T 1191/17 () of 8.11.2019

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2019:T119117.20191108
Datum der Entscheidung: 08 November 2019
Aktenzeichen: T 1191/17
Anmeldenummer: 09007981.5
IPC-Klasse: E06B 9/322
E06B 9/68
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Sonnenschutzanlage mit Notraffvorrichtung
Name des Anmelders: WAREMA Renkhoff GmbH
Name des Einsprechenden: ROMA KG
Kammer: 3.2.08
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13
Schlagwörter: Spät eingereichter Antrag - eingereicht in der mündlichen Verhandlung
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung ein, wonach das Streitpatent in der Fassung des damaligen Hilfsantrags 1 die Erfordernisse des EPÜ erfüllt.

II. Die Einspruchsabteilung fand, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung nicht neu sei, und dass der Gegenstand der Ansprüche gemäß dem im Einspruchsverfahren eingereichten Hilfsantrag 1 neu und erfinderisch sei.

III. Am 8. November 2019 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.

IV. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents im Umfang des während der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer eingereichten Antrags.

Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde und die Nichtzulassung des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Antrags.

V. Anspruch 1 des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Antrags lautet:

M1|"Sonnenschutzanlage mit einem mit Hilfe eines Primärantriebes (14) wickel- oder raffbaren Behang |

M2|und einer Notraffvorrichtung (20), die in einer Gefahrensituation ein besonders rasches Aufholen des Behanges ermöglicht, |

|dadurch gekennzeichnet, dass |

M3|die Notraffvorrichtung (20) über einen elektrischen Sekundärantrieb (22; 122) verfügt, |

M4|der beim Auslösen ein beschleunigtes Aufholen des Behangs durch Bereitstellen einer erhöhten Antriebsleistung anstelle oder zusätzlich zu der regulären Antriebsleistung des Primärantriebes (14; 114) bewirkt,|

M5|indem er den regulären Primärantrieb (14; 114) im Notfall zum raschen Aufholen des Behanges ersetzt oder diesem zuschaltbar ist, so dass der Behang in einer wesentlich kürzeren Zeit raffbar ist, |

M6|wobei der Sekundärantrieb auf einer einzigen, durchgehenden Antriebswelle koaxial zum Primärantrieb angeordnet ist, |

M7|oder der Sekundärantrieb (22; 122) der Notraffvorrichtung (20; 120) über ein Differentialgetriebe (30; 130) mit der Antriebswelle (16; 116) des Primärantriebes (14; 114) gekoppelt ist, |

M8|oder der elektrische Sekundärantrieb der Notraffvorrichtung mit dem Primärantrieb über eine elektrisch schaltbare Kupplung gekoppelt ist." |

Die Merkmalsgliederung wurde von der Kammer hinzugefügt.

VI. Die folgenden Entgegenhaltungen sind für die vorliegende Entscheidung relevant:

E5:|DE 200 05 567 U1 |

E6:|WO 2005/010314 A1|

VII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Zulassung des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Antrags

Der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Antrag stelle eine Reaktion auf den Bescheid der Kammer, sowie deren Anmerkungen in der mündlichen Verhandlung zu dem mit Schreiben von 7. Oktober 2019 eingereichten Hilfsantrag 2 dar.

Die Änderungen des Anspruch 1 dieses neuen Antrags seien überschaubar, und bestünden aus einer Kombination aus erteilten Ansprüchen. Durch die Änderungen würde klar definiert, dass der elektrische Sekundärantrieb von dem Primärantrieb baulich getrennt sei. Dies war schon von Anfang des Einspruchsverfahrens an ein Streitpunkt gewesen und die vorgenommenen Änderungen könnten daher für die einsprechende Beschwerdegegnerin keine Überraschung darstellen.

Hauptantrag - Erfinderische Tätigkeit

Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags beruhe ausgehend von der Sonnenschutzanlage der E5 auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheide sich von der in der E5 offenbarte Sonnenschutzanlage in den Merkmalen M2 bis M5. Die Anlage der E5 habe zwar einen elektrischen Sekundärantrieb, dieser sei jedoch als Redundanz für einen möglichen Ausfall des Primärantriebs vorgesehen. Es gehe dabei zum Beispiel darum, zu gewährleisten, dass die Sonnenschutzanlage immer eingefahren werden kann, um sie bei Starkwind zu schützen. Ein beschleunigtes Aufholen des Behangs bei Gefahrensituationen sei nicht erwähnt. Somit könne der Sekundärantrieb nicht eine Notraffvorrichtung im Sinne des Streitpatents, bei dem es um die Gefährdung der Anlage oder von Personen gehe, darstellen.

Es gebe für den Fachmann ausgehend von der Sonnenschutzanlage gemäß E5 keinen Anlass, den Sekundärmotor so zu wählen, dass der Behang in Gefahrensituationen in einer wesentlich kürzeren Zeit aufholbar sei. Falls er, wie auf Seite 8 vorgeschlagen, Motoren mit unterschiedlichen Eigenschaften einbauen würde, so wäre es vielmehr naheliegend, einen kleineren und schwächeren Sekundärmotor zu wählen, da dieser nur bei Ausfall des Primärantriebs zur Anwendung komme.

Die E6 offenbare ein langsameres und schnelleres Aufholen des Behangs mit dem gleichen elektrischen Antrieb. Sie lege daher nicht nahe, den Sekundärantrieb der Sonnenschutzanlage der E5 in Gefahrensituationen zu verwenden und mit erhöhter Antriebsleistung auszulegen, um ein beschleunigtes Aufholen des Behangs zu bewirken.

VIII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Zulassung des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Antrags

Mit der Beschwerdebegründung hatte die Beschwerdeführerin lediglich einen Antrag auf Aufrechterhaltung gemäß dem Hauptantrag des Einspruchsverfahrens (Patent in erteilter Fassung) gestellt.

Der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Antrag sei zum spätest möglichen Zeitpunkt des Verfahrens vorgelegt worden, obwohl er hätte früher gestellt werden können. Dieser verspätete Antrag sollte daher in das Verfahren nicht zugelassen werden.

Hauptantrag - Erfinderische Tätigkeit

Die in der E5 offenbarte Sonnenschutzanlage stelle den nächstliegenden Stand der Technik für den Gegenstand des Anspruchs 1 dar. Die Zusammenfassung und Figur 1 zeigten eine Sonnenschutzanlage mit einem elektrischen Primärantrieb 28 und einem elektrischen Sekundärantrieb 32 zum Bewegen des Behangs im Versagensfall des Primärantriebs. Der Sekundärantrieb sei geeignet für eine Notraffung, und sei an einer einzigen durchgehenden Antriebswelle 14 koaxial zum Primärantrieb angeordnet.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheide sich davon dadurch, dass die Notraffvorrichtung in einer Gefahrensituation ein besonders rasches Aufholen ermöglicht, und dass der Sekundärantrieb beim Auslösen der Notraffvorrichtung ein beschleunigtes Aufholen des Behangs durch Bereitstellen einer erhöhten Antriebsleistung zum raschen Einholen des Behanges in einer wesentlich kürzeren Zeit bewirkt, indem er den regulären Primärantrieb im Notfall zum raschen Aufholen des Behangs ersetze oder diesem zuschaltbar ist, so dass der Behang in einer wesentlich kürzeren Zeit raffbar ist.

Die dadurch gelöste technische Aufgabe liege darin, die Wirksamkeit der Notraffung zu verbessern.

Auf Seite 2, Absatz 2 der E5 werde das Problem der Sicherheit angesprochen, und auf Seite 3, Absatz 1, dass der Sekundärantrieb, wie auch im Streitpatent, zum Einfahren des Behangs bei starkem Windaufkommen vorgesehen sei. Auf Seite 8, Absatz 1 finde der Fachmann den Hinweis, dass Motoren mit unterschiedlichen Drehzahlen, Leistungen und Eigenschaften eingebaut werden könnten, um deren jeweils besonderen Eigenschaften nutzten zu können. Es sei für den Fachmann somit allein aus der Lehre der E5 naheliegend, den Sekundärantrieb für ein schnelleres Aufholen auszulegen und in Gefahrensituationen zu verwenden.

Auch die E6, Seite 3, lehre den Fachmann, dass eine Sonnenschutzanlage bei Notfällen mit einer höheren Geschwindigkeit eingerafft werden könne. Dies lege dem Fachmann ebenso nahe, den Sekundärantrieb der Sonnenschutzanlage der E6 für ein schnelleres Aufholen auszulegen.

Im Hinblick auf die Lehren der E5 selbst - oder zusammen mit der Lehre der E6 - gelange der Fachmann somit ohne erfinderisches Zutun zu dem Gegenstand des Anspruchs 1.

Entscheidungsgründe

1. Zulassung des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Antrags

Der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Antrag ist verspätet und die Zulassung in das Verfahren steht somit im Ermessen der Kammer (Artikel 13(3) VOBK).

Der Antrag wurde formell zwar erstmalig in der mündlichen Verhandlung eingereicht, er ähnelt jedoch abgesehen von kleineren Klarstellungen dem mit Schreiben vom 7. Oktober 2019 eingereichten Hilfsantrag 2. Ferner besteht Anspruch 1 des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Antrags aus einer Kombination von erteilten Ansprüchen, so dass die einsprechende Beschwerdegegnerin einem Sachverhalt gegenübersteht, der schon im Einspruchsverfahren vorlag.

Die Kammer sieht diesen Antrag als eine angemessene Reaktion auf ihren Bescheid und auf die in der mündlichen Verhandlung erhobenen Einwände zu dem mit schreiben vom 7. Oktober 2019 eingereichten Hilfsantrag 2, und entschied daher den in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag in das Verfahren zuzulassen (Artikel 13(3) VOBK).

2. Hauptantrag - Erfinderische Tätigkeit

2.1 Einleitend ist festzuhalten, dass die Einsprechende keine Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung eingelegt hat, wonach das Streitpatent in der Fassung gemäß dem damaligen Hilfsantrag 1 die Erfordernisse des EPÜ erfüllt.

Der Gegenstand des von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachteten Hilfsantrags 1 kann daher weder von der Kammer, noch von der nicht beschwerdeführenden Einsprechenden in Frage gestellt werden.

Die erfinderische Tätigkeit des Anspruchs 1 des vorliegenden Hauptantrags kann deshalb nur geprüft werden, soweit sie einen Gegenstand betrifft, der nicht in der von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachtete Fassung vorhanden war.

Dieser hinzukommende Gegenstand ist in den Merkmalen M1 bis M5 in Kombination mit der neu aufgenommenen Alternative gemäß Merkmal M6 definiert.

2.2 Die Beschwerdegegnerin sieht die in der E5 offenbarte Sonnenschutzanlage als den nächstliegenden Stand der Technik an.

Es ist unstreitig, dass E5, insbesondere Figur 1 und die Zusammenfassung, eine Sonnenschutzanlage offenbart, mit einem ersten (28) und einem zweiten (32) elektrischen Antrieb, die auf einer einzigen, durchgehenden Antriebswelle (14) koaxial angeordnet sind.

Es ist ferner unstreitig, dass E5 nicht offenbart, dass:

- der Sekundärantrieb in einer Gefahrensituation ein besonders rasches Aufholen des Behanges ermöglicht;

- der elektrische Sekundärantrieb ein beschleunigtes Aufholen des Behanges durch Bereitstellen einer erhöhten Antriebsleistung anstelle oder zusätzlich zu der regulären Antriebsleistung des Primärantriebs bewirkt,

indem er den regulären Primärantrieb im Notfall zum raschen Aufholen des Behanges ersetzt oder diesem zuschaltbar ist, so dass der Behang in einer wesentlich kürzeren Zeit raffbar ist.

2.3 Die Beschwerdegegnerin sieht die durch die Unterscheidungsmerkmale gelöste Aufgabe darin, die Wirksamkeit der Notraffvorrichtung zu verbessern.

Ihrer Meinung nach wäre es für den Fachmann im Hinblick auf die auf Seite 2 angesprochene Aufgabe, eine höhere Sicherheit zu schaffen, zusammen mit der Lehre auf Seite 8 der E5, dass die Antriebe unterschiedliche Leistungen oder Drehzahlen haben könnten, oder im Hinblick auf die Lehre eines raschen Aufholens des Behanges in Gefahrensituationen der E6 naheliegend, den Sekundärantrieb (32) der E5 mit höherer Leistung und damit einer höheren Raffgeschwindigkeit auszulegen, und diesen in Gefahrensituationen anstatt des Primärantriebs zu verwenden.

Somit würde der Fachmann ohne erfinderisches Zutun zum Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags gelangen.

2.4 Diese Argumente sind nicht überzeugend.

2.4.1 Die Sonnenschutzanlage der E5 löst die Aufgabe, eine höhere Sicherheit zu bieten, jedoch nur gegen technisches Versagen (siehe Seite 2, Absatz 2). Erreicht wird dies durch einen redundanten Sekundärantrieb, der dann zum Einsatz kommt, wenn der Primärantrieb nicht funktioniert.

Es stimmt zwar, dass auf Seite 8 erwähnt ist, dass die Primär- und Sekundärantriebe unterschiedliche Leistungen, Drehzahlen und Eigenschaften haben können. Ein besonders rasches Aufholen in Gefahrensituationen wird jedoch nicht erwähnt.

Daher gibt die E5 dem Fachmann weder einen Hinweis, in Gefahrensituationen immer den Sekundärantrieb anstatt des Primärantriebs zu verwenden, noch die Aufholgeschwindigkeit in Gefahrensituationen zu erhöhen.

2.4.2 Die E6 lehrt, dass ein elektrischer Motor in Gefahrensituationen ("situations d'urgence", Seite 7, Zeilen 27 bis 30) schneller drehen kann, um ein beschleunigtes Aufholen des Behanges zu ermöglichen. Die Anlage der E6 besitzt jedoch einen einzigen elektrischen Antrieb. Daher findet sich in der E6 keine Lehre, in Gefahrensituation einen Sekundärantrieb anstatt eines Primärantriebs zu verwenden. Selbst wenn der Fachmann die Lehre des schnelleren Aufholens der E6 auf die Sonnenschutzanlage der E5 übertragen würde, hätte er keinen Anlass, diese ausschließlich auf den Sekundärantrieb anzuwenden oder in Gefahrensituationen den Sekundärantrieb anstatt des Primärantriebs zu verwenden. Somit würde der Fachmann bei einer Übertragung der Lehre der E6 auf die Sonnenschutzanlage der E5 nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangen.

2.5 Der Gegenstand der ersten Alternative (Merkmal M6) des Anspruchs 1 ist daher für den Fachmann ausgehend von der Sonnenschutzanlage der E5 nicht naheliegend.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent in geändertem Umfang auf der Grundlage der folgenden Dokumente aufrecht zu erhalten:

- Ansprüche 1 bis 6 wie in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer am 8. November 2019 als "Hauptantrag" eingereicht;

- Beschreibungsseiten 1 bis 6 wie in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer eingereicht;

- Figuren 1 bis 3 wie erteilt.

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