T 2072/17 () of 10.7.2020

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2020:T207217.20200710
Datum der Entscheidung: 10 Juli 2020
Aktenzeichen: T 2072/17
Anmeldenummer: 12182635.8
IPC-Klasse: F03D11/00
G01N25/72
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren und Vorrichtung zur thermischen Überprüfung des Bauzustandes von Windkraftanlagen
Name des Anmelders: Rolawind GmbH
Name des Einsprechenden: Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der
angewandten Forschung e.V.
Kammer: 3.2.04
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 84 (2007)
European Patent Convention Art 123(2) (2007)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13 (2007)
Schlagwörter: Patentansprüche - Klarheit nach Änderung (ja)
Änderungen - unzulässige Erweiterung (nein)
Spät eingereichter Antrag - Änderungen nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 18. Juli 2017, das Patent zu widerrufen.

In dieser stellte die Einspruchsabteilung u.a. fest, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Haupt- und Hilfsantrag nicht so deutlich offenbart sei, dass er ausführbar wäre (Artikel 123(2), Artikel 101(3)b) EPÜ).

II. In einer Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK 2007 äußerte die Kammer die vorläufige Ansicht, dass

- der Gegenstand des Anspruchs 1 des mit Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrags (der Einspruchsentscheidung zugrunde liegender Hilfsantrag) unzulässig erweitert und nicht ausführbar sei, Artikel 123(2), 83 EPÜ;

- Anspruch 1 des mit Beschwerdebegründung eingereichten "neuen" Hilfsantrags 1 nicht klar und dessen Gegenstand ebenfalls unzulässig erweitert sei, Artikel 84, 123(2) EPÜ, jedoch auf erfinderischer Tätigkeit beruhe, Artikel 56 EPÜ.

III. Mit Schreiben vom 5. Juni 2020 reichte die Beschwerdeführerin-Patentinhaberin einen zweiten Hilfsantrag ein.

IV. Am 10. Juli 2020 fand eine mündliche Verhandlung in Anwesenheit beider Parteien statt.

V. Die Beschwerdeführerin-Patentinhaberin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des Hilfsantrages 2, eingereicht mit Schreiben vom 5. Juni 2020, sowie der mit diesem Anspruchssatz eingereichten Beschreibung Seiten 2 - 5.

Die Beschwerdegegnerin-Einsprechende beantragt die Zurückweisung der Beschwerde und Nichtzulassung des Hilfsantrages 2 in das Verfahren.

VI. Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 hat folgenden Wortlaut:

"Verfahren zur Überprüfung des baulichen Zustands von Windkraftanlagen in Form von mehrere Rotorblätter (4) aufweisenden Windrädern (1) während des üblichen Betriebs, wobei die Windkraftanlagen von einer oder mehreren an und/oder in einem mobilen Standort installierten thermografischen Aufnahmeeinrichtungen (6) erfasst und die dabei ermittelten Messwerte unter Berücksichtigung der durch den Betrieb der Rotorblätter (4) zum Zeitpunkt der Messung bedingten thermischen Beanspruchungen in Hinblick auf etwaige Beschädigungen ausgewertet werden, dadurch gekennzeichnet, dass thermische Beanspruchungen der Rotorblätter (4) durch die Reibung mit der Luft bei der Rotation während des Betriebs der Rotorblätter (4) berücksichtigt werden, die die Rotorblätter (4) über ihre Konturen verteilt unterschiedlich erwärmen als Folge der Luftströmung an der Vorderkante, auf der Blattfläche und in Richtung der hinteren Kante, wobei thermische Beanspruchungen getrennt nach Segmenten des Rotorblattes (4) berücksichtigt werden und in Querachsenrichtung eines Rotorblattes (4) zumindest die Segmente vordere Kante (24), Blattfläche (25) und hintere Kante (26) berücksichtigt werden und eine durch diese thermischen Beanspruchungen bewirkte Temperaturaufnahme des Rotorblattes (4) im Betrieb bei der Ausgabe der endgültigen Messdaten herausgerechnet wird".

VII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin-Patentinhaberin lässt sich wie folgt zusammenfassen:

In Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 seien sämtlichen Bedenken der Kammer hinsichtlich Klarheit und ursprünglicher Offenbarung des Hilfsantrags 1 Rechnung getragen worden, und die entsprechenden Erfordernisse der Artikel 84 und 123(2) EPÜ mithin erfüllt. Hilfsantrag 2 sei deshalb prima facie gewährbar.

Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin-Einsprechenden lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Hilfsantrag 2 sei verspätet eingereicht und nicht offensichtlich gewährbar, denn sein Anspruch 1 sei nicht klar und dessen Gegenstand nicht ursprünglich offenbart. Deshalb sei Hilfsantrag 2 nicht zum Verfahren zuzulassen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zur Überprüfung des baulichen Zustandes von Windrädern, insbesondere von deren Rotorblättern, mittels Thermografie. Auf thermografischen Aufnahmen lassen sich strukturelle Inhomogenitäten, also Schäden und Reparaturstellen erkennen. Allerdings können äußere Einflüsse, die zu einer ungleichmäßigen Erwärmung von Rotorblattbereichen führen, die thermografische Messung beeinträchtigen.

Zu solchen Überlagerungen oder "thermischen Beanspruchungen" gehören z.B. Faktoren wie Umgebungstemperatur sowie Witterung oder Sonnenstand, die bei thermografischen Aufnahmen üblicherweise abgeglichen werden.

Erfindungsgemäß wird bei einem solchen Abgleich die bei Rotation der Rotorblätter auftretende Erwärmung durch Luftreibung berücksichtigt, indem die thermografischen Messergebnisse in mindestens drei Segmenten eines Rotorblattes in Querachsenrichtung - vordere Kante, Blattfläche, hintere Kante - getrennt voneinander behandelt, also von solchen reibungsinduzierten thermischen Beanspruchungen "bereinigt" werden.

3. Zulassung des Hilfsantrags 2 zum Verfahren

3.1 Hilfsantrag 2 wurde nach Einreichung der Beschwerdebegründung und nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung gestellt. Seine Zulassung zum Verfahren liegt demnach im Ermessen der Kammer nach Artikel 13(1), (3) VOBK 2007.

3.2 Hilfsantrag 2 wurde als Reaktion auf die in der Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK 2007 erhobenen Bedenken der Kammer gegenüber Hilfsantrag 1 hinsichtlich unzulässiger Erweiterung und mangelnder Klarheit eingereicht. Dieser Hilfsantrag 1 war im parallelen Verfahren vor dem deutschen Bundespatentgereicht als gewährbar erachtet worden.

Hilfsantrag 2 räumt alle Bedenken mit jeweils nur den dafür nötigen Änderungen aus und wirft keine neuen Probleme auf, siehe nachfolgende Begründung. Er enthält bereits angepasste Beschreibungsunterlagen und ist der einzige Antrag der Beschwerdeführerin-Patentinhaberin. Die Kammer sieht diesen Antrag daher als eine angemessene, geeignete, zielführende und zeitnahe Antwort auf die von der Kammer in ihrer vorläufigen Auffassung geltend gemachten Bedenken an, die von dem erkennbaren Willen getragen ist, diesen Bedenken Rechnung zu tragen.

3.3 Eine Zulassung des Hilfsantrags erhöht also weder die Komplexität des Verfahrens, noch ist sie der Verfahrensökonomie abträglich - ganz im Gegenteil. Sie macht insbesondere keine Verlegung der mündlichen Verhandlung erforderlich. Eine solche wurde von der Beschwerdegegnerin-Einsprechenden auch nicht für den Fall einer Zulassung beantragt.

Folglich lässt die Kammer Hilfsantrag 2 in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13(1), (3) VOBK 2007 zum Verfahren zu.

4. Unzulässige Erweiterung

4.1 Anspruch 1 beruht auf einer Kombination der ursprünglichen Ansprüche 1, 4, 6 und 7, wobei die Merkmale der ursprünglichen Ansprüche 1, 4, 6 und 7 durch folgende, mit ihnen in Zusammenhang stehende Merkmale der ursprünglichen Beschreibung ergänzt wurden (in kursiv):

- Verfahren zur Überprüfung des baulichen Zustands von Windkraftanlagen in Form von mehrere Rotorblätter (4) aufweisenden Windrädern (1) (ursprünglicher Anspruch 1) während des üblichen Betriebs (Absatz [0006], Zeile 14 der Offenlegungsschrift, Alternative des ursprünglichen Anspruchs 10)

- thermische Beanspruchungen der Rotorblätter (4) durch die Reibung mit der Luft bei der Rotation (Absatz [0006], Zeilen 17 - 19 der Offenlegungsschrift) während des Betriebs der Rotorblätter (4) (ursprünglicher Anspruch 4), die die Rotorblätter (4) über ihre Konturen verteilt unterschiedlich erwärmen (Absatz [0003], Spalte 1, Zeile 55 - Spalte 2, Zeile 1 der Offenlegungsschrift) als Folge der Luftströmung an der Vorderkante, auf der Blattfläche und in Richtung der hinteren Kante (Absatz [0012], Zeilen 44 - 55 der Offenlegungsschrift)

- in Querachsenrichtung eines Rotorblattes (4) (Absatz [0012], Zeilen 42/43 der Offenlegungsschrift) zumindest die Segmente vordere Kante (24), Blattfläche (25) und hintere Kante (26) berücksichtigt werden (ursprünglicher Anspruch 7)

- eine durch diese thermischen Beanspruchungen bewirkte Temperaturaufnahme des Rotorblattes (4) im Betrieb bei der Ausgabe der endgültigen Messdaten herausgerechnet wird (Absatz [0012], Zeilen 55 - 58 der Offenlegungsschrift).

4.2 Nach Ansicht der Beschwerdegegnerin-Einsprechende ist der Gegenstand des Anspruchs 1 dadurch unzulässig erweitert - nämlich zwischenverallgemeinert - worden, dass der Ausdruck "standardisierte[n] Daten" aus Zeile 55 des Absatzes [0012] der Offenlegungsschrift nicht in Anspruch 1 aufgenommen worden ist.

4.3 Zunächst ist festzustellen, dass der Begriff "Daten" im Zusammenhang des Absatzes [0012] etwas missverständlich verwendet wird. "Diese standardisierten Daten" in Zeile 55 bezieht sich nämlich auf einen zuvor in den Zeilen 44 - 55 grob skizzierten, typischen Temperaturverlauf in Querachsenrichtung eines Rotorblattes aufgrund von thermischen Beanspruchungen im Betrieb, also eher auf physikalische Phänomene oder empirische Gesetzmäßigkeiten, als auf spezifische Daten im eigentlichen Sinn.

In Absatz [0010] der Offenlegungsschrift ist der Begriff der Standardisierung im Sinne der Anmeldung erläutert. Thermische Beanspruchungen der Rotorblätter im Betrieb, die Messergebnisse verfälschen, entsprechen Gesetzmäßigkeiten und können deshalb in gewisser Weise standardisiert betrachtet werden. In diesem Sinne ist der Vorschlag zu verstehen, thermische Beanspruchungen getrennt nach Segmenten zu berücksichtigen.

Der Fachmann entnimmt somit dem letzten Satz des Absatzes [0012], dass die Verfälschungen der Messergebnisse durch thermische Beanspruchungen, weil sie in den Segmenten vordere Kante, Blattfläche und hintere Kante jeweils typischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, bei der Bereinigung der Messergebnisse "standardisiert" im Sinne von getrennt nach Segmenten berücksichtigt und herausgerechnet werden sollen. Dieser Offenbarungsgehalt spiegelt sich im kennzeichnenden Teil von Anspruch 1, auch wenn dort das Wort "standardisiert" nicht verwendet ist.

4.4 Folglich geht das Verfahren des Anspruchs 1 nicht über den Inhalt der Anmeldung in ihrer ursprünglichen Fassung hinaus, Artikel 123(2) EPC.

5. Klarheit

5.1 Die Beschwerdegegnerin-Einsprechende scheint zu bemängeln, dass Anspruch 1 keine vollständige technische Lehre zur Ausführung der Erfindung enthalte. Insbesondere sei nicht angegeben, in welcher Weise thermische Beanspruchungen getrennt nach Segmenten berücksichtigt werden sollten. Dieser "Klarheitsmangel" könne auch nicht durch Hinzuziehen der Beschreibung behoben werden, da diese ebenfalls keine ausreichenden Informationen zur Ausführung dieses Merkmals enthalte.

5.2 Das Anspruchsmerkmal der Berücksichtigung von thermischen Beanspruchungen getrennt nach Segmenten steht nicht für sich allein in Anspruch 1. Dort ist auch erläutert, dass es sich bei diesen thermischen Beanspruchungen um eine durch Luftreibung erzeugte Erwärmung eines Rotorblatts und bei diesen Segmenten um Segmente in Querachsenrichtung des Rotorblatts handelt, wobei zumindest drei solcher Segmente getrennt voneinander zu betrachten sind, nämlich vordere Kante, Blattfläche und hintere Kante. Sodann werden diese thermischen Beanspruchungen jeweils dadurch berücksichtigt, dass eine durch sie bedingte Temperaturaufnahme aus thermografisch ermittelten Messwerten herausgerechnet wird.

Die Kammer sieht keine Schwierigkeiten für einen Fachmann, zu erkennen, ob bei einem gegebenen Verfahren zur Temperaturermittlung eines Rotorblattes im Rahmen einer Schadensüberprüfung diese Schritte oder Maßnahmen durchgeführt werden oder nicht. Da somit ohne weiteres bestimmt werden kann, ob ein solches Verfahren in den Schutzumfang des Anspruchs 1 fällt oder nicht, ist Anspruch 1 hinreichend klar.

Dass Anspruch 1 nicht hinsichtlich der Art und Weise eingeschränkt ist, in der eine jeweils in den Segmenten durch Luftreibung erzeugte Temperaturaufnahme ermittelt wird, mag zu einem breiteren Schutzumfang führen. Dies ist jedoch nicht automatisch mit mangelnder Klarheit gleichzusetzen. Denn ein Anspruch muss keine vollständige technische Lehre enthalten, sondern nur die wesentlichen technischen Merkmale einer Erfindung.

5.3 Da sich die diesbezüglichen Argumente der Beschwerdegegnerin-Einsprechenden ausdrücklich auf die Klarheit des Anspruchs 1, nicht auf die Ausführbarkeit der Erfindung beziehen, muss die Kammer auf diese nicht näher eingehen. Sie hat jedoch keine Zweifel, dass ein Fachmann die Erfindung auf Grundlage der Patentschrift, insbesondere des bereits erwähnten Absatzes [0012], mit einem einfachen, z.B. empirisch ermittelten Umrechnungsalgorithmus für die jeweils für die drei Segmente ermittelten Messwerte ausführen kann.

5.4 Auch die angepasste Beschreibung beeinträchtigt nicht die Klarheit des unabhängigen Anspruchs, weil sie nicht einen anderen als den beanspruchten Schutzumfang und Erfindungsgegenstand definiert.

In den beiden von der Beschwerdegegnerin-Einsprechenden beanstandeten Passagen in Absatz [0007], Zeilen 45 - 49 und Absatz [0008], Zeilen 8 - 10 sind weitere thermische Beanspruchungen bzw. "Umstände" wie Witterung, (Außen)Temperatur, Jahreszeit, Sonneneinstrahlung nicht ausdrücklich als Alternativen (z.B. "oder") zur (Luft)Reibung genannt. Demnach ist in Zusammenschau mit Anspruch 1 klar, dass sie zusätzlich zu thermischen Beanspruchungen durch Luftreibung berücksichtigt werden können.

Diese Passagen enthalten somit keinen Widerspruch zu Anspruch 1 und kein aliud zu dessen Gegenstand.

5.5 Anspruch 1 ist demnach klar im Sinne von Artikel 84 EPÜ.

6. Schlussfolgerung

Hilfsantrag 2 wird zum Verfahren zugelassen.

Er erfüllt die Voraussetzungen der Artikel 123(2) und 84 EPÜ. Weitere Einspruchsgründe oder Mängel wurden weder von der Beschwerdegegnerin-Einsprechenden vorgetragen, noch sind sie für die Kammer ersichtlich.

Die Beschreibung wurde an den geänderten Anspruchssatz angepasst.

Somit genügt unter Berücksichtigung der von der Beschwerdeführerin-Patentinhaberin in Hilfsantrag 2 vorgenommenen Änderungen das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ, Artikel 101(3)a) EPÜ.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die Vorinstanz mit der Maßgabe zurückverwiesen, das Patent in folgender Fassung aufrechtzuerhalten:

- Ansprüche 1 - 4 des mit Schreiben vom 5. Juni 2020 eingereichten Hilfsantrags 2;

- Beschreibung Seiten 2 - 4 wie mit Schreiben vom 5. Juni 2020 eingereicht;

- Figuren 1 - 3 der Patentschrift wie erteilt.

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