European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2021:T036417.20210715 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 15 Juli 2021 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0364/17 | ||||||||
Anmeldenummer: | 12004514.1 | ||||||||
IPC-Klasse: | G01S 19/21 G01S 19/03 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Verfahren und System zum Ermitteln der Position eines in einem Kraftfahrzeug angeordneten GNSS-Empfängers | ||||||||
Name des Anmelders: | Airbus Defence and Space GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Toll Collect GmbH | ||||||||
Kammer: | 3.4.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Patentansprüche - Auslegung von System- und Verfahrensansprüche Einspruchsgründe - mangelhafte Offenbarung (nein) Einspruchsgründe - mangelnde Patentierbarkeit des Systemanspruchs (ja) Einspruchsgründe - mangelnde Patentierbarkeit des Verfahrensanpruch (nein) Berücksichtigung von Beweismittel, die die Entscheidung nicht zugrunde liegen (nein) Änderung nach Ladung - berücksichtigt (ja) Rügepflicht - Einwand zurückgewiesen |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäischen Patent EP2535737 zurückzuweisen.
II. Die Einspruchsabteilung befand, dass die erteilten unabhängigen Ansprüche sowohl ausführbar als auch erfinderisch seien, und zwar angesichts von u.a.
D7|Artikel "No jam tomorrow", 10 March 2011, http://www.economist.com/node/18304246.|
III. In der Beschwerdeschrift beantragte die Einsprechende, unter Aufhebung der Entscheidung, den Widerruf des Patents. In der Beschwerdebegründung macht sie geltend, dass die in den unabhängigen Ansprüchen definierte Erfindung weder ausführbar noch angesichts von D7 neu und erfinderisch sei.
IV. Zudem reichte sie neue Beweismittel ein, u.a.
D16|WO 2010/062418 A2|
D18|DE 10 2014 104 564 B4.|
Diese seien für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit und der Ausführbarkeit relevant.
V. In ihrer Beschwerdeerwiderung beantragte die Patentinhaberin die Zurückweisung der Beschwerde. Zudem wurden drei neue Hilfsanträge eingereicht. Die Dokumente D16 und D18 seien nicht zu berücksichtigen.
VI. Mit weiteren Schriftsätzen argumentierte die Einsprechende gegen die Berücksichtigung und Patentfähigkeit der Hilfsanträge. Auch wurde weiteres Vorbringen erstattet, u.a. bezüglich der Auslegung der Verfahrens- und Systemansprüche und deren Neuheit gegenüber D7.
VII. Die Patentinhaberin reichte vier weitere Hilfsanträge ein.
VIII. In einer mit einer Ladung zur mündlichen Verhandlung versandten Mitteilung wurden die Parteien unter anderem informiert, dass die Kammer dazu geneigt sei, weder die Dokumente D16 und D18 noch die Hilfsanträge zu berücksichtigen.
IX. Die Patentinhaberin reichte einen neuen Hilfsantrag A ein, der nach dem Hauptantrag zu berücksichtigen sei und der bis auf die Streichung der Systemansprüche 10 und 11 mit dem Hauptantrag identisch sei.
X. Vor der Kammer fand eine mündliche Verhandlung statt.
XI. Vor Abschluss der sachlichen Debatte erhob die Einsprechende unter Hinweis auf die Rügepflicht nach Regel 106 EPÜ Einwände gegen zwei angeblich während der mündlichen Verhandlung aufgetretene Verfahrensmängel:
a) Das Merkmal, auf dessen Basis Anspruch 1 des Hauptantrags für erfinderisch befunden wurde, sei vor der Schlussfolgerung nicht erörtert worden. D.h. die Einsprechende sei in dieser Angelegenheit nicht angemessen angehört worden.
b) Die Zulassung des Hilfsantrags A im Verfahren sei insbesondere deshalb unrichtig, weil keine außergewöhnlichen Umstände eine Zulassung rechtfertigen würden.
XII. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet (Bezugszeichen weggelassen):
Verfahren zum Ermitteln der Position eines in einem Kraftfahrzeug angeordneten GNSS-Empfängers, dessen bestimmungsgemäße Funktion von einer Störquelle in dem Kraftfahrzeug gezielt beeinträchtigt ist, mittels eines Sensornetzwerks, das eine jeweilige Sensoreinheit zur Störquellendetektion an vorgegebenen Verkehrswegepunkten umfasst, bei dem:
- beim Passieren des Kraftfahrzeugs eines der Verkehrswegepunkte durch die Sensoreinheit des Verkehrswegepunkts ein von der Störquelle abgegebenes Störsignal und/oder ein von einem GNSS-Satelliten ausgesendetes und von der Störquelle beeinträchtigtes Empfangssignal des GNSS-Empfängers detektiert werden;
- die detektierten Signale verarbeitet werden, um das Vorhandensein der Störquelle in dem Kraftfahrzeug festzustellen; und
- beim Vorhandensein der Störquelle eine Information erzeugt wird, welche zumindest den Ort des Verkehrswegepunkts und die Störquelle in dem Kraftfahrzeug signalisiert, wobei aus dem Ort des Verkehrswegepunkts die Position des Kraftfahrzeugs ermittelt wird.
XIII. Anspruch 10 des Hauptantrags lautet:
System zum Ermitteln der Position eines in einem Kraftfahrzeug angeordneten GNSS-Empfängers, dessen bestimmungsgemäße Funktion von einer Störquelle in dem Kraftfahrzeug gezielt beeinträchtigt ist, bei dem
- eine jeweilige Sensoreinheit an vorgegebenen Verkehrswegepunkten angeordnet sind, wobei die Sensoreinheit dazu ausgebildet sind, beim Passieren des Kraftfahrzeugs eines der Verkehrswegepunkte ein von der Störquelle abgegebenes Störsignal und/oder ein von einem GNSS-Satelliten ausgesendetes und von der Störquelle beeinträchtigtes Empfangssignal des GNSS-Empfängers zu detektieren;
- eine Recheneinheit vorgesehen ist zur Verarbeitung der detektierten Signale, um das Vorhandensein der Störquelle in dem Kraftfahrzeug festzustellen; und
- beim Vorhandensein der Störquelle eine Information erzeugbar ist, welche zumindest den Ort des Verkehrswegepunkts und die Störquelle in dem Kraftfahrzeug signalisiert, wobei aus dem Ort des Verkehrswegepunkts die Position des Kraftfahrzeugs ermittelbar ist.
XIV. Der Hilfsantrag A und der Hauptantrag sind bis auf die Streichung der Systemansprüche 10 und 11 identisch.
Entscheidungsgründe
Die Erfindung
1. Das Patent befasst sich mit der Ermittlung der Position eines in einem Kraftfahrzeug angeordneten GNSS-Empfängers, dessen Funktion von einer Störquelle im Kraftfahrzeug gezielt beeinträchtigt ist (Absätze [0001] und [0007]).
2. Diese Ermittlung erfolgt mittels eines Sensornetzwerks, welches eine jeweilige Sensoreinheit zur Störquellendetektion an vorgegebenen Verkehrswegepunkten umfasst (Absatz [0009]).
3. Es soll damit nicht nur möglich sein, eine Manipulation der Funktionsfähigkeit des GNSS-Empfängers aufzuspüren. Vielmehr soll damit die ursprüngliche Funktionalität des GNSS-Empfängers (Diebstahlschutz oder Wegbestimmung) zumindest teilweise wieder hergestellt werden (Absätze [0010] bis [0014]).
Auslegung der Verfahrensanspruch 1 und Systemanspruch 10
4. Anspruch 1 definiert ein Verfahren zum Ermitteln der Position eines in einem Kraftfahrzeug angeordneten GNSS-Empfängers, dessen bestimmungsgemäße Funktion von einer Störquelle beeinträchtigt wird, mittels eines Sensornetzwerks, das eine jeweilige Sensoreinheit zur Störquelledetektion and vorgegebenen Verkerswegepunkten umfasst.
5. Im Verlauf dieses Verfahrens werden beim Passieren des Kraftfahrzeugs eines der Verkehrswegepunkte durch die Sensoreinheit des Verkehrswegepunkts Signale detektiert und verarbeitet, um das Vorhandensein einer Störquelle im Kraftfahrzeug festzustellen.
6. Die detektierten Signale sind anspruchsgemäß ein von der Störquelle abgegebenes Störsignal und/oder ein von einem GNSS-Satelliten ausgesendetes und von der Störquelle beeinträchtigtes Empfangssignal des GNSS-Empfängers.
7. Nach der Feststellung, dass eine Störquelle vorhanden ist, wird anspruchsgemäß aus dem Ort dieses Verkehrswegepunkts, die Position des Kraftfahrzeugs ermittelt.
8. Die Einsprechende argumentiert, dass trotz der oben (kursiv wiedergegeben) Formulierungen des Anspruchs lediglich ein Verfahren zum Ermitteln der Position einer Störquelle beansprucht werde, da im Endeffekt lediglich diese detektiert und lokalisiert werde.
9. Tatsächlich würde die Fachperson angesichts der Genauigkeit von Positionsbestimmungen in diesem technischen Gebiet verstehen, dass die Position der Störquelle und die des Kraftfahrzeugs und des GNSS-Empfängers ein und dieselbe ist. Diese Auslegung wird zudem von der Offenbarung des Absatzes [0013] explizit gestützt.
10. Die Fachperson würde auch verstehen, dass das im Anspruch definierte detektierte Signal entweder ein von der Störquelle erzeugtes und abgegebenes Störsignal oder ein von einem GNSS-Satelliten ausgesendetes und von der Störquelle beeinträchtigtes Signal ist, auch wenn in letzterem Fall im Anspruch von einem Empfangssignal des GNSS-Empfängers die Rede ist. Diese Auslegung des Anspruchs wird zudem durch die Absätze [0028] und [0029] des Patents gestützt.
11. Es stimmt also, dass im Endeffekt lediglich eine Störquelle detektiert und lokalisiert wird.
12. Die Kammer sieht jedoch die oben kursiv wiedergegeben Formulierungen des Anspruchs als gegenüber einem Verfahren zum Ermitteln der Position einer beliebigen Störquelle deutlich eingeschränkt an.
13. Nach dem beanspruchten Verfahren bewegt sich ein Kraftfahrzeug im Verkehr mit einem GNSS-Empfänger und einer Störquelle. Dies sind Randbedingungen des beanspruchten Verfahrens. Verfahren, die die Position eines sich im Verkehr bewegenden Kraftfahrzeugs nicht ermitteln, werden vom Anspruch 1 nicht umfasst.
14. Der Verfahrensanspruch 1 ist also eingeschränkt gegenüber einem allgemeinen Verfahren zum Ermitteln der Position einer Störquelle (siehe auch Rechtsprechung der Beschwerdekammern I.C.8.1.1 und I.C. 8.1.3 c)).
15. Anspruch 1 definiert auch, dass Signale beim passieren des Kraftfahrzeugs eines der Verkehrwegepunkte durch die Sensoreinheit des Verkehrswegepunkts detektiert werden, die gearbeitet werden um das Vorhandsein einer Störquelle im Kraftfahrzeug festzustellen. Nach der Feststellung des Vorhandenseins einer Störquelle wird aus dem Ort des Verkehrswegepunkts die Position des Kraftfahrzeugs ermittelt.
16. Für das Ermitteln der Position des Kraftfahrzeugs wird also eine einzige Sensoreinheit benutzt und als Position des Kraftfahrzeugs wird der Ort des Verkehrswegepunktes verwendet. Dieses Verständnis wird zudem von der Offenbarung der Absätze [0013] und [0014] des Patents gestützt.
17. Die Einsprechende argumentiert dagegen, dass die Tatsache, dass im Anspruch ein Sensornetzwerk definiert ist, der Auslegung widerspreche, wonach eine einzige Sensoreinheit für das Ermitteln der Position des Kraftfahrzeugs benutzt werde.
18. Die Kammer ist der Auffassung, dass das Sensornetzwerk aus dem Ziel entsteht, eine im Verkehr bewegliche Störungsquelle aufzuspüren und zu verfolgen. Ein Netzwerk ist für die Bestimmung einzelner Positionen nicht nötig. Das Sensornetzwerk widerspricht also nicht der Auslegung, dass eine einzige Sensoreinheit für das Ermitteln der Position des Kraftfahrzeugs benutzt wird.
19. Bezüglich dieses letzten Merkmals der unabhängigen Ansprüche ist auch anzumerken, dass der Systemanspruch 10 sowohl die Information über den Ort der Sensoreinheit als auch die Position des Kraftfahrzeugs anders als in Verfahrensanspruch 1 lediglich als erzeugbar und ermittelbar definiert.
20. Der Systemanspruch 10 definiert also ein System, das lediglich dazu konfiguriert ist, das Vorhandensein einer Störquelle festzustellen, nicht aber die Information über den Ort der Sensoreinheit oder die Position des Kraftfahrzeugs zu erzeugen bzw. zu ermitteln.
21. Zudem definiert der Systemanspruch 10 lediglich ein System, das für die angegebene Verwendung geeignet ist (Rechtsprechung der Beschwerdekammern I.C. 8.1.5).
22. Daher sind die unabhängige Verfahrens- und Systemansprüche unterschiedlich auszulegen.
Ausführbarkeit der Erfindung, Artikel 100 b) EPÜ
23. Die Kammer ist von den Einwänden bezüglich mangelnder Offenbarung nicht überzeugt.
24. Diese werfen eher Fragen der Auslegung der unabhängigen Ansprüche auf, die die Klarheit der Ansprüche betreffen und die oben (Absätze 4 - 22) behandelt wurden.
25. Es muss aber noch die Argumente eingegangen werden, die die Implementierung der Signaldetektion und die Zuordnung der ermittelten Kraftfahrzeugposition zu einem bestimmten Kraftfahrzeug in Frage stellen.
26. Zum Prioritätsdatum war der Fachperson schon bekannt, wie ein von einer Störquelle erzeugtes Störsignal oder ein von einem GNSS-Satelliten ausgesendetes und von einer Störquelle beeinträchtigtes GPS-Signal detektiert werden konnte. Auch in den Absätzen [0028] und [0029] des Patents ist dies angedeutet.
27. Die Fachperson wird auch in den Absätzen 18 und 19 des Patents gelehrt, wie nach der Feststellung einer Störquelle an einem Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt ein identifizierbares Kraftfahrzeug dieser Position zugeordnet werden kann.
28. Daher kommt offenbart das Patent die Erfindung so deutlich und vollständig, dass eine Fachperson sie ausführen kann.
Der in Dokument D7 beschriebene Stand der Technik
29. D7 beschäftigt sich mit der zunehmenden Anwendung von Satellitenortungstechnologie und deren Verhinderung durch den Einsatz von Störquellen, die gezielt die Ortungsfunktion beeinträchtigen.
30. Die Problematik, die durch die verbreitete Benutzung solcher Störquellen in Fahrzeugen entsteht, wird in den Absätzen 2 bis 7 erörtert.
31. Im Absatz 8 wird der Bedarf an neuartigen Herangehensweisen erörtert.
32. Für die Beschwerde sind die Absätze 9 bis 11, die sich mit den Forschungsprojekten GAARDIAN und SENTINEL beschäftigen, von besonderer Bedeutung.
33. Im Rahmen des Projekts GAARDIAN wurde ein System zur Bereitstellung von Echtzeitinformationen über die Zuverlässigkeit von GPS an Flughäfen oder anderen sensiblen Orten entwickelt. Dieses System umfasst ein Sensornetzwerk, welches jeweilige Sensoreinheiten (Proben) an vorgegebenen Punkten umfasst. Jede Sensoreinheit kann Störungen von GPS-Signale in Echtzeit detektieren und zwischen natürlichen und menschlich verursachten Störungen differenzieren (Absatz 10).
34. Das Projekt SENTINEL beruht auf einem ähnlichen Sensornetzwerk, deren Sensoreinheiten so miteinander verbunden sind, dass auch die Position einer detektierten Störquelle durch Triangulation bestimmt werden kann (Absatz 11).
35. Hinzuweisen ist in diesem Kontext auch auf Absatz 13, wonach manche Experten die kostengünstige Anwendung solche Systeme zur Lokalisierung von Störquellen niedriger Leistung in der Nähe ziviler Infrastrukturen skeptisch sehen, da diese eine sehr hohe Sensordichtheit erfordern würde.
Gegenstand des Anspruchs 1 im Vergleich zu D7
36. Absatz 11 von D7 offenbart zwar einen Verfahren zum Ermitteln der Position einer Störquelle mittels eines Sensornetzwerks, jedoch werden weder die mögliche Platzierung einer solchen Störquelle noch deren Beweglichkeit bekanntgegeben, geschweige denn, dass einen sich im Verkehr bewegenden Kraftfahrzeug erwähnt wird.
37. Absatz 11 von D7 offenbart also weder ein Verfahren zum Ermitteln der Position eines Kraftfahrzeugs noch, dass beim Passieren des Kraftfahrzeugs einer der Verkehrswegepunkte durch die Sensoreinheit des Verkehrswegepunkts Signale detektiert werden.
38. Zudem wird dem Ort dieses Verkehrswegepunkts nicht mit der Position des Kraftfahrzeugs gleichgesetzt, da in dem in Absatz 11 von D7 beschrieben Verfahren die Position einer Störquelle durch Triangulation ermittelt wird.
39. Daher ist der Gegenstand des Verfahrensanspruchs 1 neu gegenüber D7.
40. Die oben erwähnten Unterschiede stellen eine neue Anwendung des im Absatz 11 des Dokuments D7 offenbarten Systems dar.
41. Die Fachperson hat also die Aufgabe, andere Anwendungen des im Absatz 11 von D7 offenbarten Systems zu suchen.
42. Angesichts der ersten Absätze der Offenbarung von D7 (siehe insbesondere Absätze 2 und 6) wäre die Anwendung dieses Systems zur Erkennung und Ermittlung der Position einer in einem Fahrzeug vorhandenen Störquelle naheliegend.
43. Die Patentinhaberin argumentiert, angesichts der in Absatz 13 von D7 dargestellten Skepsis, dass die Fachperson von dieser Idee Abstand nehmen würde. Sie würde stattdessen die im Absatz 14 von D7 als einfacher bezeichneten Lösung implementieren.
44. Dies vermag die Kammer nicht zu überzeugen.
45. Im Gegenteil lehrt der Absatz 13 die Fachperson, dass es technisch möglich wäre, solche Systeme in zivile Infrastrukturen, wie zum Beispiel Verkehrsinfrastrukturen, zu implementieren. Man müsse nur auf die Sensorendichte achten.
46. Kostenüberlegungen sind keine technischen Überlegungen und genügen daher nicht, um die Fachperson von einer technischen Lösung der technischen Aufgabe Abstand nehmen zu lassen.
47. Zudem stellt die Offenbarung des Absatzes 14 von D7 keine alternative Lösung zu der oben gestellte Aufgabe dar (siehe Punkt 42 oben), da Absatz 14 keine neue Anwendung des im Absatz 11 von D7 offenbarten Systems zeigt.
48. Aber auch die Fachperson, die den im Absatz 11 von D7 offenbarten System zur Erkennung und Ermittlung der Position einer in einem Fahrzeug vorhandenen Störquelle anwendet, und zwar mittels eines Sensornetzwerks, das eine jeweilige Sensoreinheit an vorgegebenen Verkehrswegepunkten umfasst, wäre nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 gekommen.
49. Der Grund hierfür ist, dass ein solches Verfahren die Position des Kraftfahrzeugs nicht mit dem Ort des Verkehrswegepunkts gleichgesetzt hätte, bzw. diese Position nicht auf Basis von Informationen einer einzigen Sensoreinheit ermittelt hätte, sondern durch die in D7 beschriebene Triangulation, also aus Informationen von mehreren Sensoreinheiten.
50. In D7 ist auch keine Offenbarung zu finden, die die Fachperson zur Idee gebracht hätte, die Position des Kraftfahrzeugs auf Basis von Informationen aus einer einzigen Sensoreinheit zu ermitteln.
51. Die Offenbarung im Absatz 11 von D7, dass, wenn bei einer Sensoreinheit ein Leistungsverlust auftritt und bei den anderen eine geringere, dies bei der Lokalisierung der Störquelle helfen könnte, ist kein Hinweis auf eine Gleichsetzung des Ortes des Verkehrspunkts mit der Position der Störquelle. Vielmehr bestätigt diese Passage, dass für die in D7 beschriebene Triangulation im Gegensatz zum Anspruch 1 eine Zusammenarbeit zwischen mehrere Sensoreinheiten erforderlich ist.
52. Daher beruht angesichts von D7 der Verfahrensanspruch 1 auf erfinderischer Tätigkeit.
Systemanspruchs 10 gegenüber D7
53. Das im Absatz 10 von D7 offenbarte System ist dazu geeignet, alle Funktionen eines Systems nach Anspruch 10 zu erfüllen.
54. Anspruchsgemäß muss eines der zwei alternativen Signale durch mehrere Sensoreinheiten detektierbar sein. Dies ergibt sich aus der Offenlegung der zwei ersten Sätze im Absatz 10 von D7.
55. Die Bearbeitung der detektierten Signale ist Aufgabe einer Recheneinheit. Diese legt allerdings anspruchsgemäß lediglich das Vorhandenseins einer Störung in der Nähe der Sensoreinheit fest (siehe oben Punkt 19 ), was im letzten Satz des Absatzes 10 von D7 auch offenbart wird.
56. Daher erkennt die Kammer keinen Unterschied zwischen dem Gegenstand des Systemanspruchs 10 und der Offenbarung des Absatzes 10 vom Dokument D7, und daher auch keine erfinderische Tätigkeit.
57. An dieser Stelle lohnt ist darauf hinzuweisen, dass die Behauptung, dass die nächstliegende Entgegenhaltung für die Patentansprüche neuheitsschädlich ist, bei der Entscheidung über den Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit geprüft werden kann, ohne dass die mangelnde Neuheit als neuer Einspruchsgrund eingeführt werden muss (siehe 2. Satz des Leitsatzes der Entscheidung G 7/95 Neue Einspruchsgründe, Amtblatt des EPA 1996, 626).
Nichtberücksichtigung der Dokumente D16 und D18
58. Die Dokumente D16 und D18 wurden erst mit der Beschwerdebegründung eingereicht.
59. D16 sollte einen neuen Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit der unabhängigen Ansprüche ausgehend von D7 begründen, da es die Bestimmung der Position einer Störquelle durch eine einzige Sensoreinheit offenbaren sollte.
60. D18 sollte die Argumentation bezüglich mangelnder Ausführbarkeit unterstützen, da es beweisen sollte, dass eine solche Bestimmung nicht möglich sei.
61. Wie schon in der mit Mitteilung der Kammer zum Ausdruck gebracht, ist weder D16 noch D18 als rechtzeitige angemessene Reaktion auf Argumente, Überlegungen oder Begründungen, die erst in der Entscheidung auftauchten, anzusehen.
62. Die vorläufige Meinung der Einspruchsabteilung war bereits negativ für die Einsprechende ausgefallen und es wurden Überlegungen angestellt, die später auch in den Entscheidungsgründen verfolgt wurden.
63. Es gab also schon vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung Anlass, D16 und D18 vorzulegen. Da die Dokumente aber erst mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurden, konnten sie nicht in der angefochtene Entscheidung berücksichtigt werden.
64. Im Hinblick auf das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen, geht also dieses daher verspätete Vorbringen der Parteien über den Beschwerderahmen hinaus (Artikel 12(2) VOBK 2020).
65. Zudem ist weder D16 noch D18 für die zu treffende Entscheidung prima facie relevant. D16 beschäftigt sich nicht einmal mit dem Ermitteln der Position eines Kraftfahrzeugs, und D18, das nicht mal zum Stand der Technik gehört, offenbart ein alternatives Verfahren zum Ermitteln der Position eines Kraftfahrzeugs mittels mindestens zwei Sensoreinheiten.
66. Daher werden diese Dokumente nicht berücksichtigt.
Berücksichtigung und Patentierbarkeit des Hilfsantrags A
67. Der Hilfsantrag A wurde nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht, ist aber bis auf die Streichung der Systemansprüche 10 und 11 mit dem Hauptantrag identisch.
68. Für diesen Abtrag gilt Artikel 13(2) VOBK 2020, vobei auch auf die Kriterien nach Artikel 13(1) VOBK 2020 zurückgegriffen werden kann (siehe Zusatzpublikation 2, Amtsblatt 2020, VOBK 2020, Tabelle zu den Änderungen der VOBK mit Erläuterungen, S. 60).
69. Die Einsprechende argumentierte, dass dieser verspätet gestellte Antrag eine Änderung des Beschwerdevorbringens darstelle, die nach Artikel 13(2) VOBK 2020 nicht zuzulassen sei, da keine außergewöhnlichen Umstände vorlägen. Es sei keine Überraschung, dass Verfahrens- und Systemansprüche unterschiedlich ausgelegt werden.
70. Die Patentinhaberin argumentierte dagegen,
a) dass der Hilfsantrag A lediglich Ansprüche streiche und damit keine Änderung ihres Beschwerdevorbringens darstelle; und,
b) dass außergewöhnliche Umstände vorliegen würden, da die zwei unabhängigen Ansprüche erstmalig in der vorläufigen Meinung der Beschwerdekammer entkoppelt berücksichtigt worden seien, mit dem Ergebnis, dass der eine als eventuell erfinderisch bewertet wurde, der andere dagegen als eventuell nicht neu.
71. Tatsächlich wurde vor der vorläufigen Meinung der Kammer hauptsächlich der Verfahrensanspruch erörtert.
72. Zum Systemanspruch wurde lediglich sowohl in der Einspruchsschrift als auch in der angefochtenen Entscheidung und in der Erwiderung der Beschwerde pauschal vorgetragen, dass Schlussfolgerungen für den Verfahrensanspruch entsprechend auch für den Systemanspruch gelten.
73. Die Einsprechende hat sich in einem nach der Beschwerdebegründung eingereichten Schriftsatz (siehe Punkt VI, oben) mit den möglichen unterschiedlichen Auslegungen der Verfahrens- und Systemansprüche beschäftigt. Allerdings wurde argumentiert, dass in diesem Fall die Zweckangabe im Verfahrensanspruch 1 analog zum Systemanspruch 10 lediglich als für das beanspruchte Verfahren geeignet zu verstehen sei.
74. Erstmalig in der vorläufigen Meinung der Beschwerdekammer wurden also die zwei unabhängigen Ansprüche entkoppelt berücksichtigt.
75. Hilfsantrag A räumt die mangelnde Neuheit des Systemanspruchs gegenüber der Offenbarung von D7 aus, gibt keinerlei Anlass zu neuen Einwänden, ändert die Diskussion zum Verfahrensanspruch nicht und beeinträchtigt die Verfahrensökonomie nicht.
76. Diese Umstände sieht die Kammer als außergewöhnlich, auch wenn es nicht überraschend sein sollte, dass Verfahrens- und Systemansprüche unterschiedlich auszulegen sind.
77. Daher ist Hilfsantrag A zu berücksichtigen.
78. Da dieser Antrag bis auf die Streichung der Systemansprüche mit dem Hauptantrag identisch ist, gelten alle Schlussfolgerungen die oben bezüglich des Verfahrensanspruchs 1 des Hauptantrags getroffen wurden, auch für den unabhängigen Verfahrensanspruch 1 dieses Antrags.
79. Da keiner der Einwände gegenüber diesem Antrag überzeugend ist, ist das Patent mit diesen Ansprüchen, mit den ursprünglichen Zeichnungen und mit eventuell noch angepasster Beschreibung aufrecht zu erhalten.
Einwand unter Hinweis auf die Rügepflicht
80. Der Einsprechenden zufolge sind während der mündlichen Verhandlung zwei Verfahrensmängel aufgetreten:
a) Einerseits sei die Einsprechende nicht angemessen bezüglich der erfinderischen Tätigkeit des Anspruchs 1 des Hauptantrags angehört worden, weil das Merkmal, auf dessen Basis der Anspruch 1 des Hauptantrags für erfinderisch befunden wurde, vor der Schlussfolgerung der Kammer nicht erörtert worden sei.
b) Anderseits würden keine außergewöhnlichen Umstände die Zulassung des Hilfsantrags A rechtfertigen.
81. Keiner der Einwände vermag zu überzeugen.
82. Was Einwand a) betrifft, sieht die Einsprechende ein Problem darin, dass, nach Erörterung des Themas, die Kammer einen Unterschied zwischen dem Gegenstand des Anspruchs 1 und der Offenbarung von D7 anerkannte, der in der vorläufigen Meinung nicht so gesehen wurde.
83. Konkret habe die Kammer erstmalig nach Erörterung des Themas anerkannt, dass erfindungs- und anspruchsgemäß eine einzige Sensoreinheit für das Ermitteln der Position des Kraftfahrzeugs verwendet wird und dass dieser Unterschied nicht nahegelegt wird.
84. Es ist aber nicht nur möglich, sondern sogar gelegentlich auch zu erwarten, dass nach Erörterung der verschiedenen Themen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung oder in weiteren Schriftsätzen, die Kammer von ihrer vorläufigen Meinung abweicht (siehe Punkt 4 dieser Meinung, vgl. Artikel 17(2) VOBK 2020).
85. Wichtig ist, ob eine Partei sich vor Entscheidung, zu den entscheidungswesentlichen Gründen äußern konnte (Artikel 113 EPÜ).
86. Die Patentinhaberin argumentierte aber sowohl im schriftlichen Verfahren (siehe Beschwerdeerwiderung, Seiten 7 bis 9, insbesondere Seite 7, 2. Absatz; Replik zur vorläufigen Meinung, Seiten 2 und 3) als auch in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, dass eine einzige Sensoreinheit verwendet werde, um die Position des Kraftfahrzeugs zu ermitteln, und diese Auslegung des Anspruchs sowohl aus der Formulierung des Anspruchs selbst als auch im Rahmen der gesamten Offenbarung der Erfindung eindeutig sei und einen relevanten Unterschied gegenüber der Offenbarung von D7 darstelle.
87. Dieser Auslegung des Verfahrensanspruchs wurde auch in der angefochtenen Entscheidung gefolgt.
88. Die Einsprechende hat also sowohl im schriftlichen Verfahren als auch in der mündlichen Verhandlung mehrmals die Möglichkeit gehabt, sich dazu zu äußern, und hat diese Möglichkeit auch genutzt (etwa in der Beschwerdebegründung auf Seiten 4 und 5).
89. Daher ist kein Verfahrensmangel in Bezug auf Einwand a) zu sehen.
90. Was den Einwand b) betrifft, liegt die Zulassung des Hilfsantrags A im Ermessen der Kammer (vgl. Grund 74 oben). In der mündlichen Verhandlung wurde die Frage erörtert, welche Umstände und Kriterien die Zulassung eventuell rechtfertigen würden (siehe Niederschrift, Seite 2, Absatz 4). Dabei wurden sämtlich relevante Argumente im Einklang mit den verfahrensrechtlichen Grundsätzen des EPÜ sowie der VOBK erörtert(vgl. Gründe 75-85 oben).
91. Die Kammer sieht daher insoweit keinen Fehler in der Ausübung ihres Ermessens bezüglich der Zulassung des Hilfsantrags A, womit auch Einwand b) unberechtigt ist.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent auf der Grundlage des am 10. Juni 2021 eingereichten Hilfsantrags A aufrechtzuerhalten, mit eventuell noch anzupassender Beschreibung.