T 2272/17 (Prozessverfolgung bei Versuchstieren/HAMMELBACHER) of 20.1.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T227217.20210120
Datum der Entscheidung: 20 Januar 2021
Aktenzeichen: T 2272/17
Anmeldenummer: 11718261.8
IPC-Klasse: G05B19/042
A01K11/00
H01Q1/22
G06F19/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren, Computerprogrammprodukt und Wechselstation zur Prozessverfolgung
Name des Anmelders: Hammelbacher, Stephan
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.5.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
RPBA2020 Art 013(1) (2020)
RPBA2020 Art 013(2) (2020)
European Patent Convention Art 56 (2007)
Schlagwörter: Zulassung eines in der mündlichen Verhandlung eingereichten Anspruchssatzes - Hauptantrag (nein): "Forum-Shopping" und keine eindeutige Gewährbarkeit
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0675/13
T 2508/13
T 2017/14
T 0989/15
T 0752/16
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde des Beschwerdeführers (Anmelders) richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die Patentanmeldung zurückzuweisen. Die Prüfungsabteilung war der Auffassung, dass die Patentanmeldung die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ nicht erfüllt.

II. In der Mitteilung der Kammer nach Artikel 15(1) VOBK 2020 wurde der Beschwerdeführer über die vorläufige Ansicht der Kammer informiert, dass Anspruch 1 des mit der Beschwerdebegründung eingereichten Haupt- und Hilfsantrags zwar das Erfordernis des Artikels 123(2) EPÜ erfüllt, jedoch dessen Gegenstand hinsichtlich des Dokuments D1 (WO 2005/083614 A2) nicht neu ist (Artikel 54 EPÜ).

III. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 20. Januar 2021 statt.

Der Beschwerdeführer beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf der Grundlage der Ansprüche eines in der Verhandlung eingereichten neuen Hauptantrags zu erteilen. Alle früher geltenden Anspruchssätze wurden dabei zurückgezogen.

Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.

IV. Anspruch 1 des neuen Hauptantrags lautet:

"Verfahren zur Prozessverfolgung von Vorgängen

und/oder Leistungen in der Genforschung, in der Tierforschung und in der Pflanzenzucht, die wenigstens ein Objekt (F; M; 3a; 3b; 3c;) betreffen, bei dem ein Lesegerät (7; 8; 9) einen dem Objekt (F; M; 3a; 3b; 3c) zugeordneten Datenträger (11; 12; 13) mit Daten erfasst, die das Objekt (F; M; 3a; 3b; 3c) und/oder dessen Eigenschaften beschreiben, mit den folgenden Schritten:

a) Identifizieren des Objekts (F; M; 3a; 3b; 3c) durch Erfassen der Daten des Datenträgers (11; 12; 13) durch das Lesegerät (7; 8; 9),

b) Erfassen eines Vorgangs oder einer Leistung

und/oder der durch den Vorgang oder die Leistung gewonnenen Daten des Objekts (F; M; 3a; 3b; 3c)

und/oder seiner Eigenschaften,

dadurch gekennzeichnet, dass nach der Identifikation des Objekts (F; M; 3a; 3b; 3c) in Schritt a) in einem anschließenden Schritt ai) eine Auswahl von Vorgängen und/oder Leistungen aus einer Mehrzahl von Vorgängen und/oder Leistungen in Abhängigkeit der in Schritt a) erfassten Daten automatisch getroffen wird, die in einem Schritt aii) zur Durchführung im Schritt b) angeboten werden."

Entscheidungsgründe

1. Hintergrund der Erfindung

Die Anmeldung betrifft die Prozessverfolgung für Patienten, Versuchstiere (F, M), Mikro-Organismen oder Sämlinge - in der Anmeldung allesamt "Objekte" genannt - bei deren Verlegung im Krankenhaus oder Labor (siehe Fig. 1 unten). Insbesondere soll hierbei die Prozessverfolgung von an einem "Objekt" durchgeführten Vorgängen und erbrachten Leistungen durch die Automatisierung mittels eines Computersystems (2) vereinfacht werden, das nach Identifikation eines Objekts eine automatische Auswahl an möglichen durchführbaren Vorgängen und zu erbringenden Leistungen durchführt und anschließend einer Bedienperson anzeigt.

Zum Identifizieren des Objekts können Datenträger wie z.B. Barcodes oder Etikette (14) verwendet werden, die am Behälter (3a, 3b, 3c) des betreffenden Objekts angebracht werden. Die für die automatische Auswahl erforderliche Verknüpfung zwischen der Identität des Objekts und dessen Eigenschaften ist in einer Datenbank hinterlegt. "Vorgänge", die typischerweise in der Prozessverfolgung eine Rolle spielen, umfassen Veränderungen der Eigenschaften des Objekts, wie z.B. Erkrankungen oder Geburtsvorgänge, während typische "Leistungen" medizinische Untersuchungen des Objekts sein können.

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

2. Hauptantrag - Zulassung in das Verfahren

2.1 Im vorliegenden Fall wurde der Hauptantrag während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereicht, d.h. nach der Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung. Seine Zulassung in das Beschwerdeverfahren unterliegt daher Artikel 13(2) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern 2020 (VOBK 2020), welche zum 1. Januar 2020 in Kraft trat (siehe Artikel 24 und 25 VOBK 2020).

2.2 Gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass "außergewöhnliche Umstände" vorliegen. Bei der Anwendung von Artikel 13(2) VOBK 2020 können wiederum die Kriterien von Artikel 13(1) VOBK 2020 herangezogen werden (siehe z.B. T 989/15, Gründe 16.2; T 752/16, Gründe 3). Eines dieser Kriterien bezieht sich im Falle von Änderungen der Patentanmeldung auf die Prüfung, ob die Änderungen bereits aufgeworfene Fragen ausräumen und hierbei keinen Anlass zu neuen Einwänden geben, d.h. ob die geänderte Anmeldung eindeutig (prima facie) gewährbar ist.

2.3 Anspruch 1 des Hauptantrags umfasst folgende einschränkenden Merkmale (Merkmalsgliederung der Kammer mit Hervorhebungen der Änderungen in Bezug auf den der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hauptantrag):

A. Verfahren zur Prozessverfolgung von Vorgängen

und/oder Leistungen in der Genforschung, in der Tierforschung und in der Pflanzenzucht, die wenigstens ein Objekt betreffen, bei dem ein Lesegerät einen dem Objekt zugeordneten Datenträger[deleted: , der Daten enthält, die das Objekt beschreiben,] mit Daten erfasst, die das Objekt

und/oder dessen Eigenschaften beschreiben, mit den folgenden Schritten:

a) Identifizieren des Objekts durch Erfassen der Daten des Datenträgers durch das Lesegerät,

b) Erfassen eines Vorgangs [deleted: und/]oder einer Leistung [deleted: durch Erfassen] und/oder der durch den Vorgang oder die Leistung gewonnenen Daten des Objekts und/oder seiner Eigenschaften,

B. wobei nach der Identifikation des Objekts in Schritt a) in einem anschließenden Schritt ai) [deleted: automatisch] eine Auswahl von Vorgängen und/oder Leistungen aus einer Mehrzahl von Vorgängen

und/oder Leistungen in Abhängigkeit der in Schritt a) erfassten Daten automatisch getroffen wird, die in einem Schritt aii) zur Durchführung [deleted: vor] im Schritt b) angeboten werden.

2.4 Bezüglich der prozeduralen Aspekte des vorliegenden Falls stellt die Kammer fest, dass der neue Hauptantrag kurz vor Ende der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereicht wurde - nachdem im gesamten Beschwerdeverfahren insgesamt fünf geänderte Anspruchssätze eingereicht und wieder zurückgenommen wurden. Der Beschwerdeführer argumentierte dazu, dass dieser Antrag als eine Reaktion auf die von der Kammer aufgeworfenen Fragen und erhobenen Einwände zu betrachten sei.

Dies sind jedoch keine "stichhaltigen Gründe" für das Vorliegen von "außergewöhnlichen Umständen" im Sinne von Artikel 13(2) VOBK 2020:

- Der Zurückweisungsgrund der unzulässigen Erweiterung bei den der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Anspruchssätzen (Haupt- und Hilfsantrag) wurde durch die erstmals mit der Beschwerdebegründung eingereichten, geänderten Anspruchssätze (damaliger Haupt- und Hilfsantrag) nach Ansicht der Kammer ausgeräumt (vgl. Ladungsmitteilung nach Artikel 15(1) VOBK 2020, Punkt 5).

- Zu diesen neuen Anspruchssätzen hat die Kammer eine ausführliche Neuheitsanalyse in Bezug auf den Stand der Technik D1 vorgenommen (vgl. Ladungsmitteilung, Punkte 5.1 bis 5.3).

- Daraufhin hat der Beschwerdeführer wiederum drei neue Anspruchssätze (neue Haupt- bzw. Hilfsanträge 1 und 2) als Antwort auf diese Ladungsmitteilung der Kammer eingereicht, um angeblich klarzustellen, dass die Auswahl gemäß Merkmal B "ausschließlich" in Abhängigkeit der erfassten Identifikationsdaten getroffen werden soll.

- Diese "Klarstellung" wurde jedoch von der Kammer als neuerliche unzulässige Erweiterung (Artikel 123(2) EPÜ) angesehen und dies auch in der mündlichen Verhandlung dem Beschwerdeführer unmissverständlich mitgeteilt.

- Daraufhin hat der Beschwerdeführer den in diesem Verfahren nun alleine vorliegenden neuen Hauptantrag - mit der Streichung von "ausschließlich" aus Merkmal B und der in Merkmal A vorgenommenen Aufnahme des Ausdrucks "in der Genforschung, in der Tierforschung und in der Pflanzenzucht" beim mit der Ladungserwiderung eingereichten Hilfsantrag 1 - eingereicht.

Eine solche Vorgehensweise kann nicht mit dem Verweis auf "außergewöhnliche Umstände" gerechtfertigt werden, sondern stellt einen typischen Fall eines sog.

"Forum-Shoppings" dar (siehe z.B. T 675/13, Gründe 2.3; T 2508/13, Gründe 3; T 2017/14, Gründe 3.3). Dies widerspricht eindeutig dem vorrangigen Ziel des Beschwerdeverfahrens gemäß Artikel 12(2) VOBK 2020, die angefochtene Entscheidung (mit dem Resultat der Zurückweisung der Patentanmeldung nach Artikel 123(2) EPÜ) gerichtlich zu überprüfen. Alleine deshalb wäre der verspätete Hauptantrag nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.

2.5 Bezüglich der sachlichen Aspekte des vorliegenden Falls bemerkt die Kammer, dass bereits mit der Ladungsmitteilung vollumfänglich dargelegt wurde, dass Dokument D1 die Verfahrensschritte a) bzw. ai), aii) und b) von Merkmal B nach Auffassung der Kammer eindeutig offenbart (vgl. Ladungsmitteilung, Punkt 5.2; siehe D1, insbesondere Seite 10, Zeile 23 bis Seite 11, Zeile 9; Seite 13, Zeile 25 bis Seite 14, Zeile 27; Seite 15, Zeilen 4-19).

Selbst wenn dem nicht so wäre, kann die Kammer auch arguendo in der gemäß den obigen Verfahrensschritten erfolgenden Bereitstellung von nicht-technischen Informationen (Daten zum "Vorgang" wie z.B. Käfigverlegungs- bzw. Verpaarungsdaten oder zur "Leistung" wie z.B. medizinische Untersuchungen; vgl. ursprüngliche Beschreibung, Seite 2, Zeilen 1 bis 15) über Versuchstiere (d.h. nicht-technische Objekte) für einen Bediener eines Terminals keine synergetische technische Wirkung erkennen, die eine erfinderische Tätigkeit begründen könnte (Artikel 56 EPÜ). Zumal diese Art der Datenbereitstellung einer primär von subjektiven Anforderungen abhängigen, automatisierten Darstellung von Informationen ("angeboten werden" in Merkmal B) entspricht, die lediglich der - nicht näher beschriebenen und wie auch immer gearteten - "Erfassung" dieser Informationen dient. Diese Einschätzung ist auch unabhängig davon, ob es sich bei einem solchen Verfahren - wie von dem Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung ins Feld geführt - um ein "retrospektives, prozedurales" oder um ein "prospektives, deklaratives" Verfahren handelt.

Bezüglich dem neuen Merkmal A wird von der Kammer prima facie eingeräumt, dass die Verwendung des anspruchsgemäßen Verfahrens in der Genforschung, in der Tierforschung bzw. in der Pflanzenzucht nicht eindeutig und unmittelbar in D1 offenbart zu sein scheint. Nichtsdestotrotz wäre es für einen Programmierer oder Software-Ingenieur beim Studium von D1 ohne Weiteres klar, dass das in D1 gezeigte Verfahren nicht nur für Menschen, sondern ebenfalls für andere Primaten wie z.B. Schimpansen verwendet (z.B. durch Ersatz der in D1 benutzten "Patienten-Datenbank" durch eine

"Schimpansen-Datenbank") und somit in unterschiedlichen Bereichen der Forschung und Entwicklung eingesetzt werden kann. Je nach praktischer Situation würde die Fachperson somit das Verfahren auch in diesen Bereichen einsetzen ohne erfinderisch tätig werden zu müssen. Demnach ist der neue Hauptantrag auch nicht nach Artikel 56 EPÜ eindeutig gewährbar.

2.6 Aus dem Obigen kann nur folgen, dass der neue Hauptantrag nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen werden kann (Artikel 13(2) VOBK 2020).

3. Da somit die vorliegende Anmeldung, entgegen dem Erfordernis von Artikel 78 (1) c) EPÜ, keinen einzigen im Verfahren befindlichen Patentanspruch enthält, ist auch die Beschwerde zurückzuweisen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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