisch zumindest die Möglichkeit, dass die Einspruchsabteilung aus menschlichen Gründen die Bearbeitung der Entscheidungsgründe anders vornehme, als sie dies ohne die Gewissheit der Überprüfung dieser Entscheidungsgründe getan hätte. Es könne nicht geduldet werden, dass ein systemischer Umstand dazu führe, dass die Fragestellung der Beeinflussbarkeit, sei sie spekulativ oder nicht, überhaupt auftrete.
1.5 Diese Argumentation beruht auf einem unzutreffenden Verständnis der Erfordernisse des Europäischen Patentübereinkommens und überzeugt daher nicht.
Das Europäische Patentübereinkommen erfordert, dass die Entscheidungsorgane des Europäischen Patentamts unbefangen über die Anträge der Parteien entscheiden (vgl. für Beschwerdekammermitglieder Artikel 24 EPÜ; das darin zum Ausdruck kommende Gebot der Unparteilichkeit gilt auch für erstinstanzliche Organe, siehe G 5/91, ABl. EPA 1992, 617, Leitsatz 1 und Gründe 3) und ihre Entscheidungen begründen (Regel 111 (2) EPÜ). Solange diese Erfordernisse erfüllt sind, ist der Detaillierungsgrad der Entscheidungsgründe den Entscheidungsorganen überlassen und kann daher keine Partei beschweren. Die Frage, ob die Einspruchsabteilung die Bearbeitung der Entscheidungsgründe anders vorgenommen hätte, als sie dies ohne die Gewissheit der Überprüfung dieser Entscheidungsgründe getan hätte, ist daher ohne Belang.
Im Übrigen merkt die Kammer an, dass die Entscheidungsorgane ohnehin keine Kontrolle über den Inhalt der Eingaben der Parteien haben. Es kann beispielsweise nicht verhindert werden, dass eine Partei bereits vor Verkündung einer Entscheidung schriftsätzlich oder in der mündlichen Verhandlung ihre Absicht mitteilt, bei für sie negativem Ausgang in jedem Fall Beschwerde einzulegen. Keine Auslegung des EPÜ könnte in diesem Fall Spekulationen darüber unterbinden, ob die Ausformulierung der Entscheidungsgründe durch das Entscheidungsorgan von dieser Mitteilung beeinflusst wurde. Es muss daher ebenfalls akzeptiert werden, dass keine Auslegung des Artikels 108 Satz 1 EPÜ ähnliche Spekulationen unterbinden kann.
1.6 Im Gegensatz zur Beschwerdegegnerin (siehe Punkt XIII.d) oben) kann die Kammer keine Parallele zwischen Regel 137 (1) EPÜ und Artikel 108 Satz 1 EPÜ ziehen. Regel 137 (1) EPÜ definiert keine Frist, innerhalb derer eine prozessuale Handlung von einer Partei vorgenommen werden muss, sondern einen Zeitpunkt, vor dem ein Anmelder grundsätzlich die Beschreibung, die Patentansprüche oder die Zeichnungen einer europäischen Patentanmeldung nicht ändern darf. Basierend auf Regel 137 (1) EPÜ kann somit keine Aussage über die richtige Auslegung des Wortlauts "innerhalb von zwei Monaten nach" des Artikels 108 Satz 1 EPÜ getroffen werden.
1.7 Vor diesem Hintergrund sieht die Kammer keinen Grund von der Auffassung der Kammer im Fall T 389/86 abzuweichen. Die Kernaussage der Kammer in jenem Fall war, dass eine Beschwerde eingelegt werden könne, sobald eine Entscheidung existent geworden ist. Dem stimmt die hier entscheidende Kammer zu. Da eine Entscheidung existent wird, sobald sie in einer mündlichen Verhandlung verkündet wird, spielt es keine Rolle, ob das Protokoll zur mündlichen Verhandlung vor oder nach Einlegung der Beschwerde zugestellt worden ist (siehe das Argument der Beschwerdegegnerin unter Punkt XIII.b) oben).
1.8 Im vorliegenden Fall wurde die Beschwerde nach Verkündung der Entscheidung in einer mündlichen Verhandlung eingelegt. Eine Entscheidung war somit existent, als die Beschwerde eingelegt wurde. Dementsprechend ist die Frist nach Artikel 108 Satz 1 EPÜ gewahrt.
2. Begründung der Beschwerde (Artikel 108 Satz 3 EPÜ)
2.1 Gemäß Artikel 108 Satz 3 EPÜ ist innerhalb von vier Monaten nach Zustellung der Entscheidung die Beschwerde nach Maßgabe der Ausführungsordnung zu begründen. Gemäß Regel 99 (2) EPÜ hat die Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung darzulegen, aus welchen Gründen die angefochtene Entscheidung aufzuheben oder in welchem Umfang sie abzuändern ist und auf welche Tatsachen und Beweismittel sie ihre Beschwerde stützt. Entspricht die Beschwerde nicht der Regel 99 (2) EPÜ, so ist sie als unzulässig zu verwerfen (Regel 101 (1) EPÜ).
2.2 Die Beschwerdebegründung wurde am 22. August 2018 eingereicht und somit innerhalb der gemäß Artikel 108 Satz 3 EPÜ vorgeschriebenen vier Monate nach Zustellung der Entscheidung. Dementsprechend ist die Frist nach Artikel 108 Satz 3 EPÜ gewahrt.
2.3 Es ist ständige Rechtsprechung, dass die Kammer aus der Beschwerdebegründung ohne eigene Ermittlungen unmittelbar ersehen können muss, warum die Entscheidung falsch sein soll und auf welche Tatsachen die Beschwerdeführerin ihre Argumente stützt (siehe die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, 2022, "Rechtsprechung", V.A.2.6.3 a)).
2.4 Wie von der Beschwerdeführerin argumentiert (siehe Punkt XIII.k) oben), war im vorliegenden Fall für die Schlussfolgerungen der angefochtenen Entscheidung in Bezug auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit die Auslegung des Merkmals 5 des Anspruchs 1 ausschlaggebend (siehe Punkte 12, 26, 30, 32, 39, 51, 53, 55, 57, 60 der Entscheidung).
2.5 Unter Punkt 2 der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin ausgeführt, warum die Einspruchsabteilung ihrer Ansicht nach dieses Merkmal falsch ausgelegt habe. Daher hat die Beschwerdeführerin nicht lediglich die Argumente der Einspruchsbegründung wiederholt (siehe das Argument der Beschwerdegegnerin unter Punkt XIII.e)). Darüber hinaus merkt die Kammer an, dass die Einspruchsabteilung die Auslegung des Merkmals 5 in der angefochtenen Entscheidung losgelöst von jeglicher Entgegenhaltung diskutiert hat. Daher bedürfte die Anfechtung dieser Auslegung keine Bezugnahme auf den Stand der Technik, um vollständig zu sein (ibid.).
2.6 Für die Kammer reicht die Eingabe der Beschwerdeführerin aus, um aus der Beschwerdebegründung unmittelbar ersehen zu können, warum die Entscheidung nach Auffassung der Beschwerdeführerin falsch sei. Würde die Kammer die Meinung der Beschwerdeführerin teilen, dass der Anspruch 1 des Patents im Einspruchsverfahren zu eng ausgelegt wurde, könnten diese Umstände bereits besondere Gründe im Sinne von Artikel 11 VOBK 2020 (siehe ABl. EPA 2019, A63) darstellen, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
2.7 Der Grund für die Zurückverweisung wäre die zu enge Auslegung des Merkmals 5 durch die Einspruchsabteilung, nicht die Wiederholung von Argumenten der Einspruchsbegründung. Das Argument der Beschwerdegegnerin, dass durch den "Copy-and-Paste"-Vortrag der Beschwerdeführerin eine Kausalität geschaffen werde, nach der eine sich in Bezug auf die angefochtene Entscheidung nicht mit dem Stand der Technik auseinandersetzende Beschwerdebegründung nahezu automatisch zu einem besonderen Grund nach Artikel 11 VOBK 2020 führe (siehe Punkt XIII.g) oben), geht somit ins Leere.
Im Hinblick auf die Frage der Zulässigkeit der Beschwerde sieht die Kammer es nicht als problematisch an, dass die Beschwerdeführerin zusätzlich zu ihren Ausführungen hinsichtlich der Auslegung des Anspruchs die Argumente der Einspruchsbegründung wörtlich wiederholt hat. Sollte die Einspruchsabteilung das Merkmal 5 falsch ausgelegt haben, hätte die Beschwerdeführerin das Recht, dass ihre ursprünglich vorgebrachten Argumente bei richtiger Auslegung des Anspruchs berücksichtigt werden.
2.8 Die Kammer merkt ferner an, dass die Gründe der angefochtenen Entscheidung sich nicht auf Anspruch 16 des Patents beziehen. Die Frage, ob der Einwand der mangelnden Patentfähigkeit dieses Anspruchs in der Beschwerdebegründung substantiiert ist (siehe das Argument der Beschwerdegegnerin unter Punkt XIII.h) oben), ist daher für die Beurteilung der Zulässigkeit der Beschwerde nicht relevant. Da es im Übrigen für den Widerruf eines Patents genügt, wenn nur ein Anspruch die Erfordernisse des EPÜ nicht erfüllt, ist es für die Zulässigkeit der Beschwerde eines Einsprechenden konsequenterweise ausreichend, wenn der Angriff nur gegen einen Anspruch hinreichend substantiiert im Sinne von Artikel 108 Satz 3 EPÜ und Regel 99 (2) EPÜ ist.
2.9 In Anbetracht des Vorstehenden kommt die Kammer zum Schluss, dass die Beschwerde begründet im Sinne vom Artikel 108 Satz 3 EPÜ und Regel 99 (2) EPÜ ist.
3. Die Beschwerde erfüllt somit alle Erfordernisse des Artikels 108 EPÜ und ist daher zulässig.
Auslegung des Merkmals 5 des Anspruchs 1 des Patents
4. Anspruch 1 des Patents spezifiziert, dass die Kameraeinheit und das Schutzelement beweglich aneinander angelenkt sind ("Merkmal 5").
5. Aus den Punkten 14 und 15 der angefochtenen Entscheidung ist zu entnehmen, dass die Einspruchsabteilung befand, dass dieses Merkmal bei richtiger Auslegung bedeute, dass die Kameraeinheit und das Schutzelement unmittelbar über ein (einziges) Gelenk beweglich seien.
6. Die Einspruchsabteilung ist offensichtlich durch eine rein linguistische Analyse des Begriffs "anlenken" zu ihrem Ergebnis gelangt: Der Begriff "anlenken" stamme von dem Begriff "Gelenk" ab, demzufolge zwei Komponenten beweglich um eine (einzige) Achse oder einen (einzigen) Punkt verbunden seien (siehe Punkt 14 der angefochtenen Entscheidung).
7. Die Kammer weist diesbezüglich darauf hin, dass Patentansprüche eine technische Lehre vermitteln und an einen Leser mit Fachkenntnissen auf dem Gebiet der Anmeldung gerichtet sind. Für die zutreffende Auslegung von Anspruchsmerkmalen muss daher stets deren technischer Wortsinn im technischen Gesamtzusammenhang aller Merkmale aus Sicht des Fachmanns maßgeblich sein und nicht eine rein linguistische Analyse des Wortlauts einzelner Begriffe. Den in Patentdokumenten verwendeten Begriffen ist daher vorrangig die im einschlägigen Stand der Technik übliche Bedeutung zu geben. Hierbei kann es ohne Weiteres sein, dass der Fachmann auf dem einschlägigen technischen Fachgebiet bestimmte Begriffe unter Zugrundelegung seines allgemeinen Fachwissens anders als auf Grundlage einer rein linguistischen Analyse versteht. Ebenso ist es möglich, dass die Patentschrift selbst einzelnen Merkmalen eine bestimmte Bedeutung beimisst, die von einem rein linguistischen Verständnis abweicht; insofern kann ein Patentdokument sein eigenes Wörterbuch darstellen. Die Auslegung muss zu einem technisch sinnvollen Ergebnis führen, wobei den Ansprüchen normalerweise die breiteste technisch sinnvolle Bedeutung beizumessen ist (vgl. zu diesen Grundsätzen Rechtsprechung, II.A.6.1 und II.A.6.3.3).
8. Vor dem Hintergrund der gerade ausgeführten Grundsätze hätte sich daher die Einspruchsabteilung für die Auslegung des Merkmals 5 nicht auf dessen linguistische Analyse beschränken dürfen; eine solche kann die Analyse des technischen Wortsinns bestenfalls ergänzen oder bestätigen, nicht aber ersetzen.
9. Ohne, dass es daher darauf entscheidend ankommt, merkt die Kammer an, dass aus den nachfolgend ausgeführten Gründen die linguistische Analyse der Einspruchsabteilung keineswegs eindeutig ist und dass eine solche Analyse auch eine breitere Auslegung des Merkmals 5 rechtfertigen würde.
9.1 Wie nämlich von der Beschwerdeführerin argumentiert (siehe Punkt XIV.b) oben), kann der Begriff "anlenken" ebenso auf den Begriff "lenken" zurückgeführt werden, der keine unmittelbare Relativbeziehung über ein einziges Gelenk voraussetzt.
9.2 Darüber hinaus gibt auch die Beschreibung in Absatz [0012] Hinweise darauf, dass die Formulierung "aneinander angelenkt" gemäß Merkmal 5 aus linguistischer Sicht sowohl eine unmittelbare als auch eine mittelbare Beziehung zwischen zwei Elementen umfasst und damit breit zu verstehen ist. Gleichzeitig lässt dieser Absatz der Beschreibung, verstanden als "eigenes Wörterbuch des Patents" (siehe Punkt 7. oben), auch einen Rückschluss auf den technischen Wortsinn der fraglichen Begriffe zu.
9.2.1 Der zweite und dritte Satz dieses Absatzes lauten wie folgt (Hervorhebung durch die Kammer):
So kann beispielsweise ein Antriebselement, insbesondere ein bewegbares Antriebselement, der Antriebseinheit unmittelbar an der Kameraeinheit oder an dem Schutzelement angeordnet, insbesondere angelenkt, sein. Alternativ dazu kann beispielsweise ein Antriebselement, insbesondere ein bewegbares Antriebselement, der Antriebseinheit mittelbar, das heißt über wenigstens ein weiteres Zwischenelement, wie beispielsweise ein Zwischengetriebe oder ein Schwenkarm, an der Kameraeinheit oder an dem Schutzelement angeordnet, insbesondere angelenkt, sein.
9.2.2 Im Gegensatz zur Beschwerdegegnerin (siehe Punkt XIV.l) oben) ist die Kammer der Ansicht, dass die Begriffe "mittelbar" und "angelenkt" im dritten Satz des Absatzes [0012] in Verbindung miteinander zu lesen sind. Dies lässt sich aus dem Umstand schließen, dass der zweite und dritte Satz dieses Absatzes die Fälle einer unmittelbaren und einer mittelbaren Anordnung eindeutig trennen und dass jeder dieser Sätze eine Anlenkung als Ausführungsform der einschlägigen (mittelbaren bzw. unmittelbaren) Anordnung darlegt.
9.2.3 Die Tatsache, dass dieser Absatz sich nicht mit der Relativbeziehung des Schutzelements und der Kameraeinheit auseinandersetzt (siehe das Argument der Beschwerdegegnerin unter Punkt XIV.l) oben), ist nach Ansicht der Kammer nicht relevant. Es kann üblicherweise angenommen werden, dass in einer Patentschrift Formulierungen und Begriffe konsistent verwendet werden, sofern nicht ausdrücklich abweichend erläutert. Wenn also laut Absatz [0012] eine Anlenkung des Antriebselements an die Kameraeinheit (bzw. an das Schutzelement) Zwischenelemente nicht ausschließt, folgt daraus, dass eine Anlenkung der Kameraeinheit an das Schutzelement (bzw. eine Anlenkung des Schutzelements an die Kameraeinheit) ebenfalls ein Zwischenelement nicht ausschließt.
9.2.4 Hieraus ist außerdem abzuleiten, dass auch eine Anlenkung der Kameraeinheit und des Schutzelements "aneinander", wie in Anspruch 1 formuliert, ein Zwischenelement nicht ausschließt. Im Gegensatz zu der von der Beschwerdegegnerin geäußerten Ansicht (siehe Punkt XIV.l) oben) kann die Kammer hier nicht erkennen, dass die notwendige Verwendung des Worts "aneinander" statt "an", wenn die Relation zweier im Satz als Subjekt nebeneinander stehender Gegenstände beschrieben werden soll (statt wie in Absatz [0012] die Relation ausgehend von nur einem Gegenstand im Satz als Subjekt zu einem anderen Gegenstand als Objekt), einen Bedeutungsunterschied herbeiführt.
10. Unabhängig von der gerade beleuchteten linguistischen Analyse des Merkmals 5 führt aus Sicht der Kammer jedenfalls der maßgebliche technische Wortsinn des Begriffspaars "aneinander angelenkt" zu dem Ergebnis, dass dieses Begriffspaar sowohl eine unmittelbare als auch eine mittelbare Beziehung zwischen zwei Elementen umfasst und damit breit zu verstehen ist.
11. Die Kammer merkt in diesem Zusammenhang an, dass sich der technische Wortsinn nicht bereits aus einem bestimmten technischen Verständnis der streitigen Begriffe durch den Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens ergibt.
11.1 Diesbezüglich hat die Beschwerdegegnerin behauptet, dass das Verb "anlenken" eine gelenkige Befestigung zweier Komponenten mit einer passiven Kopplung ausdrücke, während "lenken" ein Synonym für das Verb "steuern" sei, bei welchem aktiv eine Richtung beeinflusst werde (siehe Punkt XIV.h) oben). Ist diese gelenkige Befestigung zweier Komponenten "aneinander", beschreibe dies auch die unmittelbare gegenseitige Relativbeziehung, d. h. eine unmittelbare Wechselwirkung, der Komponenten (ibid.).
11.2 Sofern dieser Vortrag als bloße linguistische Analyse zu verstehen ist, verweist die Kammer auf ihre Ausführungen oben in den Punkten 5 und 6 sowie auf die Entgegnung der Beschwerdeführerin, wonach der Begriff "anlenken" in gängigen Wörterbüchern der deutschen Sprache nicht aufgeführt und daher keine genaue Definition gegeben sei (siehe Punkt XIV.a) oben).
11.3 Sollte die Beschwerdegegnerin dagegen hiermit ein bestimmtes technisches Verständnis dieser Begriffe durch den Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens behaupten, hat sie diese Ansicht nicht durch geeignete Beweismittel wie Ausführungen in Lehrbüchern oder Fachlexika untermauert, die sich aus technischer Sicht mit den Begriffen "aneinander", "anlenken" und deren Kombination beschäftigen und aus denen sich ergeben würde, dass der Fachmann sie stets so wie von der Beschwerdeführerin behauptet versteht. Der Kammer ist ein solches feststehendes technisches Verständnis aufgrund allgemeinen Fachwissens auch nicht bekannt.
12. Die Kammer entnimmt vielmehr der Patentschrift selbst aus den nachfolgend ausgeführten Gründen das maßgebliche technische Verständnis des Merkmals 5.
12.1 In Absatz [0009] der Patentschrift wird die Formulierung im Anspruch "beweglich aneinander angelenkt" ausdrücklich aufgegriffen und näher erläutert. Dort ist nämlich spezifiziert, dass "die Kameraeinheit und das Schutzelement beweglich aneinander angelenkt sind, das heißt relativ zueinander, beweglich miteinander verbunden sind" und dass diese Anordnung bewirken solle, dass "bei einer Bewegung eines der beiden Elemente, das andere Element mit bewegt wird".
12.2 Wie von der Beschwerdegegnerin ausgeführt (siehe Punkt XIV.k) oben), stellt Absatz [0059] ferner klar, dass die Kameraeinheit und das Schutzelement bei einer Bewegung eines der Elemente durch ihre bewegliche Verbindung aneinander "immer" relativ zueinander bewegt werden.
12.3 Die Kammer stimmt der Beschwerdegegnerin nicht zu, dass das Begriffspaar "miteinander verbunden" in Absatz [0009] eine unmittelbare Verbindung impliziere (siehe Punkt XIV.j) oben). In diesem Zusammenhang ist der Kammer unklar, welche Einschränkung die Einspruchsabteilung aus diesem Absatz herausgelesen hat, die ihrer Meinung nach in den (von der Einspruchsabteilung sodann selbst eng ausgelegten!) Anspruch nicht aufgenommen worden sei (siehe Punkt 13 der angefochtenen Entscheidung, letzter Absatz). Zwei Elemente können auch über eine Mehrzahl von Zwischenelementen oder Gelenken so "miteinander verbunden" werden, dass bei einer Bewegung eines der beiden Elemente das andere Element "immer" mit bewegt wird. Wenn nämlich eine Verbindung von zwei Elementen (beispielsweise anhand eines einzigen Gelenks) dazu führen kann, dass jede Bewegung des ersten Elements eine Bewegung des zweiten Elements verursacht, folgt zwangsläufig, dass eine Reihe von solchen Verbindungen bewirken kann, dass jede Bewegung des ersten verbundenen Elements eine Bewegung des letzten verbundenen Elements verursacht. Darüber hinaus teilt die Kammer die Ansicht der Beschwerdeführerin (siehe Punkt XIV.g) oben), dass die Bewegungen eines ersten Elements über ein geeignetes Zwischenelement, wie z. B. eine Schubstange, auf ein zweites Element übertragen werden können.
12.4 Die Beschwerdegegnerin hat ferner geltend gemacht, dass in Absatz [0009] ein klarer Zusammenhang zwischen der beweglichen Anlenkung von Kameraeinheit und Schutzelement aneinander und der Lösung der in Absatz [0006] dargelegten Aufgabe aufgezeigt werde, nach welcher die Vorrichtung kompakt ausgebildet werden solle (siehe Punkt XIV.j) oben). Absatz [0009] offenbart aber nicht, dass die Kompaktheit der Vorrichtung durch die Vermeidung von Zwischenelementen zwischen der Kameraeinheit und dem Schutzelement erzielt wird. Die aus dem zweiten Satz des Absatzes [0009] zu entnehmende technische Lehre ist, dass durch die Anlenkung der Kameraeinheit und des Schutzelements aneinander wenig Bauelemente, insbesondere für die Antriebseinheit, verwendet werden können.
12.5 Die Patentschrift weist daher in der Beschreibung der Formulierung "beweglich aneinander angelenkt" eine bestimmte Bedeutung zu, die weder eine mittelbare Verbindung noch eine Verbindung über eine Mehrzahl von Gelenken ausschließt.
12.6 Soweit demgegenüber die Beschwerdegegnerin für ihre anderweitige, enge Auslegung des Merkmals 5 auf gewisse, in der Beschreibung der Patentschrift dargelegte Ausführungsbeispiele verweist (siehe Punkt XIV.i) oben), hält die Kammer dieses Argument bereits deswegen für nicht stichhaltig, weil Ausführungsbeispiele definitionsgemäß lediglich Beispiele darstellen, wie die Erfindung auszuführen ist. Sie definieren nicht die Grenzen des Gegenstands, für den Schutz begehrt wird.
12.7 Unabhängig hiervon weist die Kammer darauf hin, dass die Patentschrift auch Ausführungsbeispiele vorsieht, in denen die Kameraeinheit und das Schutzelement mittelbar verbunden sind. Absatz [0058] besagt beispielsweise, dass "das Kameragehäuse 30 [...], wie in den Fig. 6 bis 8 dargestellt Teil des Schwenkarms 3 sein [kann]". Für die Kammer impliziert dies, dass Anordnungen vorgesehen sind, in denen das Kameragehäuse und der Schwenkarm separate Teile darstellen (siehe auch das Argument der Beschwerdeführerin unter Punkt XIV.f) oben). Da der Schwenkarm die Antriebseinheit mit dem Schutzelement verbindet, wie beispielsweise aus dem ersten Satz des Absatzes [0038] abzuleiten ist, bildet er daher zwangsläufig ein Zwischenelement zwischen der Kameraeinheit und dem Schutzelement.
12.8 Das Argument der Beschwerdegegnerin, dass im Kontext des Patents Komponenten als Teile einer Einheit zu betrachten seien, wenn sie fest miteinander verbunden seien, d. h. eine einheitliche Bewegung vorweisen würden (siehe Punkt XIV.m) oben), ist nicht überzeugend, weil nach Ansicht der Kammer aus der Patentschrift (siehe z. B. Absatz [0038]: "Die Kameraeinheit ist insbesondere über eine kraftschlüssige Verbindung an dem dem Schutzelement zugewandten Ende des Schwenkarms angeordnet.") klar hervorgeht, dass die Kameraeinheit und der Schwenkarm separate Komponenten darstellen.
13. Angesichts der vorstehenden Erläuterungen kommt die Kammer zum Schluss, dass die Einspruchsabteilung das Merkmal 5 des Anspruchs 1 des Patents zu eng und damit unzutreffend ausgelegt hat. Die Formulierung "aneinander angelenkt" schließt weder eine mittelbare Verbindung noch eine Verbindung über eine Mehrzahl von Gelenken aus.
Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung
14. Die Kammer stellt fest, dass im Einspruchsverfahren keine Analyse der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit unter der Annahme durchgeführt wurde, dass die Formulierung "aneinander angelenkt" eine mittelbare Verbindung bzw. eine Verbindung über eine Mehrzahl von Gelenken umfassen könnte. Die neue Auslegung dieses Merkmals durch die Kammer führt daher zu einer Änderung des Sachverhalts, die inkompatibel mit dem vorrangigen Ziel des Beschwerdeverfahrens ist, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen (siehe Artikel 12 (2) VOBK 2020). Zudem haben sich beide Parteien in der mündlichen Verhandlung für eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung ausgesprochen. Vor diesem Hintergrund verweist die Kammer gemäß Artikel 111 (1) Satz 2 Alt. 2 EPÜ die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurück.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.