T 0823/17 () of 13.9.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T082317.20210913
Datum der Entscheidung: 13 September 2021
Aktenzeichen: T 0823/17
Anmeldenummer: 12743174.0
IPC-Klasse: A61K 9/70
B65H 35/00
B65H 37/00
A61F 13/02
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Schutzfolienwechsler
Name des Anmelders: Luye Pharma AG
Name des Einsprechenden: LTS LOHMANN Therapie-Systeme AG
Purdue Pharma LP
Kammer: 3.2.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Schlagwörter: Spät eingereichter Antrag - zugelassen (nein)
Spät eingereichter Antrag - Antrag hätte bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht werden können (ja)
Spät eingereichter Antrag - eingereicht mit der Beschwerdebegründung
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 1705/07
T 1538/10
T 0038/13
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 2 611 430 (nachfolgend als "das Patent" bezeichnet) zu widerrufen.

II. Die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer fand am 13. September 2021 als sogenannte Hybrid-Videokonferenz (mixed-mode) statt.

III. Von den von der Einspruchsabteilung zitierten Druckschriften ist die Druckschrift E2 (DE 199 46 384 A1) für die Beschwerde relevant.

IV. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in geänderter Fassung auf Grundlage der Ansprüche des mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrags 5 als neuem Hauptantrag aufrechtzuerhalten.

Die Beschwerdegegnerinnen I und II (Einsprechende 1 und 2) beantragten die Zurückweisung der Beschwerde. Sie beantragten weiterhin, den vorliegenden Hauptantrag (ehemals Hilfsantrag 5) nicht ins Verfahren zuzulassen.

V. Die Beteiligten haben im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

a) Beschwerdeführerin

Der vorliegende Hauptantrag umfasse lediglich die Ansprüche 1 bis 9 des erteilten Patents. Die erteilten unabhängigen Ansprüche 10 und 15 seien im Hauptantrag nicht mehr enthalten, obwohl die Beschwerdeführerin deren Gegenstand für neu und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend erachte. Sie wolle hiermit zur Verfahrensökonomie beitragen. Sie habe ein Anrecht darauf, den erteilten unabhängigen Anspruch 1 weiterzuverfolgen. Ein solches Vorgehen sei auch nicht verfahrensverzögernd. Es habe für die Patentinhaberin im Einspruchsverfahren keine Veranlassung gegeben, die unabhängigen Ansprüche 10 und 15 zu streichen, da sie davon ausging, dass deren Gegenstand neu sei und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Die Beschwerdeführerin verteidige diese Ansprüche nunmehr dennoch nicht weiter, da sich ihr unternehmerischer Fokus seit dem Einspruchsverfahren geändert habe und die Ansprüche 10 und 15 an Bedeutung für sie verloren hätten. Es sei im Übrigen nicht beabsichtigt gewesen, eine Entscheidung der Einspruchsabteilung hinsichtlich des erteilten Anspruchs 1 zu umgehen.

b) Beschwerdegegnerin I

Die Patentinhaberin hätte spätestens in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung den nun vorliegenden Hauptantrag stellen sollen. Hierzu habe sie während der mündlichen Verhandlung auch genügend Zeit gehabt. Die Patentinhaberin habe aber absichtlich davon abgesehen. Die Einreichung des Antrags erst mit der Beschwerdebegründung sei jedenfalls verspätet.

c) Beschwerdegegnerin II

Die Beschwerdeführerin habe zwar ein Anrecht darauf, um den unabhängigen Anspruch 1 zu kämpfen. Allerdings widerspreche ein Vorbringen des vorliegenden Hauptantrags erst mit der Beschwerdebegründung der Verfahrensökonomie und dem vorrangigen Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen. Die erteilten unabhängigen Ansprüche 10 und 15 seien bereits in den Einspruchsschriften der Einsprechenden angegriffen worden. Allen Beteiligten des Einspruchsverfahrens sei ferner klar gewesen, dass die Gegenstände der Ansprüche 10 und 15 wahrscheinlich nicht als neu und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend angesehen werden konnten. Dies spiegele sich auch in der hohen Anzahl an Hilfsanträgen wider, welche die Patentinhaberin im Rahmen des Einspruchsverfahrens eingereicht habe. Die Patentinhaberin habe im Einspruchsverfahren dennoch absichtlich davon abgesehen, lediglich die erteilten Verfahrensansprüche (Ansprüche 1 bis 9) zu verteidigen. Ob sie hiermit absichtlich eine Entscheidung der Einspruchsabteilung hinsichtlich dieser Ansprüche umgehen wollte, sei im Ergebnis unbeachtlich. Durch die Verfahrensführung der Beschwerdeführerin sei jedenfalls eine solche Entscheidung verhindert worden.

Entscheidungsgründe

1. Nach Maßgabe des Artikels 25 (2) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts in der seit 1. Januar 2020 gültigen Fassung (VOBK 2020, siehe ABl. EPA 2019, A63) ist auf die vorliegende Beschwerdebegründung Artikel 12 (4) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts in der Fassung von 2007 (VOBK 2007, siehe ABl. EPA 2007, 536) anzuwenden. Diese Norm sieht unter anderem vor, dass die Kammer die Befugnis hat, Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können.

2. Der vorliegende Hauptantrag der Beschwerdeführerin wurde erstmals mit der Beschwerdebegründung (dort als Hilfsantrag 5) eingereicht und umfasst lediglich die erteilten Verfahrensansprüche 1 bis 9. Die erteilten Vorrichtungsansprüche 10 bis 14 sowie der erteilte Product-by-Process-Anspruch 15 sind im vorliegenden Hauptantrag hingegen nicht enthalten.

3. In der angefochtenen Entscheidung gelangte die Einspruchsabteilung zu der Auffassung, dass der Gegenstand der erteilten Ansprüche 10 und 15 nicht neu gegenüber der Druckschrift E2 sei (siehe Punkte 2.3.3.3.1 bzw. 2.3.3.2.1 der Entscheidungsgründe). Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 sei jedoch neu gegenüber dieser Druckschrift.

Der nunmehrige Hauptantrag ist daher prima facie dazu geeignet, die genannten Neuheitseinwände, auf denen die angefochtene Entscheidung beruht, auszuräumen.

4. Allerdings stellt sich im Hinblick auf die Ausübung des Ermessens nach den Bestimmungen von Artikel 12 (4) VOBK 2007 die Frage, ob der vorliegende, nur auf die erteilten Verfahrensansprüche 1 bis 9 gerichtete Hauptantrag bereits im Einspruchsverfahren hätte gestellt werden sollen. Dabei ist zu prüfen, ob von der Patentinhaberin angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalls hätte erwartet werden können, dass sie den Antrag im erstinstanzlichen Verfahren stellt (siehe T 1538/10, Punkt 2.2 der Entscheidungsgründe).

5. Zunächst ist festzustellen, dass von den Einsprechenden in den Einspruchsschriften auch Einwände gegen die erteilten Verfahrensansprüche 1 bis 9 erhoben worden sind (siehe beispielsweise Punkt II der Einspruchsschrift der Einsprechenden 1 und Punkte B.V.1.1 bis B.V.1.5 und B.V.2.1 bis B.V.2.6 der Einspruchsschrift der Einsprechenden 2). Diese Einwände, insbesondere jene hinsichtlich einer vorgeblich mangelnden erfinderischen Tätigkeit, sind im Einspruchsverfahren und in der Entscheidung der Einspruchsabteilung jedoch nicht umfassend diskutiert worden, weil die Patentinhaberin in den vorgelegten Anspruchssätzen nach dem damaligen Hauptantrag und den Hilfsanträgen 1 bis 21 an den Vorrichtungs- bzw. Product-by-Process-Ansprüchen festhielt, und die Einspruchsabteilung zu der Auffassung gelangte, dass diese aufgrund ihrer fehlenden Neuheit nicht gewährbar seien.

6. Ferner gab es bereits im Einspruchsverfahren Anlass und Gelegenheit, den vorliegenden Hauptantrag einzureichen.

So geht aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung insbesondere Folgendes hervor: Während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung verkündete deren Vorsitzender, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 neu sei, der Gegenstand der Ansprüche 10 und 15 jedoch nicht als neu zu betrachten sei (siehe letzter Absatz auf Seite 1 der Niederschrift). Schon die Verkündung dieser Schlussfolgerung der Einspruchsabteilung hätte der Patentinhaberin Anlass sein sollen, zumindest als Rückzugsposition einen Antrag einzureichen, der den (von der Einspruchsabteilung nicht beanstandeten) Anspruch 1, nicht aber die Ansprüche 10 und 15 enthielt.

Aus der genannten Niederschrift geht ferner hervor, dass die Patentinhaberin während der mündlichen Verhandlung angesichts des Neuheitsmangels der Vorrichtungsansprüche mehrfach Gelegenheit erhielt, neue Anträge vorzubereiten und der Einspruchsabteilung vorzulegen (siehe Seite 2, erster Absatz, bis Seite 3, vorletzter Absatz, der Niederschrift). Während die Patentinhaberin diese Gelegenheiten nutzte, um zusätzlich zu den bereits im Verfahren befindlichen 18 Hilfsanträgen weitere drei neue Hilfsanträge einzureichen, befand sich der vorliegende, auf die Verfahrensansprüche beschränkte Hauptantrag nicht darunter, obwohl die Einspruchsabteilung deren Neuheit schon nach der ersten Beratungspause anerkannt hatte. Vielmehr enthalten auch alle in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsanträge einen jeweils modifizierten Vorrichtungsanspruch 10.

7. Durch ihre Verfahrensführung hat die Patentinhaberin eine vollständige Prüfung und Entscheidung der Einspruchsabteilung hinsichtlich der gegen die Verfahrensansprüche vorgebrachten Einspruchsgründe umgangen. Die Frage, ob dies mit Absicht geschah, ist im Ergebnis unerheblich. Jedenfalls bedeutet die Vorlage des neue Hauptantrags im Beschwerdeverfahren eine im Vergleich zur angefochtenen Entscheidung erhebliche Verschiebung des Streitstoffs. Insbesondere wäre im Falle einer Zulassung des vorliegenden Hauptantrags entweder erstmalig im Beschwerdeverfahren ausschließlich über einen Anspruchsgegenstand zu befinden, welcher sich auf ein Verfahren bezieht und gegen welchen Einwände entlang anderer Angriffslinien geltend gemacht wurden, als sie der angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen, oder die Sache wäre an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen. Beide Alternativen erscheinen im Hinblick auf die Verfahrensökonomie nicht wünschenswert (siehe auch T 1705/07, Punkt 8 der Entscheidungsgründe; T 38/13, Punkt 2.2 der Entscheidungsgründe).

8. Das Argument der Beschwerdeführerin, das Vorbringen des vorliegenden Hauptantrags erst mit der Beschwerdebegründung beruhe auf einer Änderung ihres geschäftlichen Fokus', erscheint hingegen weniger relevant. Die Kammer ist insbesondere nicht der Auffassung, dass eine geänderte wirtschaftliche Einschätzung der Beschwerdeführerin für sich genommen eine verspätete Einreichung des vorliegenden Hauptantrags rechtfertigen kann.

9. In Anbetracht dieser Erwägungen entschied die Kammer im Rahmen ihres Ermessens nach Artikel 12 (4) VOBK 2007, dass der ihr vorliegende Hauptantrag nicht in das Verfahren zugelassen wird.

10. Mangels zugelassener Anträge war die Beschwerde daher zurückzuweisen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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