European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2020:T117617.20201014 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 14 October 2020 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1176/17 | ||||||||
Anmeldenummer: | 12172161.7 | ||||||||
IPC-Klasse: | C04B35/626 C04B35/043 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Feuerfester keramischer Versatz und daraus gebildeter Stein | ||||||||
Name des Anmelders: | Refractory Intellectual Property GmbH & Co. KG | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Refratechnik Holding GmbH | ||||||||
Kammer: | 3.3.05 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Einspruchsgründe - Gegenstand geht über den Inhalt der früheren Anmeldung hinaus (nein) Zurückverweisung an die erste Instanz (ja) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent EP 2 674 407 B1 zu widerrufen.
II. Das Streitpatent bezieht sich auf einen feuerfesten keramischen Versatz und daraus gebildeten Stein.
III. Der erteilte Anspruch 1 lautet wie folgt:
"Feuerfester keramischer Versatz der Zusammensetzung
a) 75-98 M.-% mindestens eines basischen Grundmaterials aus der Gruppe: Sintermagnesia, Schmelzmagnesia,
b) 2-25 M.-% mindestens eines körnigen Zuschlags aus der Gruppe: Siliziumcarbid, Siliziumnitrid, Siliziumoxicarbid, Siliziumoxicarbonitrid,
c) maximal 5 M.-% sonstige Bestandteile,
jeweils bezogen auf den Gesamtversatz, wobei
d) das basische Grundmaterial zu > 10 bis < 40 M.-% in einer Mehlfraktion < 125 µm vorliegt, bezogen auf den Gesamtversatz und
e) der körnige Zuschlag in einer Kornfraktion > 125 µm und < 2 mm vorliegt."
Die abhängigen Ansprüche 2-10 definieren bevorzugte Ausführungsformen. Ansprüche 11-12 beziehen sich auf feuerfesten keramischen Stein, hergestellt aus dem Versatz gemäß Anspruch 1.
IV. Die Einspruchsabteilung entschied, dass der Gegenstand von Anspruch 1 - und damit ebenfalls der der abhängigen Ansprüche 2-10 - über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinausgehe (Artikel 100 c) EPÜ). Sie hob hervor, dass die ursprünglichen abhängigen Ansprüche jeweils nur einen Rückbezug auf Anspruch 1 enthielten. Die Kombination der Merkmale der ursprünglichen Ansprüche 2, 4 und 5 mit Anspruch 1 wurde ihrer Auffassung nach weder in den Ansprüchen noch in der Beschreibung der ursprünglich eingereichten Anmeldung offenbart.
V. Gegen diese Entscheidung legte die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) Beschwerde ein. Mit der Beschwerdebegründung reichte sie einen geänderten Anspruchssatz als Hilfsantrag ein.
VI. Die Einsprechende (Beschwerdegegnerin) erwiderte die Beschwerde. Zur Stützung ihrer Argumente legte sie mit einer weiteren Eingabe vom 28. Februar 2020 eine markierte Fassung der erteilten Ansprüche vor.
VII. Die wesentlichen Argumente der Beschwerdeführerin sind folgende:
In der angefochtenen Entscheidung sei die Beschreibung als Teil der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht ausreichend berücksichtigt worden. Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 stütze sich auf die Absätze [0014] und [0015] der A-Publikation. Ferner könne die für das Kornspektrum des körnigen Zuschlags genannte Obergrenze von "< 2 mm" mit dem weiteren Bereich "> 125 mym und < 3 mm" kombiniert werden, siehe T 2/81. Dabei gebe das Kornspektrum allein an, dass keine Körner außerhalb der angegebenen Korngrößen vorliegen.
VIII. Die wesentlichen Argumente der Beschwerdegegnerin sind folgende:
Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1, der Merkmale der ursprünglichen Ansprüche 1, 2, 4 und 5 enthalte, gehe aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht direkt und unmittelbar hervor. Die ursprünglichen Ansprüche 2, 4 und 5 beziehen sich jeweils nur auf Anspruch 1 zurück, es gebe keine Rückbezüge der Ansprüche untereinander. Ferner werde aus den ursprünglichen Ansprüchen 4 und 5 jeweils eine Bereichsgrenze herausgegriffen (Merkmal "e").
Auch in der ursprünglichen Beschreibung werde auf den Seiten 5 und 6 eine Vielzahl von unterschiedlichen und voneinander technisch unabhängigen Merkmalen ("Variationen") listenartig aufgeführt. Diese Aufzählung sei als Liste von Alternativen zu behandeln. Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 resultiere hieraus, indem Merkmale willkürlich ausgewählt und kombiniert werden, und gehe gemäß der Rechtsprechung in T 727/00 über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus. Durch den pauschalen Hinweis, dass Variationen in Kombination verwirklicht werden können, werden keine spezifischen Kombinationen offenbart.
Ferner seien die in den ursprünglichen Ansprüchen und der ursprünglichen Beschreibung für die Kornfraktion bzw. das Kornspektrum angegebenen Bereiche so zu verstehen, dass das gesamte jeweilige Korngrößenspektrum vorliegen müsse. Eine Kornfraktion " > 0,5 mm und < 2 mm" sei somit kein Unterbereich einer Kornfraktion " > 125 mym und < 3 mm", sondern ein Aliud. Die beanspruchte Kombination von Ober- und Untergrenze gemäß Merkmal "e" gehe nicht direkt und unmittelbar aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hervor.
Auch die Kombination der Merkmale der abhängigen Ansprüche mit dem erteilten Anspruch 1 werde in der Anmeldung in der ursprünglichen Fassung nicht offenbart, da sich die ursprünglichen abhängigen Ansprüche jeweils nur auf Anspruch 1 zurückbeziehen.
IX. Auf die vorläufige Meinung der Kammer vom 3. Januar 2020 hin, dass der Einspruchsgrund unter Artikel 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents nicht entgegenzustehen scheine und die Sache voraussichtlich zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen sein werde, nahmen sowohl die Beschwerdeführerin (13. Januar 2020) als auch die Beschwerdegegnerin (7. Oktober 2020) ihre Anträge auf eine mündliche Verhandlung zurück.
X. Daraufhin sagte die Kammer die bereits für den 14. Oktober 2020 terminierte mündliche Verhandlung ab.
XI. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und den Einspruch zurückzuweisen (Hauptantrag), oder hilfsweise das Patent in geänderter Form auf Grundlage des Hilfsantrags aufrechtzuerhalten.
XII. Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen. Ferner beantragte sie für die weitere Prüfung die Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz.
Entscheidungsgründe
1. Einspruchsgrund unter Artikel 100 c) EPÜ
1.1 Anspruch 1 ist eine Kombination der ursprünglichen Ansprüche 1 (Merkmale "a"-"c"), 2 (Merkmal "d"), 4 und 5 (Merkmal "e"), wobei die Bereichsangaben der Ansprüche 4 (Kornfraktion > 125 mym und < 3 mm) und 5 (Kornfraktion > 0,5 mm und < 2 mm) zu Merkmal "e" (Kornfraktion > 125 mym und < 2 mm) zusammengefasst wurden.
1.2 Zunächst war zu klären, wie die Angaben der Kornfraktion (ursprüngliche Ansprüche 4 und 5; Merkmal "e") zu verstehen sind. Die Kammer kann der Auffassung der Beschwerdegegnerin, dass stets das gesamte jeweilige Korngrößenspektrum vorliegen müsse, nicht folgen. Im vorliegenden Fall werden mit der Angabe einer Unter- und einer Obergrenze lediglich Korngrößen unterhalb der Untergrenze und oberhalb der Obergrenze ausgeschlossen. Die Bereichsangabe umfasst aber jede beliebige Korngrößenverteilung innerhalb der jeweils angegebenen Ober- und Untergrenze. Im Einklang hiermit ist die in Tabelle 1 angegebene Kornfraktion von 0,5 bis 1,7 mm ein Beispiel der in den ursprünglichen (abhängigen) Ansprüchen definierten Kornfraktionen, und nicht etwa ein Aliud.
1.3 Es war ferner zu klären, ob das Zusammenfassen der genannten Merkmale (Punkt 1.1) im geltenden Anspruch 1 zu einem Gegenstand führt, der über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, zumal sich die ursprünglichen Ansprüche 2, 4 und 5 jeweils lediglich auf Anspruch 1 zurückbeziehen.
1.4 Diese Merkmale werden in der Beschreibung der ursprünglichen Anmeldung als "Variationen" aufgeführt, die in Kombination verwirklicht werden können, sofern dies nicht ausdrücklich ausgeschlossen wird (Seite 5, letzter vollständiger Absatz - Seite 6, ganze Seite der ursprünglichen Anmeldung; entsprechend Absatz [0015] der A-Publikation).
Der Folgeabsatz (Seite 7, erster vollständiger Absatz) gibt einen ausdrücklichen Hinweis auf die Merkmale "d" und "e" ("e" in der allgemeinen Form gemäß Seite 6, zweiter Spiegelstrich). Die Kombination dieser Merkmale mit der ursprünglich definierten Erfindung, also mit dem Gegenstand des ursprünglichen Anspruchs 1, wird somit spezifisch genannt, ohne dass eine Auswahl zwischen mehreren Alternativen nötig wäre.
1.5 Ferner geht aus der ursprünglichen Anmeldung als Ganzes, unter Berücksichtigung der Beispiele (Tabelle 1), hervor, dass sich die genannten Merkmale "a"-"e" auf dieselbe Ausführungsform beziehen. So weisen sämtliche Beispiele S-1 bis S-3 diese Merkmale auf.
1.6 Das Merkmal "e" selbst wurde auf einen Teilbereich eingeschränkt (" < 2 mm" unter Beibehaltung der Untergrenze von " > 125 mym"), gemäß dem unter Punkt 1.2 angegebenen Verständnis der Bereichsangabe. Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin wurde dabei die Obergrenze von "< 2 mm" nicht willkürlich herausgegriffen. Es handelt sich vielmehr um eine Einschränkung eines Wertebereichs im Sinne der Beispiele, d.h. im Sinne eines bevorzugten Bereichs.
Der durch diese Einschränkung entstandene Teilbereich ist im Einklang mit T 2/81 (zweiter Leitsatz) als ursprünglich offenbart anzusehen.
1.7 Somit basiert der Gegenstand des geltenden Anspruchs 1 nicht auf einer mehrfachen Auswahl aus Listen, im Sinne einer willkürlichen Auswahl zwischen als gleichwertig beschriebenen Alternativen.
1.8 T 727/00 betraf hingegen einen Fall, in welchem zwei Gruppen von Merkmalen geändert worden waren, wobei jede dieser Änderungen eine Auswahl aus einer Liste darstellte und insbesondere ein Wertebereich willkürlich herausgegriffen wurde (Gründe 1.1.4), und ist somit hier nicht relevant.
1.9 Aus diesen Gründen geht der Gegenstand des geltenden Anspruchs 1 nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus.
1.10 Der Einwand gegenüber den abhängigen Ansprüchen beruhte auf der Schlussfolgerung bezüglich des unabhängigen Anspruchs und ist daher aus den gleichen Gründen nicht überzeugend. Vor dem Hintergrund des unter den Punkten 1.4 und 1.5 Gesagten geht aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung als Ganzes hervor, dass die abhängigen Ansprüche bevorzugte Merkmale des nun in Anspruch 1 definierten feuerfesten keramischen Versatzes definieren.
2. Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung
2.1 Die Einsprechende hat Einspruchsgründe unter Artikel 100 b) EPÜ sowie Artikel 100 a) in Verbindung mit Artikel 54 und 56 EPÜ geltend gemacht.
2.2 Diese Einspruchsgründe wurden weder in der Entscheidung der Einspruchsabteilung behandelt, noch haben die Parteien hierzu substantiierte Ausführungen im Einspruchsbeschwerdeverfahren gemacht. Die Beschwerdegegnerin bezieht sich lediglich summarisch auf das Vorbringen im Einspruchsverfahren.
2.3 Artikel 11 VOBK 2020 sieht vor, dass die Kammer eine Angelegenheit nur dann zur weiteren Entscheidung an das Organ zurückverweist, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, wenn besondere Gründe vorliegen.
2.4 Gleichzeitig ist das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen (Artikel 12(2) VOBK 2020). Im dargestellten, vorliegenden Fall würde das Berücksichtigen der weiteren Einspruchsgründe weit über eine solche Überprüfung hinausgehen.
2.5 Die Umstände des vorliegenden Falls stellen somit besondere Gründe im Sinn von Artikel 11 VOBK 2020 dar, so dass die Angelegenheit zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen ist.
2.6 Außerdem sind auch die Beteiligten mit der Zurückverweisung an die erste Instanz einverstanden, da sie diesbezüglich ihre Anträge auf mündliche Verhandlung zurücknahmen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.