T 0631/17 () of 2.11.2020

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2020:T063117.20201102
Datum der Entscheidung: 02 November 2020
Aktenzeichen: T 0631/17
Anmeldenummer: 07723681.8
IPC-Klasse: F03D1/06
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: ROTORBLATT EINER WINDENERGIEANLAGE
Name des Anmelders: Senvion Deutschland GmbH
Name des Einsprechenden: LM WP PATENT HOLDING A/S
Vestas Wind Systems A/S
Siemens Aktiengesellschaft
Kammer: 3.2.04
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54 (2007)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(3) (2007)
Schlagwörter: Neuheit - Hauptantrag (nein)
Neuheit - Hilfsanträge (nein)
Spät eingereichte Hilfsanträge - zugelassen (nein)
Spät eingereichte Hilfsanträge - Antrag eindeutig gewährbar (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerden richten sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, zur Post gegeben am 20. Januar 2017, die Einsprüche gegen das europäische Patent Nr. 2 004 990 nach Artikel 101(2) EPÜ zurückzuweisen.

II. Die Einsprüche gegen das Patent waren auf die Gründe Artikel 100 (a) i.V.m. den Artikeln 54 und 56 EPÜ und Artikel 100 (b) EPÜ gestützt. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass keiner dieser Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents entgegensteht.

In ihrer Entscheidung hat die Einspruchsabteilung unter anderem die folgenden Entgegenhaltungen zitiert:

OP1-D2: WO 02/08600 A1

OP3-D1: E. Hau, "Windkraftanlagen - Grundlagen, Technik, Einsatz, Wirtschaftlichkeit", 2. Auflage, 1996, Springer-Verlag, Seiten 69-132

III. Gegen diese Entscheidung hat die Einsprechende 2 als Beschwerdeführerin am 10. März 2017 Beschwerde eingelegt und am selben Tag die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung wurde am 30. Mai 2017 eingereicht. Auch die Einsprechende 1 als Beschwerdeführerin hat am 28. März 2017 Beschwerde eingelegt und am selben Tag die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung wurde am 19. Mai 2017 eingereicht.

Auch die Einsprechende 3 legte Beschwerde ein. Mit Schreiben vom 14. Januar 2020 nahm sie aber ihren Einspruch zurück und ist somit nicht mehr am Verfahren beteiligt.

IV. Die Beschwerdeführerinnen beantragen die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

V. Die Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerden, und damit die Aufrechterhaltung des Patents im erteilten Umfang (Hauptantrag). Hilfsweise beantragt sie die Aufrechterhaltung gemäß dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrag 1a, gemäß einem der bereits erstinstanzlich vorgelegten Hilfsanträge 1-4, gemäß dem mit Schreiben vom 21. September 2020 vorgelegten Hilfsantrag 5, oder gemäß dem während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichten Hilfsantrag 6.

VI. Die unabhängige Anspruch 1 der für diese Entscheidung relevanten Anträge hat den folgenden Wortlaut:

Hauptantrag (Patent wie erteilt)

"Rotorblatt (60) einer Windenergieanlage mit einer Oberseite (Saugseite) und einer Unterseite (Druckseite), wobei entlang einer Längsachse zwischen einer Rotorblattwurzel und einer Rotorblattspitze Profile (21, 22, 23, 24, 25) im Querschnitt mit einer Vorderkante und einer Hinterkante (62) ausgebildet sind, für jedes Profil (21, 22, 23, 24, 25) jeweils eine Auslegungsanströmrichtung (31, 32, 33, 34, 35) vorbestimmt ist und die Profile (21, 22, 23, 24, 25) im äußeren, der Rotorblattspitze zugewandten Bereich mit einer relativen Dicke von weniger als 30 % ausgebildet sind, dadurch gekennzeichnet, dass entlang der Längsachse im inneren, der Rotorblattwurzel zugeordneten Bereich an Profilen (21, 22, 23, 24, 25) mit einer relativen Dicke von mehr als 30 % auf der Druckseite eine Aufsatzvorrichtung (51), die eine Aufsatzanströmfläche (52) sowie einen der Vorderkante zugewandten Aufpunkt (41, 42, 43) der Aufsatzanströmfläche (52) und einen der Hinterkante (62) zugewandten Endpunkt der Aufsatzanströmfläche (52) aufweist, angeordnet ist, wobei der Aufpunkt (41, 42, 43) der Aufsatzanströmfläche (52) in einem Bereich zwischen der Vorderkante und der Hinterkante (62) der Profile (21, 22, 23, 24, 25) angeordnet ist, so dass die Tangente an das Profil (21, 22, 23, 24, 25) im Aufpunkt (41, 42, 43) in einem Winkelbereich zwischen +20° und -20°, insbesondere zwischen +15° und -15°, zur Auslegungsanströmrichtung (31, 32, 33, 34, 35) des Profils (21, 22, 23, 24, 25) ausgebildet ist."

Hilfsantrag 1a

Wie im Hauptantrag, wobei Anspruch 1 die folgenden Änderungen aufweist (von der Kammer mit Durch- und Unterstreichung hervorgehoben):

"... der Rotorblattwurzel zugeordneten Bereich an Profilen (21, 22, 23, 24, 25) mit einer relativen Dicke von mehr als 50 % auf der Druckseite eine Aufsatzvorrichtung (51), ..., so dass die Tangente an das Profil (21, 22, 23, 24, 25) im Aufpunkt (41, 42, 43) in einem Winkelbereich zwischen [deleted: +20° und -20°, insbesondere] zwischen +15° und -15°, zur Auslegungsanströmrichtung (31, 32, 33, 34, 35) des Profils (21, 22, 23, 24, 25) ausgebildet ist."

Hilfsantrag 1

Wie im Hauptantrag, wobei Anspruch 1 die folgende Änderung aufweist (von der Kammer mit Unterstreichung hervorgehoben):

"... zugewandten Endpunkt der Aufsatzanströmfläche (52) aufweist, angeordnet ist, wobei der Endpunkt der Aufsatzanströmfläche (52) vor der Hinterkante endet, wobei der Aufpunkt (41, 42, 43) der Aufsatzanströmfläche (52) ..."

Hilfsantrag 2

Wie im Hilfsantrag 1, unter Hinzufügung des Merkmals "wobei der Aufpunkt der Aufsatzanströmfläche (52) vor dem Ablösepunkt des das Rotorblatt (60) anströmenden Mediums auf der Druckseite ausgebildet ist" am Ende des Kennzeichens.

Hilfsantrag 3

Wie im Hilfsantrag 2, wobei Anspruch 1 die folgende Änderung aufweist (von der Kammer mit Unterstreichung hervorgehoben):

"... wobei der Endpunkt der Aufsatzanströmfläche (52) als Strömungsabreißpunkt ausgebildet ist und vor der Hinterkante endet, ..."

Hilfsantrag 4

Wie im Hilfsantrag 3, wobei Anspruch 1 die folgende Änderung aufweist (von der Kammer mit Unterstreichung hervorgehoben):

"... mit einer relativen Dicke von mehr als 30 % auf der Druckseite eine nach Art eines Spoilers ausgebildete Aufsatzvorrichtung (51), die eine Aufsatzanströmfläche (52) ..."

Hilfsantrag 5

Wie im Hilfsantrag 4, wobei Anspruch 1 die folgende Änderung aufweist (von der Kammer mit Unterstreichung hervorgehoben):

"... mit einer relativen Dicke von mehr als 50 % auf der Druckseite eine nach Art eines Spoilers ausgebildete Aufsatzvorrichtung (51), ...", und wobei zudem das Merkmal "wobei die Tangente im Aufpunkt (41 , 42 , 43) im Wesentlichen parallel zur (31, 32 , 33 , 34 , 35) ausgebildet ist, wobei die Aufsatzvorrichtung (51) nachgerüstet ist und auf das Rotorblatt (60) geklebt ist, wobei bei der vorbestimmten Auslegungsschnelllaufzahl, bei der der Rotor der Windenergieanlage seinen maximalen Leistungswert erreicht, die Auslegungsanströmrichtung für jedes Profil vorliegt" am Ende des Kennzeichens hinzugefügt wurde.

Hilfsantrag 6

Wie im Hauptantrag, wobei Anspruch 1 die folgenden Änderungen aufweist (von der Kammer mit Durch- und Unterstreichung hervorgehoben):

"Windenergieanlage mit wenigstens einem Rotorblatt (60) [deleted: einer Windenergieanlage] mit einer Oberseite (Saugseite) und ..."

VII. Die Beschwerdeführerinnen Einsprechende 1 und 2 haben zu den entscheidungserheblichen Punkten Folgendes vorgetragen:

Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags und jedes der Hilfsanträge 1a und 1-4 sei nicht neu gegenüber OP1-D2. Die Hilfsanträge 5 und 6 seien nicht zum Verfahren zuzulassen.

VIII. Die Beschwerdegegnerin Patentinhaberin hat zu den entscheidungserheblichen Punkten Folgendes vorgetragen:

Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags und jedes der Hilfsanträge 1a und 1-4 sei neu gegenüber OP1-D2. Die Hilfsanträge 5 und 6 seien zum Verfahren zuzulassen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Anwendungsgebiet der Erfindung

Das Streitpatent betrifft ein Rotorblatt einer Windenergieanlage mit einer Aufsatzvorrichtung auf der Druckseite des Rotorblattes in dessen innerem nabennahen Bereich. Erfindungsgemäß ist der Aufpunkt - also der Anfang der Aufsatzvorrichtung in Bezug auf die Vorderkante des Rotorblattes - so positioniert, dass die Tangente an das Profil des Rotorblattes im Aufpunkt in einem Winkelbereich von +20° und -20° zur Auslegungsanströmrichtung des Profils ausgebildet ist. Auf diese Weise liegt der Aufpunkt vor dem jeweiligen druckseitigen Strömungsabrisspunkt des entsprechenden Profils, so dass die Strömung - statt sich vom Profil abzulösen und nutzlose Wirbel zu bilden - entlang der Aufsatzanströmfläche geführt wird und dadurch den Profilauftrieb des Rotorblatts bzw. dessen Energieertrag erhöht (Patentschrift, Absätze 38 und 39).

Außerdem wird die Verwendung einer Aufsatzvorrichtung auf einem solchen Rotorblatt sowie ein Verfahren zur Herstellung eines solchen Rotorblatts beansprucht.

3. Neuheit - Hauptantrag

3.1 Für die Neuheit von Anspruch 1 des Hauptantrags ist das Ausführungsbeispiel nach Figur 3 der OP1-D2 relevant. Diese Figur offenbart unbestritten ein Rotorblatt einer Windenergieanlage mit einer Oberseite (Saugseite) und einer Unterseite (Druckseite), wobei entlang einer Längsachse zwischen einer Rotorblattwurzel und einer Rotorblattspitze Profile im Querschnitt mit einer Vorderkante und einer Hinterkante ausgebildet sind, für jedes Profil jeweils eine Auslegungsanströmrichtung vorbestimmt ist, wobei entlang der Längsachse im inneren, der Rotorblattwurzel zugeordneten Bereich an Profilen mit einer relativen Dicke von mehr als 30 % auf der Druckseite eine Aufsatzvorrichtung, die eine Aufsatzanströmfläche sowie einen der Vorderkante zugewandten Aufpunkt der Aufsatzanströmfläche und einen der Hinterkante zugewandten Endpunkt der Aufsatz-anströmfläche aufweist, angeordnet ist (Seite 4, Zeilen 29-32: "rib 36" bildet die Aufsatzvorrichtung).

3.2 In ihrer Erwiderung vom 21. September 2020 bestritt die Beschwerdegegnerin, dass OP1-D2 Profile offenbart, die im äußeren, der Rotorblattspitze zugewandten Bereich mit einer relativen Dicke von weniger als 30 % ausgebildet sind. Den Einwand hielt sie während der mündlichen Verhandlung nicht aufrecht. Unter der relativen Dicke eines Rotorblattprofils wird das Verhältnis der größten Profildicke zur Sehnenlänge des Profils verstanden, Absatz 0010 des Patents. Bekanntlich verjüngen sich aus aerodynamischen Gründen Rotorblätter zur Blattspitze hin und sind dort wesentlich schlanker ausgebildet. Aus Sicht der Kammer betrifft dieses Merkmal somit die unvermeidliche, normale Ausgestaltung von Rotorblättern für Windkraftanlagen. Falls der Fachmann diese Ausgestaltung nicht bereits durch die Form der Rotorblattspitze in Figur 3 der OP1-D2 als offenbart ansieht, wird er sie anhand seines Fachwissen als inhärentes Merkmal der OP1-D2 mitlesen.

3.3 Im Hinblick auf die Offenbarung der OP1-D2 erkennt die Beschwerdegegnerin an, dass die Aufsatzanströmfläche in einem Bereich zwischen der Vorderkante und der Hinterkante der Profile angeordnet ist. Folglich erkennt sie implizit an, dass auch der Aufpunkt der Aufsatzanströmfläche in diesem Bereich angeordnet ist. Die Beschwerdegegnerin bestreitet jedoch, dass die Tangente an das Profil in diesem Aufpunkt in einem Winkelbereich zwischen +20° und -20° zur Auslegungs-anströmrichtung des Profils ausgebildet ist.

3.4 Die Kammer sieht das anders. Sie stimmt der Beschwerdegegnerin Patentinhaberin zwar darin zu, dass das Merkmal Auslegungsanströmrichtung im Lichte der Absätze 16 und 17 der Patentschrift auszulegen ist. Danach liegt die Auslegungsanströmrichtung bei einer vorbestimmten Auslegungsschnelllaufzahl vor, bei welcher der Rotor der Windenergieanlage seinen maximalen Leistungsbeiwert erreicht.

Dagegen ist die Kammer nicht davon überzeugt, dass anhand eines fertigen Rotorblatts auf dessen Auslegungsanströmrichtung rückgeschlossen werden kann. Laut Absatz 17 der Patentschrift handelt es sich beim maximalen Leistungsbeiwert nämlich nicht um einen eindeutigen Kennwert eines einzigen Rotorblattes, sondern um einen Kennwert des gesamten Rotors, der von verschiedenen Betriebsparametern abhängt.

Wie von der Beschwerdeführerin Einsprechende 2 während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer ausgeführt, wird diese Tatsache durch das Dokument OP3-D1 bestätigt, wonach unter anderem die Rotorblattzahl und der Einstellwinkel der Rotorblätter einen Einfluss auf den Leistungsbeiwert haben. Im Hinblick auf die Rotorblattzahl zeigt OP3-D1, dass ein 2-Blatt-Rotor seinen maximalen Leistungsbeiwert bei einer Schnelllaufzahl von 10-11 besitzt, während der Wert bei einem 3-Blatt-Rotor bereits bei einer Schnelllaufzahl von 7-8 anliegt (Seite 93, Bild 5.25). Der Verweis der Beschwerdegegnerin auf Seite 92 der OP3-D1, wonach der Einfluss der Rotorblattzahl auf die Rotorleistung vernachlässigbar sei, führt zu keiner anderen Sicht. Dieses Argument betrifft nur die Höhe als absoluten Wert des Leistungsmaximums, während die Lage dieses Leistungsmaximums weiterhin von der Schnelllaufzahl abhängt. Im Hinblick auf den Anstellwinkel der Rotorblätter zeigt OP3-D1 zudem, wie von der Beschwerdeführerin Einsprechende 2 während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer ausgeführt, dass sich der maximale Leistungsbeiwert des Rotors mit steigendem Blatteinstellwinkel zu kleineren Schnellaufzahlen verschiebt (Seite 77, Bild 5.8).

Unbestritten ist Anspruch 1 des Hauptantrags nicht auf eine bestimmte Rotorblattzahl oder einen bestimmten Einstellwinkel der Rotorblätter gerichtet. Daher ist es dem Fachmann nicht möglich, aus dem beanspruchten Rotorblatt auf die Auslegungsschnelllaufzahl des Rotors zu schließen, und daraus die Auslegungsanströmrichtung eines jeweiligen Profils zu ermitteln. Da die Auslegungsanströmrichtung somit lediglich den Entwurfsvorgang des Rotorblatts kennzeichnet und nicht mehr am fertigen Rotorblatt erkennbar ist, ist das Merkmal "die Tangente an das Profil im Aufpunkt in einem Winkelbereich zwischen +20° und -20° zur Auslegungsanströmrichtung des Profils ausgebildet ist" bei der Neuheitsprüfung von Anspruch 1 des Hauptantrags nicht zu berücksichtigen.

Daher ist es unerheblich, ob der Fachmann in OP1-D2 eine Auslegungsanströmrichtung ermitteln kann, die dazu führt, dass die Tangente an das Profil im Aufpunkt der Aufsatzanströmfläche außerhalb des beanspruchten Winkelbereichs liegt. Außerdem ist es unerheblich, ob die Formulierung "Rotorblatt einer Windenergieanlage" in Anspruch 1 enger auszulegen ist als "Rotorblatt für eine Windenergieanlage", was aus Sicht der Kammer nicht der Fall ist.

3.5 Die Kammer gelangt zum Schluss, dass das Rotorblatt der OP1-D2 alle Merkmale von Anspruch 1 des Hauptantrags offenbart, so dass dessen Gegenstand nicht neu ist, Artikel 100 (a) und 54 EPÜ.

4. Neuheit - Hilfsanträge 1a und 1-4

4.1 Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 enthält das zusätzliche Merkmal "wobei der Endpunkt der Aufsatzanströmfläche vor der Hinterkante (des Profils) endet". In diesem Zusammenhang offenbart das Dokument OP1-D2 ein Rotorblatt einer Windenergieanlage mit einer Rotorblattwurzel in Form eines zylindrischen Rohrs (Seite 4, Zeilen 15, 16 und 29-31), wobei das Rohr in Richtung der Rotorblattspitze in ein aerodynamisches Blattprofil übergeht (Anspruch 5; Figur 3). In dem Übergangsbereich befindet sich eine Aufsatzanströmfläche in Form der Rippe 36, deren in Richtung der Rotorblattspitze weisendes Ende unbestritten derart verläuft, dass der Endpunkt der Aufsatzanströmfläche vor der Hinterkante eines Profils endet. Die Beschwerdegegnerin bestreitet, dass das auch im inneren, der Rotorblattwurzel zugeordneten Bereich an Profilen mit einer relativen Dicke von mehr als 30% der Fall ist.

4.2 Die Kammer sieht das anders. Das Merkmal "an Profilen mit einer relativen Dicke von mehr als 30%" ist auf einen Bereich der relativen Dicke der Profile von >30% bis 100% gerichtet. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein solcher Bereich nur dann gegenüber einer Entgegenhaltung neu, wenn diese keinen Wert offenbart, der in diesen Bereich fällt. Gemäß Figur 3 der OP1-D2 beginnt die Aufsatzanströmfläche am Ansatzpunkt des zylindrischen Rohrs 2 an die Rotornabe 3 der Windenergieanlage. Aufgrund der Zylinderform des Rohrs beträgt die relative Dicke der Profile an diesem Ansatzpunkt 100%, unabhängig davon, ob dort überhaupt eine Saug- und eine Druckseite vorliegt. Daran anschließend geht das Rohr in Richtung der Rotorblattspitze kontinuierlich in ein aerodynamisches Blattprofil über. Das bedingt, dass die relative Dicke der Profile in Richtung der Blattspitze abnimmt, so dass sie in diesem Übergangsbereich Werte von weniger als 100% aufweist. Da im unteren, rotorspitzennahen Bereich dieses Übergangs zudem unbestritten der Endpunkt der Aufsatzanströmfläche vor der Hinterkante eines Profils endet, muss es zwingend einen Bereich geben, in welchem die Profile eine relative Dicke von mehr als 30% aufweisen, und wo der Endpunkt der Aufsatzanströmfläche vor der Hinterkante eines Profils endet. Dieser zwingend in OP1-D2 enthaltene Bereich nimmt dem zusätzlichen Merkmal in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 die Neuheit.

4.3 Anspruch 1 der Hilfsantrags 2 enthält das weitere Merkmal "wobei der Aufpunkt der Aufsatzanströmfläche (52) vor dem Ablösepunkt des das Rotorblatt (60) anströmenden Mediums auf der Druckseite ausgebildet ist". Die Beschwerdegegnerin bestreitet, dass ein solcher Ablösepunkt in OP1-D2 offenbart sei.

Die Kammer sieht das anders. Sinn und Zweck der in OP1-D2 offenbarten Aufsatzanströmfläche in Form der Rippe 36 ist es, die Energieausbeute des Rotorblatts zu erhöhen (Seite 2, Zeilen 9 und 10; Seite 3, Zeile 20). Diese Lehre der OP1-D2 impliziert für einen Fachmann auf dem Gebiet der Windenergieanlagen, dass die Rippe im aerodynamisch signifikanten Bereich der Druckseite aufgebracht sein muss, damit sie ihre Wirkung entfalten kann. Somit muss das anströmende Medium, bevor es sich ablöst, auf die Rippe treffen und entlang mindestens eines Teils der Rippe geführt werden. Hätte sich die Strömung nämlich schon vor dem Aufpunkt der Rippe vom Rotorblatt abgelöst, könnte kein Energieeintrag mehr in das Rotorblatt erfolgen. Diese implizite Lehre der OP1-D2 nimmt dem zusätzlichen Merkmal in Anspruch 1 der Hilfsanträge 2-4 die Neuheit.

4.4 Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer brachte die Beschwerdegegnerin Patentinhaberin keine weiteren Argumente zu den Hilfsanträgen 1a, 3 und 4 vor. Zu diesen Hilfsanträgen hat die Kammer bereits in ihrer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK, Abschnitt 4.2, die Auffassung vertreten, dass deren zusätzliche Merkmale in OP1-D2 (in der Mitteilung als D2 bezeichnet) offenbart sind. Sie hat dazu die folgende vorläufige Meinung geäußert:

"Das zusätzliche Merkmal "relative Dicke von mehr als 50%" im Hilfsantrag 1a scheint bereits in ... D2 (die Rippe beginnt am Verbindungsteil 2, das wegen seiner zylindrischen Form eine relative Dicke von 100% zu haben scheint) offenbart zu werden.

- Das zusätzliche Merkmal "Endpunkt der Aufsatzanströmfläche vor der Hinterkante endet" in den Hilfsanträgen 1-4 scheint in D2 zumindest für den nabennahen Bereich der Rippe 6 offenbart zu werden.

- Das zusätzliche Merkmal "Aufpunkt ... vor dem Ablösepunkt" in den Hilfsanträgen 2-4 scheint in D2 implizit offenbart zu werden, da die Rippe nur dann den Energieertrag zu erhöhen scheint, wenn die Strömung auch noch an der Rippe anliegt, also noch nicht abgelöst ist.

- Das zusätzliche Merkmal "Endpunkt der Aufsatzanströmfläche als Strömungsabreißpunkt ausgebildet" in den Hilfsanträgen 3 und 4 scheint in D2 implizit offenbart zu werden, da die Strömung am Ende der Rippe das Rotorblatt verlässt und deswegen zwangsläufig abzureißen scheint.

- Das zusätzliche Merkmal "nach Art eines Spoilers ausgebildet" in Hilfsantrag 4 scheint in D2 implizit offenbart zu werden, da die Rippe einen Spoiler zu bilden scheint."

Die Beschwerdeführerin hat dazu nicht weiter Stellung genommen. Mangels weiterer Ausführungen sieht die Kammer keinen Grund, von ihrer Sichtweise abzuweichen. Die Kammer sieht diese Merkmale daher als in D2 offenbart an, so dass bereits deswegen der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1a nicht neu gegenüber OP1-D2 ist.

4.5 Aus dem Vorstehenden folgt, dass der Gegenstand von Anspruch 1 der Hilfsanträge 1a und 1-4 nicht neu gegenüber der Offenbarung der OP1-D2 ist.

5. Hilfsanträge 5 und 6 - Zulassung zum Verfahren

5.1 Mit Schreiben vom 21. September 2020, und damit nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung, reichte die Beschwerdegegnerin Patentinhaberin den Hilfsantrag 5 ein. Die Vorlage des weiteren Hilfsantrags 6 erfolgte erst in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer.

Die verspätet vorgelegten Hilfsanträge 5 und 6 stellen geändertes Vorbringen dar, dessen Zulassung nach Maßgabe der Erfordernisse des Artikels 13 VOBK 2007 i.Z.m Artikel 25(3) VOBK 2020 erfolgt. Gemäß einem von den Kammern bei Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13(3) VOBK 2007 häufig angewandten Ansatz werden erst nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung eingereichte Anträge bzw. in der mündlichen Verhandlung eingereichte Anträge nur dann zugelassen, wenn sie u.a. eindeutig und offensichtlich gewährbar sind, d.h. für die Kammer muss ohne großen Ermittlungsaufwand sofort ersichtlich sein, dass die vorgenommenen Änderungen den aufgeworfenen Fragen erfolgreich Rechnung tragen, ohne ihrerseits zu neuen Fragen Anlass zu geben (RdBK, 9. Auflage 2019, V.A.4.5.1 a) und b)).

5.2 Diese Bedingung ist im vorliegenden Fall weder für den Hilfsantrag 5 noch für den Hilfsantrag 6 erfüllt:

5.2.1 Im Hilfsantrag 5 wird aus Sicht der Beschwerdegegnerin durch das in Anspruch 1 hinzugefügte Merkmal "wobei bei der vorbestimmten Auslegungsschnelllaufzahl, bei der der Rotor der Windenergieanlage seinen maximalen Leistungswert erreicht, die Auslegungsanströmrichtung für jedes Profil vorliegt" klargestellt, wie die Auslegungsanströmrichtung ermittelt wird. Die Kammer ist von diesem Argument nicht überzeugt, da das Merkmal einen Verfahrensschritt bei der Auslegung des Rotors betrifft. Die daraus hervorgehenden Beschränkungen für den Vorrichtungsanspruch 1 sind nicht klar, da nach wie vor zweifelhaft ist, ob eine solche Auslegung auch am fertig ausgelegten Rotorblatt derart erkennbar ist, dass es andere Eigenschaften als ein vorbekanntes Rotorblatt aufweist. Es ist daher fraglich, ob der geänderte Anspruch deutlich ist, Artikel 84 EPÜ.

Dessen ungeachtet ist Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 5 unbestritten weder auf eine bestimmte Rotorblattzahl noch auf einen bestimmten Einstellwinkel der Rotorblätter gerichtet. Wegen der fehlenden Rotorblattzahl und des fehlenden Einstellwinkels ist es dem Fachmann aus den im Zusammenhang mit dem Hauptantrag genannten Gründen nicht möglich, aus dem beanspruchten Rotorblatt auf die Auslegungs-schnelllaufzahl des Rotors zu schließen und daraus die Auslegungsanströmrichtung eines jeweiligen Profils des Rotorblatts zu ermitteln. Daher wird der Neuheitseinwand gegenüber OP1-D2 durch diese Änderung nicht ausgeräumt, Artikel 54 (1) EPÜ.

5.2.2 Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 6 ist auf eine Windenergieanlage gerichtet. Da eine Windenergieanlage implizit einen Rotor enthält, wird die Rotorblattzahl durch diese Änderung festgelegt. Anspruch 1 ist jedoch unbestritten nicht auf einen bestimmten Einstellwinkel der Rotorblätter gerichtet. Deswegen ist es dem Fachmann aus den im Zusammenhang mit dem Hauptantrag genannten Gründen nicht möglich, aus dem beanspruchten Rotorblatt auf die Auslegungsschnelllaufzahl des Rotors zu schließen und daraus die Auslegungsanströmrichtung eines jeweiligen Profils des Rotorblatts zu ermitteln. Daher wird der Neuheitseinwand gegenüber OP1-D2 durch diese Änderung nicht ausgeräumt, Artikel 54 (1) EPÜ.

5.3 Somit werden nun von den Hilfsanträgen 5 und 6 Fragen unter Artikel 84 EPÜ bzw. Artikel 54 EPÜ aufgeworfen, die dazu führen, dass der geänderte Anspruch 1 keines dieser Anträge eindeutig und offensichtlich gewährbar im obigen Sinne ist. Folglich kam eine Zulassung für die Kammer nicht in Betracht, und entschied sie in Ausübung ihres Ermessens, die Hilfsanträge 5 und 6 nicht ins Verfahren zuzulassen, Artikel 13(3) VOBK 2007.

6. Weder der Hauptantrag noch die Hilfsanträge 1a und 1-4 sind gewährbar, da der Gegenstand von Anspruch 1 jedes dieser Anträge nicht neu ist, Artikel 54 EPÜ. Die Hilfsanträge 5 und 6 wurden nicht zum Verfahren zugelassen, Artikel 13(3) VOBK 2007.

Im Gegensatz zum Befund der angegriffenen Entscheidung stellt die Kammer somit fest, dass das Patent wie erteilt nicht die Erfordernisse des EPÜ erfüllt. Sie befindet zudem, dass unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen dieses Übereinkommens nicht genügen, Artikel 101 (3) b) EPÜ.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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