T 1684/17 () of 14.11.2022

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2022:T168417.20221114
Datum der Entscheidung: 14 November 2022
Aktenzeichen: T 1684/17
Anmeldenummer: 11007162.8
IPC-Klasse: D21F 5/02
D21F 5/18
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zur Herstellung eines Yankeezylinders
Name des Anmelders: Andritz AG
Name des Einsprechenden: Toscotec S.p.a.
A. Celli Paper S.P.A. (Einspruch zurückgenommen)
Kammer: 3.2.07
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 100(a)
European Patent Convention Art 54
European Patent Convention Art 56
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 012(6)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Schlagwörter: Neuheit - implizite Offenbarung
Erfinderische Tätigkeit - allgemeines Fachwissen
Änderung des Beschwerdevorbringens - Änderung der Verfahrensökonomie abträglich (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0400/98
T 0107/02
T 1189/18
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) legte form- und fristgerecht Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, mit der der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 503 055 zurückgewiesen wurde.

II. Diese Entscheidung nimmt Bezug auf das aus dem Einspruchverfahren bekannten Dokument

E1: WO 2008/105005 A1,

sowie auf das Dokument

FR1: FR 1 318 133,

das während des Beschwerdeverfahrens eingereicht wurde.

III. Der Einspruch richtete sich gegen das Streitpatent im gesamten Umfang und stützte sich auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit).

IV. Mit Mitteilung gemäß Regel 100 (2) EPÜ vom 4. Dezember 2020 teilte die Beschwerdekammer den Beteiligten vorläufige Beurteilung der Sach- und Rechtslage mit, derzufolge die Beschwerde zurückzuweisen wäre.

Zur Mitteilung der Kammer nahm die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) mit Schriftsatz vom 25. März 2021 inhaltlich Stellung.

Die Einsprechende reichte mit Schriftsatz vom 9. April 2021 das Dokument FR1 ein und stützte neue Patentierbarkeitseinwände darauf.

Mit Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 vom 19. April 2021 teilte die Beschwerdekammer den Beteiligten ihre vorläufige Beurteilung der Sach- und Rechtslage mit, derzufolge FR1 nicht zuzulassen wäre und die Beschwerde zurückzuweisen wäre.

V. Am 14. November 2022 fand die mündliche Verhandlung vor der Kammer statt. Wegen der Einzelheiten des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll verwiesen.

Der Tenor der Entscheidung wurde am Schluss der Verhandlung verkündet.

VI. Die Einsprechende beantragte

die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Die Patentinhaberin beantragte

die Zurückweisung der Beschwerde,

hilfsweise, bei Aufhebung der angefochtenen Entscheidung,

die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche einer der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsanträge I bis III.

VII. Anspruch 1 des Patents in erteilter Fassung gemäß Hauptantrag lautet:

"Verfahren zur Fertigung eines Yankeezylinders (1) aus Stahl umfassend folgende Schritte:

a.) in einem ersten Schritt werden einzelne Mantelbleche zugeschnitten und eingerollt;

b.) danach werden die Mantelbleche zu zwei oder mehreren Zylinderschüssen (8, 9, 10) zusammengeschweißt;

c.) danach werden die einzelnen Zylinderschüsse (8, 9, 10) an der Innen- und Außenseite (15, 16), sowie an den Stirnseiten mechanisch vorbearbeitet;

d.) danach werden die Zylinderschüsse (8, 9, 10) zu einem fertigen Zylindermantel (2) zusammengeschweißt."

VIII. Im Hinblick auf die Entscheidung der Kammer ist eine Wiedergabe des Wortlauts von Ansprüchen der Hilfsanträge nicht erforderlich.

IX. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Parteien wird im Detail in den Entscheidungsgründen diskutiert.

Entscheidungsgründe

1. Revidierte Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) - Übergangsbestimmungen

Dieses Verfahren unterliegt der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, die am 1. Januar 2020 in Kraft trat (Artikel 24 und 25 (1) VOBK 2020), mit Ausnahme von Artikel 12 (4) bis (6) VOBK 2020, anstelle dessen Artikel 12 (4) VOBK 2007 weiterhin anwendbar ist (Artikel 25 (2) VOBK 2020).

2. Zulassung des Dokuments FR1 und des darauf gestützten Einwands ins Verfahren

2.1 Nach Erhalt der Kammermitteilung gemäß Regel 100 (2) EPÜ vom 4. Dezember 2020 reichte die Einsprechende FR1 ein und erhob einen Einwand mangelnder erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung gegenüber der Offenbarung von E1 in Kombination mit dem Dokument FR1 (siehe Schriftsatz vom 9. April 2021).

2.2 Somit liegen Änderungen des Vorbringens der Einsprechenden nach Einreichung der Beschwerdebegründung, deren Zulassung ins Verfahren gemäß Artikel 13 (1) VOBK 2020 rechtfertigende Gründe bedarf und im Ermessen der Kammer steht. Artikel 12 (6) VOBK 2020 gilt dabei entsprechend.

2.3 Zur Rechtfertigung der Änderungen ihres Vorbringens argumentierte die Einsprechende, dass ihr das Dokument FR1 erst nach Einreichung der Beschwerdebegründung durch Teilnahme an einem parallelen Beschwerdeverfahren (T 1189/18) zur Kenntnis gelangte, so dass FR1 nicht in einem früheren Verfahrensstadium hätte vorgelegt werden können.

Die Patentinhaberin, als Beteiligte des parallelen Beschwerdeverfahrens, könne durch die Vorlage dieses prima facie relevanten Dokuments im vorliegendem Verfahren nicht überrascht werden.

2.4 Das zur Rechtfertigung des verspäteten Vorbringens vorgetragene Argument überzeugt nicht. Denn der erstmalig mit Schriftsatz vom 9. April 2021 erhobenen Einwand auf Basis von FR1 betrifft den Gegenstand von Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung. Daher hätte die Einsprechende dieses Dokument mit den darauf gestützten Argumentationslinien bereits mit der Einspruchsschrift im Einspruchsverfahren oder zumindest im Laufe des Einspruchsverfahrens erheben können und müssen.

Durch dieses Vorgehen verlagert die Einsprechende ihren Einspruch in das Beschwerdeverfahren und zwingt die Kammer entweder erstmalig über die Sache zu entscheiden oder sie an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen. Eine solche Verlagerung der Sache benachteiligte indes die Patentinhaberin ungerechtfertigt, weil sie so neuen Angriffen ausgesetzt wäre. Im Fall einer Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung verzögerte sich das Verfahren nicht unerheblich. In dem einen wie in dem anderen Fall führte das allein von der Einsprechenden zu verantwortende verspätete Vorbringen zu durch keine objektiven Umstände gerechtfertigten Nachteilen für die Gegenpartei und widerspräche dem für alle Beteiligten gleichermaßen geltenden Grundsatz der Verfahrensökonomie, und widerspräche damit auch dem in Artikel 12 (6) VOBK 2020 zweiter Absatz festgelegten Grundsatz, der im Wesentlichem Artikel 12(4) VOBK 2007 entspricht.

Die von der Beschwerdeführerin behauptete prima facie Relevanz ist kein entscheidendes Kriterium das bei der Anwendung von Artikel 13 (1) VOBK 2020 zu berücksichtigen ist und spielt somit für die Ermessensentscheidung der Kammer über die Zulassung dieses spät eingereichten Druckschrift keine unmittelbare Rolle.

2.5 Aufgrund der oben dargestellten Erwägungen macht die Kammer von ihrer Befugnis nach Artikel 13 (1) VOBK 2020 Gebrauch und lässt das Dokument FR1 sowie den darauf gestützten Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit entsprechend dem während der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag der Patentinhaberin nicht ins Verfahren zu.

3. Neuheit - Artikel 100 a) und 54 EPÜ

3.1 Die Einspruchsabteilung hat die Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung auf der Basis des Verfahrensschritts c) anerkannt (siehe Gründe der angefochtenen Entscheidung, Punkt 2.2).

Dokument E1 gibt, so die Einspruchsabteilung, keinen Hinweis auf eine mechanische Vorbearbeitung der Außenseite der Zylinderschüsse, und keine Information über den Zeitpunkt, an dem die Rillen 11A auf der Innenseite (Abbildungen 2 und 3; Seite 4, Zeilen 24-25) hergestellt wurden.

Es ist daher auch möglich, dass diese Bearbeitung der Innenfläche vor dem Zuschnitt oder Einrollen der Mantelbleche gemäß Merkmal a) des Anspruchs 1 des Streitpatents stattfindet.

Das Dokument E1, so die Einspruchsabteilung, ist lediglich eine mechanische Vorbearbeitung der Stirnseiten der Zylinderschüsse zur Vorbereitung der Schweißnaht zu entnehmen.

3.2 Die Einsprechende wandte sich gegen diese begründete Feststellung der Einspruchsabteilung und argumentierte während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, dass E1 insbesondere das Verfahrensschritt c.) zeige, weil auf Seite 4, Zeilen 13-14 stehe, dass

"The final cylindrical shell can also be manufactured through jointing of two or more cylinders obtained by rolling and welding metal sheets."

Dieser Satz bedeutete, dass der Yankeezylinder unmittelbar nach dem letzten darin erwähnten Verfahrensschritt (Schweißen) fertiggestellt und einsatzbereit ist, und impliziere, dass gemäß Schritt c.) des erteilten Anspruchs 1 die einzelnen Zylinderschüsse (101, 102, siehe Figur 10A der E1) an der Innen- und Außenseite, sowie an den Stirnseiten mechanisch vorbearbeitet werden müssen bevor diese zu einem fertigen Zylindermantel zusammengeschweißt werden.

Der Verfahrenschritt c.) sei auch für den Fachmann als implizit in E1 offenbart anzusehen, weil die Bearbeitung der Innen- und der Außenseite der einzelnen zylindrischen Abschnitten vor dem Zusammenschweißen viel einfacher als danach sei (siehe Beschwerdebegründung, Seite 5, vierten Absatz).

3.3 Die Kammer ist von diesen Argumentationen nicht überzeugt.

Da sich der Satz der E1 (Seite 4, Zeilen 13-14), auf den sich die Einsprechende bezieht, auf den zylindrischen Mantel und nicht auf den Yankee-Zylinder bezieht, folgt die Kammer dem Argument der Patentinhaberin, dass er nicht bedeutet, dass der Yankee-Zylinder fertiggestellt und gebrauchsfertig nach dem Verschweißen ist.

Die Kammer ist daher nicht davon überzeugt, dass der in diesem Satz verwendete Ausdruck "final shell" in den Augen eines Fachmanns zwingend bedeutet, dass E1 implizit offenbart, dass die einzelnen Zylinderschüsse an der Innen- und Außenseite mechanisch vorbearbeitet werden müssen.

Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe die Rechsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, I.C.4.3) kann eine Offenbarung nur dann als implizit angesehen werden, wenn für den Fachmann sofort erkennbar ist, dass nichts anderes als das angebliche implizite Merkmal Teil des offenbarten Gegenstands war.

Implizit offenbart in E1 sind daher Merkmale, die zwar nicht ausdrücklich genannt sind, aber für den Fachmann vom Inhalt zwingend mit erfasst sind.

Die einfachere von zumindest zwei möglichen Bearbeitungsreihenfolgen kann somit nicht als implizit offenbart angesehen werden.

Die Lehre eines Dokuments darf bei der Prüfung auf Neuheit außerdem nicht dahin gehend ausgelegt werden, dass sie in dem Dokument nicht offenbarte Äquivalente einschließt.

Die Einsprechende hat auch nicht überzeugend dargelegt, warum ohne Bearbeitung der Außenseiten der zylindrischen Abschnitte das Schweißen der zylindrischen Abschnitte unmöglich sein soll.

Solche unsubstantiierte Behauptungen sind aus Sicht der Kammer nicht geeignet, die Unrichtigkeit der begründeten Feststellungen der Einspruchsabteilung zur Neuheit gegenüber E1 überzeugend darzulegen.

Die Beschwerdeführerin hat somit nicht überzeugend dargelegt, dass die angefochtene Entscheidung nicht korrekt war, weil das Merkmal c) implizit durch E1 offenbart wäre.

4. Erfinderische Tätigkeit - Artikel 100 a) und 56 EPÜ

4.1 Die Einsprechende macht geltend, mit Bezug auf die Entscheidungen T 400/98 und T 107/02 (siehe Beschwerdebegründung, Seite 1, vierten Absatz), dass eine Auswahl unter nur drei möglichen Lösungen (aufgelistet auf Seite 5 der Beschwerdebegründung) zur praktischen Umsetzung der Lehre der E1 keine erfinderische Tätigkeit begründen könne. Darüber hinaus kann der Fachmann die Außenseiten der einzelnen Zylinderschüsse durch mechanisches Umformen so vorbereiten, um deren Verschweißen zu erleichtern.

Für den Fall, dass Schritt c.) nicht als implizit durch E1 vorweggenommen angesehen werden kann, sei es insbesondere dem Fachmann naheliegend als eine von begrenzten möglichen Alternativen die einzelnen Zylinderschüsse gemäß E1 (101, 102, siehe Figur 10A und 10B) an der Innen- und Außenseite mechanisch vorab zu bearbeiten, bevor diese zu einem fertigen Zylindermantel zusammengeschweißt werden.

4.2 Die Kammer ist von diesen Argumenten nicht überzeugt. Wie im Punkt 2.2 oben festgestellt wurde, offenbart E1 keine mechanische Vorbearbeitung der Außenseite der Zylinderschüsse.

Die vorliegende Situation unterscheidet sich grundsätzlich von der Fallkonstellationen in T 400/98 und T 107/02, in denen die Auswahl aus gleichwertigen Lösungen zur Diskussion stand. Grund dafür ist, dass die drei von der Einsprechenden identifizierten Möglichkeiten (Beschwerdebegründung, Seite 5) nicht gleichwertig zu betrachten sind. Die Vorbereitung zum Schweißen der verschiedenen Teile könnte zudem auch beispielsweise nur an der Innenseite oder nur an der Außenseite erfolgen bzw. nur an den Stirnseiten, und könnte auch schon bereits vor dem Zuschneiden der Bleche oder nach dem Zuschneiden, jedoch vor dem Einrollen der Bleche erfolgen, und nicht zwingend durch eine mechanische Vorbereitung.

Wie die Patentinhaberin während der mündlichen Verhandlung zutreffend geltend gemacht hat, treten beim Verbinden durch Schweißen einzelner Zylinderschüsse erhebliche Verformungen der zylindrischen Mantelfläche zwingend auf, die nur mit einer nachträglichen mechanischen Bearbeitung an der Außenseite beseitigt werden können. Eine vor dem Schweißen durchgeführte mechanische Bearbeitung kann daher nicht als gleichwertige Alternative zu einer nach dem Schweißen durchgeführten mechanischen Bearbeitung angesehen werden.

4.3 Obwohl die Einsprechende die erfinderische Tätigkeit ausgehend von E1 in Verbindung mit dem Fachwissen infrage gestellt hat, hat sie keine überzeugende Erklärung dafür vorgelegt, warum ein Fachmann in Erwägung gezogen hätte, die einzelnen Zylinderschüsse der E1 an der Innen- und Außenseite mechanisch zu bearbeiten bevor diese zu einem fertigen Zylindermantel zusammengeschweißt werden, obwohl es unstrittig bekannt ist, dass aufgrund des Verschweißens zwingend Deformationen auftreten, die eine mechanische Bearbeitung des gesamten fertigen zusammengesetzten Mantel nach diesem Verschweißen erfordern.

Die Beschwerdeführerin hat somit nicht überzeugend dargelegt, dass die unter Punkt 3.2 der Gründe der angefochtenen Entscheidung getroffene Feststellung zur Erfinderischen Tätigkeit ausgehend vom Dokument E1 als nächstliegender Stand der Technik in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen nicht korrekt war.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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