T 0335/18 () of 12.10.2020

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2020:T033518.20201012
Datum der Entscheidung: 12 October 2020
Aktenzeichen: T 0335/18
Anmeldenummer: 13000834.5
IPC-Klasse: A47F5/08
A47B77/00
A47B88/20
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Einrichtungssystem
Name des Anmelders: Bulthaup GmbH & Co. KG
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2) (2007)
RPBA2020 Art 011 (2020)
RPBA2020 Art 012(2) (2020)
European Patent Convention Art 111(1) (2007)
RPBA2020 Art 025(1) (2020)
Schlagwörter: Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (nein)
Zurückverweisung an die erste Instanz - besondere Gründe für Zurückverweisung (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0002/10
T 2537/10
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts, mit der die europäische Patentanmeldung Nr. 13 000 834.5 aufgrund des Artikels 97 (2) EPÜ zurückgewiesen wurde.

II. Die Prüfungsabteilung ist in ihrer Entscheidung zu der Auffassung gelangt, dass die Änderungen des Anspruchs 1 des mit Schreiben vom 20. April 2017 eingereichten Hauptantrags, ebenso die Änderungen der Ansprüche 1 der mit Schreiben vom 20. April 2017 eingereichten Hilfsanträge I-V, Sachverhalte einbringen, die über den Offenbarungsgehalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehen und damit gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen.

Die während der mündlichen Verhandlung am 23. Mai 2017 eingereichten Hilfsanträge Ia, Ib und Ic wurden gemäß Artikel 114 (2) EPÜ nicht in das Verfahren zugelassen, da sie prima facie nicht relevant waren zum Überwinden der Einwände gemäß Artikel 123 (2) EPÜ.

III. Gegen diese Entscheidung hat die Anmelderin Beschwerde eingelegt und beantragte zunächst, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Patentanmeldung zur sachlichen Prüfung an die Prüfungsabteilung zurückzu­verweisen und die Beschwerdegebühr an die Anmelderin zurückzuzahlen,

hilfsweise eine mündlichen Verhandlung anzuberaumen,

weiter hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und und die Patentanmeldung in ihrer Fassung nach dem Hauptantrag vom 20. April 2017 zu erteilen,

weiter hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Patentanmeldung nach einem der Hilfsanträge Ia bis Ic vom 23. Mai 2017 zu erteilen,

weiter hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Patentanmeldung nach einem der Hilfsanträge I bis V vom 20. April 2017 zu erteilen.

IV. Mit Mitteilung der Kammer gemäß Regel 100 (2) EPÜ vom 5. Juni 2020 wurde der Beschwerdeführerin die vorläufige Meinung der Kammer nach Aktenlage erläutert:

Die Kammer konnte keine Verletzung des rechtlichen Gehörs und damit keinen wesentlichen Verfahrensfehler erkennen, der eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr, der Billigkeit wegen (Regel 103 (1) a) EPÜ), rechtfertigen würde. Auch schien der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag ursprünglich offenbart, so dass die Kammer der vorläufigen Auffassung war, dass die angefochtene Entscheidung aufzuheben sei. Die Kammer war zudem geneigt, die Sache zur sachlichen Prüfung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.

V. Mit Schreiben vom 4. August 2020 erklärte die Beschwerdeführerin, dass sie mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden sei. Außerdem wurde der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr fallen gelassen.

Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) beantragte nunmehr, als Hauptantrag die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Patentanmeldung zur sachlichen Prüfung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.

Einen Antrag auf mündliche Verhandlung stellte sie nur bedingt für den Fall, dass dem Hauptantrag nicht stattgegeben werden kann.

Hilfsweise beantragte die Beschwerdeführerin, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und und die Patentanmeldung in ihrer Fassung nach dem Hauptantrag vom 20. April 2017 zu erteilen,

weiter hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Patentanmeldung nach einem der Hilfsanträge Ia bis Ic vom 23. Mai 2017 zu erteilen,

weiter hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Patentanmeldung nach einem der Hilfsanträge I bis V vom 20. April 2017 zu erteilen.

VI. Der unabhängige Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet wie folgt (die gegenüber dem ursprünglich eingereichten Anspruch 1 hinzugefügten Merkmale sind von der Kammer durch Unterstreichungen gekennzeichnet, Streichungen durch Durchstreichen):

Einrichtungssystem, insbesondere Kücheneinrichtungs­system, mit [deleted: mindestens ]einem ersten und einem zweiten Strukturelement und [deleted: mindestens ]einem Element, welches an dem Strukturelement anordenbar ist, wobei das erste Strukturelement Bestandteil einer Wandstruktur (A10) ist oder durch diese gebildet wird, und

[deleted: dadurch gekennzeichnet, dass][deleted: das] die Strukturelemente jeweils eine durch eine Mehrzahl von identischen Wellen gebildete Wellengeometrie aufweisen[deleted: t], an welcher jeweils das Element in unterschiedlichen Positionen anordenbar ist, [deleted: wobei]

dadurch gekennzeichnet, dass

das zweite Strukturelement Teil einer Bodenstruktur ist, auf welcher das Element in unterschiedlichen Positionen anordenbar ist,

die Wellengeometrie [deleted: insbesondere ]durch eine Prismenstruktur des Strukturelementes gebildet [deleted: sein kann ]ist, und

sich die zwei Strukturelemente im Hinblick auf ihre jeweilige Wellengeometrie entsprechen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Rückzahlung der Beschwerdegebühr

2.1 Die Beschwerdeführerin hat ihren Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr fallengelassen. Auch die Kammer sieht vorliegend keine Verletzung des rechtlichen Gehörs und damit keinen wesentlichen Verfahrensfehler durch die Prüfungsabteilung, der eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr, der Billigkeit wegen, rechtfertigen würde (Regel 103 (1) a) EPÜ).

2.2 Gemäß gefestigter Rechtsprechung der Beschwerdekammern kann dem Recht gemäß Artikel 113 (1) EPÜ auf rechtliches Gehör auch durch eine mündliche Verhandlung entsprochen werden. Voraussetzung ist dabei, dass die Beteiligte sich äußern konnte und diese Äußerungen auch berücksichtigt wurden. Dies war vorliegend der Fall.

2.3 Zwar enthielt die Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung keinen Hinweis auf einen Einwand unter Artikel 123 (2) EPÜ, so dass die faktischen und rechtlichen Gründe für die Einführung dieses neuen vermeintlichen Hinderungsgrunds erstmals in der mündlichen Verhandlung dargelegt wurden. Die Kammer kann aber nicht erkennen, dass der Anmelderin in der mündlichen Verhandlung keine faire Gelegenheit zur angemessenen Verteidigung gegen den neuen Einwand gegeben worden ist.

Wie den Ausführungen der Beschwerdeführerin und auch der Niederschrift über den Verlauf der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung zu entnehmen ist, hat die Anmelderin in der mündlichen Verhandlung ihre Argumente gegen das Heranziehen des "Zwei-Listen-Prinzips" durch die Prüfungsabteilung und die angeblich geforderte eindeutige Offenbarung des Anspruchs 1 in den Ausführungsbeispielen vorgebracht. Insbesondere ist festzustellen, dass die mündliche Verhandlung unterbrochen wurde, um der Anmelderin Zeit zu geben, ihren Vortrag zur Zulässigkeit vorzubereiten (siehe Niederschrift, Punkt 1.2), und nach ihrem Vortrag gab sie an, keine weiteren Anmerkungen zur Zulässigkeit mehr machen zu wollen (Punkt 1.3). Wie auch von der Beschwerdeführerin eingeräumt, stellte sie daraufhin den Hauptantrag zur Entscheidung. Damit ist kein Grund erkennbar, warum die mündliche Verhandlung wie behauptet hätte vertagt werden müssen.

Die Anmelderin und jetzige Beschwerdeführerin mag zwar mit der Anwendung des Neuheitstests bei der Prüfung auf Zulässigkeit der Änderungen in Anspruch 1 gemäß Hauptantrag unter Artikel 123 (2) EPÜ nicht einverstanden sein. Dies betrifft aber die rechtliche Würdigung des vorliegenden Sachverhalts, die mit der Beschwerde angegriffen werden kann und auch wurde, und kann keine Verletzung des rechtlichen Gehörs begründen.

2.4 Die Kammer kann auch in der Nichtzulassung der Hilfsanträge Ia, Ib und Ic wegen verspäteten Vorbringens nach Artikel 114 (2) EPÜ keinen wesentlichen Verfahrensfehler erkennen. Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung wurde der Anmelderin nach der Entscheidung über den Hauptantrag die Möglichkeit gegeben, ihre weitere Strategie zu überdenken, indem die mündliche Verhandlung für 25 Minuten unterbrochen wurde. Daraufhin reichte die Anmelderin die Hilfsanträge Ia, Ib, und Ic ein. Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin wurde der Anmelderin in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung also die Möglichkeit eingeräumt, auf den neu eingeführten Einwand zu reagieren.

Die Darstellung der Beschwerdeführerin zum Ablauf in der mündlichen Verhandlung, dass die Prüfungsabteilung "die Tatsache und unsere entsprechenden Ausführungen, dass diese [Ursprungsoffenbarung] in den ursprünglich eingereichten Ansprüchen selbst zu finden sei, nicht zuließ", lässt sich aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung in Bezug auf Hilfsantrag Ia nicht ableiten (siehe Punkt 1.9: "Nachdem die Anmelderin ihre Argumente hierzu ausgeführt hatte und angab, keine weiteren Anmerkungen zur Zulässigkeit zu haben..."). Zu den Hilfsanträgen Ib und Ic ist der Niederschrift zu entnehmen (siehe Punkt 1.11), dass die Anmelderin keine weiteren Ausführungen zur Zulässigkeit machen wollte.

Die Vorlage der Hilfsanträge Ia bis Ic mag zwar "in Reaktion" und somit nicht verspätet erfolgt sein.

Eine fehlerhafte Ausübung des Ermessens durch die Prüfungsabteilung unter Artikel 114 (2) EPÜ begründet aber noch keinen wesentlichen Verfahrensfehler.

3. Fehlerhafte Anwendung des Artikels 123 (2) EPÜ

3.1 Anspruch 1 gemäß Hauptantrag ist eine Kombination des ursprünglich eingereichten Anspruchs 1 mit zusätzlichen Merkmalen der ursprünglichen Ansprüche 2, 4, 6, 8 sowie dem auf Seite 5, 4. Absatz, im allgemeinen Teil der Beschreibung aufgeführten optionalen Merkmal.

3.2 Die Kammer ist der Auffassung, dass Anspruch 1 gemäß Hauptantrag keine neue technische Information gegenüber der ursprünglichen Offenbarung liefert und somit die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ erfüllt.

3.3 Die Prüfungsabteilung hat die Merkmalskombination des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag als "eine von tausenden Kombinationen", die in den ursprünglich eingereichten abhängigen Ansprüchen 2, 4, 6 und 8 (durch Ausdrücke "und/oder", "insbesondere", "vorzugsweise", "vorteilhafterweise") enthalten seien, angesehen. Diese spezifische Kombination sei unter Berücksichtigung der ursprünglichen Anmeldungsunterlagen "nicht voraussehbar" und daher "neu gegenüber der ursprünglichen Offenbarung", insbesondere da keine Ausführungsform der Beschreibung bzw. Figuren diese Merkmalskombination (mit einem Strukturelement als Bestandteil einer Wandstruktur und dem anderen Strukturelement als Teil einer Bodenstruktur) wiedergebe. Unter Verweis auf die Richtlinien H-IV, 2 sah die Prüfungsabteilung eine unzulässige Erweiterung in Anspruch 1 des Hauptantrags, da die Prüfung auf unzulässige Änderungen zumindest bei Hinzufügungen der in G-VI, 2 angegebenen Neuheitsprüfung entspreche.

3.4 Wie von der Beschwerdeführerin zum Ablauf in der mündlichen Verhandlung geschildert, scheint die Prüfungsabteilung auf das "Zwei-Listen-Prinzip" hingewiesen zu haben, das bei der Prüfung zur Neuheit herangezogen werde und auf die vorliegenden ursprünglichen Ansprüche projiziert worden sei. Die Prüfungsabteilung habe gefordert, dass der geltend gemachte Anspruch 1 für die Zulässigkeit nach Artikel 123 (2) EPÜ eine unmittelbare und eindeutige Offenbarung in den Ausführungsbeispielen haben müsse, andernfalls würde der Fachmann die vorgenommene Kombination der Ansprüche nicht erwarten. Der Einwand der Anmelderin, dass sich die Ursprungsoffenbarung eines Anspruchs auch aus den ursprünglichen Ansprüchen ergeben könne, sei damit zurückgewiesen worden, dass die ursprünglichen Ansprüche eine Vielzahl von möglichen Kombinationen abdeckten, die der Fachmann nicht überblicken könne.

Die Beschwerdeführerin vertrat die Auffassung (unter Verweis auf T 2537/10), dass für die Beurteilung nach Artikel 123 (2) EPÜ der Neuheitstest nicht mehr relevant sei. Dies zeige sich auch darin, dass in der Version der Richtlinien zur Prüfung beim EPA des Jahres 2017 (gegenüber der Passage der Version der Richtlinien aus dem Jahr 2016 unter G-VI, 2) der Hinweis auf die Neuheitsprüfung bei der Prüfung auf unzulässige Änderungen gestrichen wurde.

3.5 Maßgeblich für die Beurteilung der Zulässigkeit von Änderungen ist nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern, ob sich die vorgeschlagenen Änderungen für den Fachmann unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig aus der Anmeldung in der eingereichten Fassung ableiten lassen ("Goldstandard"; siehe G 2/10, ABl. 2012, 376). Der Inhalt der Anmeldung umfasst dabei die Beschreibung, die Ansprüche und die Zeichnungen.

Der Inhalt einer Anmeldung kann zwar nicht als Reservoir gesehen werden, aus dem Merkmale von verschiedenen Ausführungsbeispielen beliebig kombiniert werden können, um künstlich eine bestimmte Ausführungsform zu konstruieren, die der Fachmann nicht ernsthaft in Erwägung gezogen hätte. Die Kammer kann vorliegend aber dem Hauptargument der Prüfungsabteilung (auf dessen Grundlage auch die ursprüngliche Offenbarung in den Ansprüchen verneint wurde) nicht folgen, dass der Fachmann der ursprünglichen Anmeldung kein Einrichtungssystem entnehmen würde, dass zwei Strukturelemente im Sinne von Anspruch 1 des Hauptantrags aufweist, wobei ein Strukturelement Bestandteil einer Wandstruktur ist oder durch diese gebildet wird und wobei das andere Strukturelement Teil einer Bodenstruktur ist.

3.5.1 Auch wenn die Figuren der Anmeldungsunterlagen nur Ausführungsbeispiele zeigen, die ein Strukturelement entweder als Bestandteil einer Wandstruktur (wie in den Figuren A1 bis A24 dargestellt) oder als Teil einer Bodenstruktur (wie in den Figuren B1 bis B18 oder C1 bis C12 dargestellt) umfassen, so betont der letzte Absatz der Beschreibung ausdrücklich, dass die Erfindung auch ein System umfasst, welches die im Hinblick auf Figuren A1 bis A24 beschriebenen Ausführungsbeispiele sowie auch einen Auszug oder ein Möbelelement mit Auszug gemäß einem der im Hinblick auf die Figuren B1 bis B18 beschriebenen Ausführungs­beispiele oder ein Ordnungssystem gemäß einem der im Hinblick auf die Figuren C1 bis C12 beschriebenen Ausführungsbeispiele umfasst. Dabei wird explizit die Kombination einer Wandstruktur mit einem weiteren Strukturelement angesprochen, welches horizontal ausgerichtet ist und/oder Teil einer Bodenstruktur ist.

Aufgrund dieses eindeutigen Hinweises in der Beschreibung ist das Argument der Prüfungsabteilung nicht zutreffend, dass unter Berücksichtigung der ursprünglichen Anmeldungsunterlagen eine Kombination aus Strukturelementen einer Wandstruktur und einer Bodenstruktur nicht voraussehbar wäre bzw. nicht vom Fachmann in Erwägung gezogen würde.

3.5.2 Dies wird durch die Offenbarung auf den Seiten 4 und 5 der ursprünglich eingereichten Beschreibung gestützt. Wie von der Prüfungsabteilung anerkannt, geht das in Anspruch 1 des Hauptantrags aufgenommene Merkmal "eine durch eine Mehrzahl von identischen Wellen gebildete Wellengeometrie" aus Seite 5, 4. Absatz, hervor. Dieser Passus ist aber in Zusammenhang zu sehen mit der zuvor (ab Seite 4, vorletzter Absatz) beschriebenen Ausführungsform mit zwei Strukturelementen mit sich entsprechenden Wellengeometrien, wobei diese Strukturelemente in einer Alternative vertikal (also eine Wandstruktur bildend) und horizontal (also eine Bodenstruktur bildend) ausgerichtet sein können und an denen ein Element jeweils flexibel anordenbar ist. Damit ist im Wesentlichen (zusätzlich zu den aus dem ursprünglichen Anspruch 1 stammenden Merkmalen) auch die in Anspruch 1 des Hauptantrags beanspruchte Merkmalskombination ursprünglich offenbart, also eine Kombination aus gleichartigen Strukturelementen einer Wandstruktur und einer Bodenstruktur. Dies fasst im Übrigen nochmals der vorletzten Absatz der Beschreibung zusammen, wo zu lesen ist:

"Die vorliegende Erfindung umfasst des Weiteren ein System umfassend wenigstens eine Wandstruktur gemäß einem der oben im Hinblick auf Figuren A1 bis A24 beschriebenen Ausführungsbeispiele, sowie umfassend wenigstens einen Auszug oder ein Möbelelement mit einem solchen Auszug, wie sie oben als Ausführungsbeispiele im Hinblick auf Figuren B1 bis B18 beschrieben wurden, wobei die Wellengeometrie der Wandstruktur der Wellengeometrie des Auszuges entspricht und/oder wobei die Wandstruktur und der Auszug derart ausgeführt sind, dass ein in der Wellengeometrie des Auszuges aufnehmbarer Teiler oder ein darin angeordnetes Funktionselement an der Wandstruktur fixierbar und/oder in deren Wellengeometrie aufnehmbar ist."

3.5.3 Schließlich ist die Merkmalskombination von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag nach Auffassung der Kammer auch durch die Kombination der ursprünglich eingereichten Ansprüche 1, 2, 4, 6 und 8 (ergänzt um die Offenbarung auf Seite 5, 4. Absatz) in den Anmeldungsunterlagen offenbart. Die Kammer kann nicht erkennen, dass diese Ansprüche eine Vielzahl von möglichen Kombinationen abdecken und vorliegend eine Auswahl aus zwei oder mehr Listen von äquivalenten Merkmalen getroffen wurde ("Zwei-Listen-Prinzip"), so dass die daraus resultierende Merkmalskombination "neu" bzw. nicht ursprünglich offenbart gewesen sein soll.

Ausgehend vom ursprünglich eingereichten Anspruch 1 ist Anspruch 1 gemäß Hauptantrag sukzessive eingeschränkt durch Aufnahme von Merkmalen der abhängigen Ansprüche, und zwar

- zunächst durch Aufnahme der zweiten Alternative des ursprünglichen Anspruchs 2 ("...wobei das Strukturelement ... und/oder wobei das Einrichtungselement mindestens zwei Strukturelemente aufweist ..."),

- dann der beiden ersten Varianten aus Anspruch 4, die sich auf zwei Strukturelemente und damit auf die zweite Alternative des Anspruchs 2 beziehen (im Gegensatz zur dritten Variante des Anspruchs 4, die nur von mindestens einem Strukturelement ausgeht),

- sowie des nicht-optionalen Teils von Anspruch 6 ("...wobei mindestens ein Strukturelement Teil einer Bodenstruktur ist ...")

- und des nicht-optionalen Teils von Anspruch 8 ("...mit einer Wandstruktur, welche ein Strukturelement umfasst oder bildet,..."),

- ergänzt um das der Beschreibung entnommene Merkmal von Seite 5, 4. Absatz.

In den ursprünglichen Ansprüchen 6 und 8 wird mit "vorzugsweise" jeweils ein optionaler Teil eingeleitet, der auch als abhängiger Unteranspruch formuliert werden könnte und damit kein weiteres, zur Auswahl angebotenes Merkmal einer Liste äquivalenter Merkmale darstellt. Dies gilt ebenso für die in den Ansprüchen 2 und 4 mit "vorteilhafterweise" eingeleiteten Abschnitte oder die mit "insbesondere" eingeleiteten Einschübe in den Ansprüchen.

In den ursprünglichen Ansprüchen 2 bzw. 4 werden zwar mittels "und/oder" zwei Alternativen (Anspruch 2) bzw. drei Varianten (Anspruch 4) einzeln oder in Kombination spezifiziert, womit die Anmelderin letztlich die Anzahl der anhängigen Ansprüche reduziert hat. Anspruch 2 spezifiziert zwei Alternativen bzw. unterschiedliche Schutzbereiche (Einrichtungssystem mit mindestens einem Strukturelement oder aber mit zwei Strukturelementen). Geht man von der zweiten Alternative in Anspruch 2 aus und schränkt diesen mit Merkmalen des Anspruchs 4 ein, so wird der Fachmann zwangsläufig auf eine Kombination mit einer der beiden ersten Varianten des Anspruchs 4, gestoßen, die auch von zwei Strukturelementen ausgehen, wobei die zweite Variante ("wobei mindestens ein Element an den Wellengeometrien beider Strukturelemente anordenbar ist") lediglich das entsprechende Merkmal von Anspruch 2 ("wobei das Einrichtungssystem mindestens zwei Strukturelemente aufweist, welche jeweils eine Wellengeometrie aufweisen, an welcher jeweils mindestens ein Element ... anordenbar ist") wiederholt. Es ist also keine Auswahl zwischen den beiden relevanten Varianten des Anspruchs 4 zu treffen.

Ungeachtet der Tatsache, dass der Neuheitstest bei der Prüfung auf die Zulässigkeit von Änderungen gemäß neuerer Rechtsprechung der Beschwerdekammern als wenig hilfreich angesehen wird, kann die Kammer also nicht erkennen, dass vorliegend eine "neue" bzw. eine ursprünglich nicht offenbarte Auswahl aus mehreren Listen zu treffen war. Zum einen ergibt sich die beanspruchte Merkmalskombination bereits aus den ursprünglich eingereichten Ansprüchen selbst, wie zuvor ausgeführt, spätestens aber bei zusätzlicher Berücksichtigung der Offenbarung der ursprünglich eingereichten Beschreibung, war also auch durch Hinweise in den Anmeldungsunterlagen wie ursprünglich eingereicht gestützt.

3.6 Die Kammer folgt damit nicht der Prüfungsabteilung, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags eine unzulässige Erweiterung enthalte.

Die angefochtene Entscheidung ist somit aufzuheben.

4. Zurückverweisung (Artikel 111 (1) EPÜ, Artikel 11 VOBK 2020)

4.1 Nach Artikel 111 (1) EPÜ steht es im Ermessen der Beschwerdekammer, ob sie in der Sache selbst entscheidet oder an die Instanz zurückverweist, die die angefochtene Entscheidung erlassen hat. Artikel 11 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) in der ab 1. Januar 2020 geltenden Fassung (ABl. EPA 2019, A63), die hier gemäß Artikel 25 (1) VOBK 2020 Anwendung findet, spezifiziert insoweit, dass eine Kammer eine Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Instanz zurückverweist, die die angefochtene Entscheidung erlassen hat, wenn besondere Gründe (die in der Regel bei wesentlichen Verfahrensmängeln vorliegen) dafür sprechen. Aus den Erläuterungen zu Artikel 11 VOBK 2020 (siehe dazu Zusatzpublikation 1 - ABl. 2020, 178, 187) ergibt sich, dass das Vorliegen "besonderer Gründe" für den jeweiligen Fall zu prüfen ist und in der Regel zu verneinen ist, wenn die Kammer alle relevanten Fragen mit angemessenem Aufwand entscheiden kann.

4.2 Vorliegend behandelt die angefochtene Entscheidung lediglich die unzulässige Erweiterung des Anspruchs 1 des Hauptantrags (Artikel 123 (2) EPÜ). Dieser Antrag wurde etwa einen Monat vor der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung in einer - gegenüber zuvor eingereichten Fassungen - weiter eingeschränkten Fassung eingereicht und wurde im Ladungsbescheid der Prüfungsabteilung noch nicht behandelt. Die Frage der Patentierbarkeit wurde weder in der Entscheidung abgehandelt noch in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung diskutiert. Die Beschwerdeführerin verwies in der Beschwerdebegründung bezüglich Neuheit und erfinderischer Tätigkeit lediglich auf ihren in der Akte befindlichen Vortrag.

Die Kammer stellt zudem fest, dass der beauftragte Rechercheprüfer der Anmelderin anfangs mitteilte, dass eine sinnvolle Recherche mit dem vorliegenden Anspruchssatz nicht durchzuführen sei, auch wenn danach entschieden wurde, die Recherche auf der Grundlage des ursprünglichen Anspruchssatzes durchzuführen (siehe angefochtene Entscheidung, Punkte 2 und 4). Die unzulässige Erweiterung des Anspruchs 1 des Hauptantrags im Sinne von Artikel 123 (2) EPÜ wird in der angefochtenen Entscheidung im Wesentlichen damit begründet (siehe Punkt 14), dass die beanspruchte Merkmalskombination unter Berücksichtigung der ursprünglichen Anmeldungsunterlagen nicht voraussehbar gewesen sei. Daher bestehen seitens der Kammer Bedenken, ob die Recherche der Prüfungsabteilung den nun beanspruchten Gegenstand mit umfasste, zumal die Merkmalskombination wie weiter oben ausgeführt auch ein aus der Beschreibung stammendes Merkmal enthält.

4.3 Vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen (Artikel 12 (2) VOBK 2020), ist die Kammer der Auffassung, dass die hinsichtlich der Patentierbarkeit noch zu diskutierenden Fragen nicht mit angemessenem Aufwand im Beschwerdeverfahren entschieden werden können.

Damit liegen nach Auffassung der Kammer besondere Gründe im Sinne von Artikel 11 Satz 1 VOBK 2020 vor, die Angelegenheit gemäß Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ an die Prüfungsabteilung zur weiteren Prüfung der Patentierbarkeitsvoraussetzungen zurückzuverweisen.

4.4 Zu einem solchen Vorgehen hat die Beschwerdeführerin ihre Zustimmung erklärt und für diesen Fall auch ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurückgezogen. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erübrigte sich deshalb.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Prüfung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.

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