European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2020:T269017.20200918 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 18 September 2020 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 2690/17 | ||||||||
Anmeldenummer: | 06754924.6 | ||||||||
IPC-Klasse: | B62D7/14 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | LENKVORRICHTUNG, INSBESONDERE FÜR EINE HINTERRADLENKUNG | ||||||||
Name des Anmelders: | Continental Teves AG & Co. OHG | ||||||||
Name des Einsprechenden: | ZF Friedrichshafen AG | ||||||||
Kammer: | 3.2.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Neuheit - (ja) Erfinderische Tätigkeit - (ja) |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der der Einspruch gegen das europäische Patent 1879781 zurückgewiesen worden ist.
II. In der angefochtenen Entscheidung wurden neben anderen die folgenden Dokumente zitiert:
ES1: ZF Lenksysteme GmbH, "ZF-Aktivlenkung";
ES1b: DE 103 15 704 A1;
ES3: Offenkundige Vorbenutzung der BMW AG, Zeuge und Fachliteratur;
ES6: WO92/12888 A1;
ES7: DE38 36 255 C2;
ES8: EP O 243 180 B2; und
ES9: DE 37 35 517 C2.
III. Die Einspruchsabteilung befand in ihrer Entscheidung unter anderem, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 im Hinblick auf ES1 und ES7 neu sei und auf einer erfinderischen Tätigkeit ausgehend von ES7 in Kombination mit ES1 beruhe (Artikel 56 EPÜ).
IV. Am 18. September 2020 wurde vor der Beschwerdekammer mündlich verhandelt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage des am 12. Januar 2020 eingereichten Hilfsantrags.
V. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag, d.h. wie erteilt, lautet wie folgt (Merkmalsgliederung wie in der angefochtenen Entscheidung):
a) "Lenkvorrichtung zum Einstellen eines
Radeinschlagswinkels eines Rades eines Kraftfahrzeugs, insbesondere eines,[sic]Hinterrades,
b) umfassend wenigstens ein Radführungsglied (15),
b1) über das ein Radträger (3) des Rades mit einem
Fahrzeugaufbau verbunden ist,
b2) wobei der Radträger(3)um eine im Wesentlichen parallel
zur Radebene verlaufende Drehachse schwenkbar ist und
b3) das Radführungsglied (15) beabstandet von der Drehachse
an dem Radträger (3) angelenkt ist, und
b4) wobei das Radführungsglied (15) mittels einer
Antriebseinheit (53) in seiner Länge verstellbar ist,
dadurch gekennzeichnet, dass
c) die Antriebseinheit eine Blockiereinrichtung aufweist,
c1) bei der wenigstens ein Magnetstößel (101) durch ein
Ausschalten eines Elektromagneten (102) formschlüssig in eine Aufnahme (100) einer Mutter (68) oder eines Kupplungselements (67) einführbar ist,
c2) wodurch die Antriebseinheit (53) blockierbar ist."
Entscheidungsgründe
1. Neuheit - Artikel 54 EPÜ
Die Beschwerdeführerin trägt vor, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gegenüber ES1 nicht neu sei. Die Parteien streiten darüber, ob die Merkmale b4 und c1 des erteilten Anspruchs 1 in der in ES1 gezeigten Lenkvorrichtung offenbart sind.
1.1 Die Beschwerdeführerin argumentiert zu Merkmal b4, dass bei der ES1 eine Längenänderung vorliegen müsse, da auch da eindeutig eine Veränderung des Radeinschlagwinkels bewirkt werde. Wesentlich sei dabei, dass die wirksame Länge geändert werde, sodass eine Verstellung eines Radeinschlagwinkels erreicht werde. Das Radführungsglied gemäß Anspruch 1 sei in ES1 die halbe Zahnstage 1 zusammen mit dem Antriebsritzel.
Die Kammer folgt diesbezüglich der Ansicht der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung (siehe Seite 16 der angefochtenen Entscheidung). Unter einem in seiner Länge verstellbaren Glied ist ein Bauteil zu verstehen, dessen Gesamterstreckung in Längsrichtung veränderbar ist, das also seine Gesamtlänge ändern kann. Um eine Winkelverstellung des Rades zu bewirken ist es unstrittig, dass die Distanz zwischen dem Lenkungspunkt des Radträgers und einem in Fahrzeug feststehenden Punkt durch ein Betätigungselement verstellbar sein muss. Sonst wäre eine Lenkung nicht möglich. In der Lenkung von ES1 wird dies aber anders gelöst, indem die Zahnstage in einem Gehäuse verschoben wird und jedes ihrer Enden an dem Radträger eines lenkbaren Rades angelenkt ist. Somit werden gleichzeitig zwei Räder gelenkt und zwar durch eine Stange mit gleichbleibender Gesamterstreckung, die hin- und herbewegt wird. Demgegenüber ist in ES1 kein Bauteil oder Glied vorhanden, dessen Gesamtlänge veränderbar wäre, das also als Ganzes gesehen in seiner Länge verstellbar ist. Dies wird jedoch vom Anspruchs 1 verlangt, da der Radträger mit dem Fahrzeugaufbau über das Radführungsglied verbunden ist und das Glied in seiner Länge verstellbar ist. Die Beschwerdeführerin versucht, Teile der in ES1 offenbarten Bauteile als das Radführungsglied zu bezeichnen. Jedoch geht aus dem Anspruchswortlaut eindeutig hervor, dass ein Bauteil, nämlich das Radführungsglied, als Ganzes und nicht nur der die Auslegung bewirkende Teil davon, in seiner Länge veränderbar ist. Die Beschwerdegegnerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass bei einer Betrachtung, die nur die "wirksamen Länge" der Zahnstange als Radführungsglied ansehe, dieses nicht strukturell eindeutig festgelegt sei und vielmehr je nach Ein- oder Auslenkung ständig an Substanz gewinne oder verliere, was dem Wesen eines Bauteils zuwiderlaufe.
1.2 Hinsichtlich Merkmal c1 trägt die Beschwerdeführerin vor, dass die in der Figur auf Seite 6 von ES1 gezeigte elektromechanische Sperre 7 des redundant aufgebauten Sicherheitssystems der Aktivlenkung implizit eine Blockiereinrichtung gemäß Merkmal c1 offenbare. Es sei für den Fachmann aus der Offenbarung von ES1, insbesondere aus den Seiten 4, 6 und 7, die einzige sinnvolle Möglichkeit. Auf der Seite 6 sei die elektromechanische Sperre 7 in aufgeschnittener Darstellung gezeigt; sie bestehe aus einem Gehäuse mit einem Elektromagneten, welche des Weiteren sowohl eine Feder als auch ein Bauteil in Form eines Stiftes umfasse. Feder und Stift seien linear hintereinander angeordnet. Gemäß der Darstellung sei die Antriebseinheit blockiert, da die elektromechanische Sperre 7 mit der Schnecke 4 formschlüssig zusammenwirke. Dieser Zustand könne nur dann vorhanden sein, wenn der Elektromagnet der elektromechanischen Sperre 7 ausgeschaltet sei und es sodann zu einer Blockierung mittels Formschluss komme, da aus der Darstellung eindeutig zu entnehmen sei, dass es sich bei der spiralförmigen Feder um eine Druckfeder handele. Weiterhin sei es offensichtlich, dass eine elektromechanische Sperre mit einem strombetriebenen Elektromagneten und einem federbetriebenen Stift derart ausgebildet sei, dass dieser im unbestromten Zustand - also bei Ausfall der Stromversorgung - mechanisch durch die Feder eine Sperrwirkung bewirke (so genannte "fail-safe" Systeme).
Der Fachmann würde keine andere mögliche Ausführung der elektromechanische Sperre 7 aus ES1 in Betracht ziehen, wie z.B. ein Spindel-Motor Anordnung oder eine piezoelektrische Betätigung der Sperre, da diese nachteilig für die auszuübende Funktion seien.
Nach etablierte Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist der Maßstab für die Beurteilung der Frage, ob ein Merkmal in einem Dokument offenbart wird, der Offenbarungstest, von der Großen Beschwerdekammer selbst auch als 'Goldstandard' Test bezeichnet (siehe G 2/10, letzter Absatz von Punkt 4.3 und Punkt 4.6 der Entscheidungsgründe), nämlich ob der Fachmann unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens das Merkmal als - explizit oder implizit - unmittelbar und eindeutig in dem Dokument offenbart ansieht. Mit anderen Worten ist im vorliegenden Fall zu fragen, ob der Fachmann es als die einzige Möglichkeit ansieht, die elektromechanische Sperre 7 so auszuführen, wie dies im Merkmal c1 des erteilten Anspruchs 1 definiert ist.
Die Kammer ist nicht überzeugt und folgt der Ansicht der Beschwerdegegnerin, wonach die Beschwerdeführerin zuviel aus der Offenbarung von ES1 mitliest. Die Argumentationslinie der Beschwerdeführerin wäre im Rahmen einer Diskussion der erfinderischen Tätigkeit passend, nicht aber bei der Frage der Neuheit. Implizit offenbart ist nach dem oben dargelegten Neuheitsbegriff eine Ausführungsform nicht bereits, wenn sie die wahrscheinlichste von mehreren möglichen ist, sondern erst, wenn sie die einzig anzunehmende Möglichkeit der Ausführung darstellt. Es mag sein, dass die sinnvollste oder vernünftigste Ausführung der in ES1 nicht weiter konkretisierte elektromechanischen Sperre, die der Fachmann heranziehen würde, diejenige ist, die die Beschwerdeführerin vorträgt. Jedoch muss eine "elektromechanische Sperre" nicht zwingend eine elektromagnetische Betätigung aufweisen. Auch ein Verfahren der Sperre durch einen Spindelmotor oder eine piezoelektrische Auslösung sind denkbar und würden unter den verwendeten Begriff fallen. Zudem kann der Fachmann aus der ES1 nicht unmittelbar und eindeutig entnehmen, ob die Sperre als "fail-safe" ausgeführt ist, da in ES1 nicht offenbart wird, wie die Sperre konkret funktioniert. Die Verwendung einer Druckfeder ist zum einen nicht eindeutig erkennbar und würde zum anderen auch nicht auf eine allein elektromagnetisch mögliche Verriegelung schließen lassen. Dass der Fachmann eine derartige Konfiguration bevorzugen würde, bedeutet wie oben ausgeführt nicht, dass diese die einzige Möglichkeit innerhalb der Offenbarung von ES1 darstellt.
1.3 Folglich offenbart ES1 explizit oder implizit weder Merkmal b4 noch Merkmal c1 des erteilten Anspruchs 1 und somit ist sein Gegenstand gegenüber ES1 neu (Artikel 54 EPÜ).
2. Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
2.1 Die Beschwerdeführerin trägt vor, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 im Hinblick auf ES7 unter Berücksichtigung des Fachwissens nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Ausgehend von der Lenkvorrichtung von ES7 sei der einzige Unterschied des Gegenstand des Anspruchs 1, dass der Magnetstößel nicht in eine Aufnahme der Mutter oder eines Kupplungselements einführbar sei. Gemäß dem Ausführungsbeispiel der Figur 2 von ES7 sei die Kupplungsscheibe 31 in die Aufnahmen der Stirnwand 11 des Gehäuses 10 einführbar. Dabei sei die Kupplungsscheibe 31 mit dem beanspruchten Magnetstößel gleichzusetzen, da an keiner Stelle des Streitpatents eine etwaige Ausgestaltung des Magnetstößels (Form, Länge, Durchmesser) offenbart sei. Der gesamten Offenbarung des Streitpatents sei lediglich zu entnehmen (siehe Absatz 70), dass ein oder mehrere Magnetstößel verwendet würden, welche jeweils einen Formschluss mit dem Kupplungselement zur Blockierung des Antriebs bewirkten. Es gebe keine allgemeingültige Definition eines Magnetstößels und auch keine anerkannte Übung, wie ein Magnetstößel laut einem Fachbuch oder dem sonstigen Stand der Technik zu Lenkungen eindeutig ausgebildet sein solle. Der eindeutige Sinn des Magnetstößels gemäß Streitpatent sei lediglich der Formschluss mit der Aufnahme zur Blockierung des Antriebs, nachdem der Magnetstößel in die Aufnahme eingeführt würde. Es könne daher nur festgestellt werden, dass im Zusammenhang mit Lenkvorrichtungen und deren Blockierung ein ,,Magnetstößel" kein eindeutiger Fachbegriff aus dem einschlägigen Stand der Technik sei. Eine konkrete Ausbildung oder Definition sei der Beschreibung nirgends zu entnehmen. Damit stehe dem Merkmal ,,Magnetstößel" eine größere Bandbreite an Dokumenten aus dem Stand der Technik entgegen.
2.2 Diese Argumentation überzeugt nicht. Die Ansicht der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung wird von der Kammer geteilt. In dem Dokument ES7, insbesondere in den Figuren 2 und 3, ist kein Magnetstößel zu erkennen. Es ist abwegig, die Kupplungsscheibe 31 als Magnetstößel zu bezeichnen, da der Begriff Stößel allgemein eine anerkannte Bedeutung hat, nämlich ein stabähnliches oder zylinderartiges Bauteil zur Ausführung von stoßartigen Bewegungen. Weder die Kupplungsscheibe 31 noch einer ihrer Zähne fallen unter diese Definition.
Folglich verfängt die Angriffslinie der Beschwerdeführerin betreffend die angeblich mangelnde erfinderische Tätigkeit nicht und der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 ist für den Fachmann ausgehend von ES7 nicht nahegelegt, da die Beschwerdeführerin von einer anderen Auslegung des Begriffs "Magnetstößel" ausgeht und somit von einem unzutreffenden Unterschied des Gegenstands des erteilten Anspruch 1 gegenüber der Lenkvorrichtung aus ES7.
Die Beschwerdeführerin teilte die Auffassung, dass auf dieser Grundlage auch eine Kombination von ES7 mit ES1 den Gegenstand der Erfindung nicht nahelegen könnte.
2.3 Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 beruht daher auf einer erfinderischen Tätigkeit ausgehend von ES7 in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen oder ES7 in Verbindung mit ES1 (Artikel 56 EPÜ).
3. Verfahrensmangel
3.1 Die Beschwerdeführerin rügt auf Seite 7 der Beschwerdebegründung den angeblichen Verfahrensmangel, dass sie zu den Dokumenten ES1b sowie ES3 und ES6 bis ES9 in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung nicht habe vortragen können. In der Einspruchsverhandlung sei ihr die Frage gestellt worden, ob sie ,,noch weitere Einwände hätte". Der Vorsitzende habe anschließend darauf hingewiesen, dass über die erfinderische Tätigkeit und die Zulässigkeit beraten werde. Da zu diesem Zeitpunkt außer zur ES1 und ES7 zu weiteren Dokumenten nicht vorgetragen worden war, sei es für die Einsprechende nicht ersichtlich gewesen, dass sie nach der Entscheidung zur ES1 und ES7 nicht mehr zu weiteren Beweisen bzw. Dokumenten würde vortragen können. Insofern sei die Einsprechende beschwert, da in der Einspruchsverhandlung keine Gelegenheit gegeben worden sei, zu den oben genannten Dokumenten vorzutragen.
3.2 Die Kammer kann jedoch einen Verfahrensmangel der Einspruchsabteilung während der mündliche Verhandlung nicht erkennen. Gemäß der Niederschrift über die mündliche Verhandlung hat die Beschwerdeführerin die Fragen des Vorsitzenden nach dem Bestehen weiterer Einwände betreffend die Neuheit (siehe Seite 8 des Protokolls) und die erfinderische Tätigkeit (siehe Seite 10 des Protokolls) jeweils verneint. Für die Kammer ist es unmittelbar und eindeutig aus der Niederschrift zu entnehmen, dass die Einsprechende während der mündlichen Verhandlung die Möglichkeit hatte, sämtliche Angriffe vorzutragen und zu diskutieren. Offenbar entschied sie sich jedoch, keine weitere Angriffe zu präsentieren. Da die Beschwerdeführerin nach Erhalt des Protokolls auch keinen Antrag auf dessen Berichtigung gestellt hat, muss die Kammer von der Richtigkeit des Protokolls ausgehen.
4. Infolgedessen ist die Beschwerde unbegründet und daher zurückzuweisen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.