European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2021:T007817.20210317 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 17 März 2021 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0078/17 | ||||||||
Anmeldenummer: | 08801133.3 | ||||||||
IPC-Klasse: | H01R 43/16 H01R 4/18 H01R 13/04 H01R 13/405 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Im Fliesspressverfahren geformter Steckerstift | ||||||||
Name des Anmelders: | Taller, Michael | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Taller GmbH | ||||||||
Kammer: | 3.5.02 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Angefochtene Entscheidung - ausreichend begründet (nein) Zurückverweisung - wesentlicher Mangel im Verfahren vor der ersten Instanz (ja) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zurückweisung des Einspruchs gegen das europäische Patent Nr. 2 179 479.
II. In der angefochtenen Entscheidung war die Einspruchsabteilung zu dem Schluss gelangt, dass die Einspruchsgründe unter Artikel 100 a) in Verbindung mit Artikel 54 und 56 sowie Artikel 100 b) und c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents nicht entgegenstünden.
III. In einer Mitteilung vom 3. Juni 2020 teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Auffassung mit, wonach die angefochtene Entscheidung in wesentlichen Teilen keine ordnungsgemäße Begründung im Sinne der Regel 111 (2) EPÜ aufweise und die daher die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung beabsichtige.
IV. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) beantragte im schriftlichen Verfahren die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung.
Der Patentinhaber (Beschwerdegegner) beantragte im schriftlichen Verfahren die Zurückweisung der Beschwerde. Hilfsweise beantragte er "die Sache lediglich mit der Auflage zur weiteren Prüfung an die erste Instanz zurückzuverweisen, dass die vermeintlich fehlenden Entscheidungsgründe nachgereicht werden".
V. Die für diese Entscheidung wesentlichen Argumente des Beschwerdegegners lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die Einspruchsgründe unter Artikel 100 b) und c) EPÜ seien zwar im Einspruchsformular EPO Form 2300 angekreuzt worden, diese seien im Tatsachenvorbringen aber nicht hinreichend substantiiert worden. Aus Ziffer 2 der Niederschrift über die mündliche Verhandlung gehe ferner hervor, dass keine Diskussion der betreffenden Einspruchsgründe stattgefunden habe, da die Beschwerdeführerin diese Einspruchsgründe fallengelassen bzw. zurückgenommen habe, zumindest aber auf eine weitergehende Argumentation sowie eine ausführlichere Entscheidungsbegründung verzichtet habe.
In Anwendung von T 0520/01 musste sich die Einspruchsabteilung somit nicht weiter mit den Einspruchsgründen unter Artikel 100 b) und c) EPÜ befassen.
Ferner habe die Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung den vermeintlichen Begründungsmangel der angefochtenen Entscheidung nicht gerügt. Die Einsprechende habe die Begründung folglich als ausreichend angesehen, und die Kammer könne diese nicht nachträglich als unzureichend beanstanden. Es verstoße gegen das Gebot der Unparteilichkeit der Beschwerdekammern im mehrseitigen Verfahren (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage, Juli 2019, V.A. 2.4.3 c)), wenn die Beschwerdekammer hierin einen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs bzw. einen wesentlichen Verfahrensmangel erkenne.
Die angefochtene Entscheidung sei jedenfalls im Hinblick auf den Einspruchsgrund unter Artikel 100 a) EPÜ mit Gründen versehen. Zur Frage der Neuheit nach Artikel 54 EPÜ gebe die angefochtene Entscheidung für jede einzelne der Entgegenhaltungen D1, D2, D4, D8, D9, D10, D11 und D16 im Wortlaut des jeweils angegriffenen, unabhängigen Anspruchs 1 bzw. 18 des Streitpatents explizit unter Angabe der Offenbarungsstelle an, welches Merkmal aus der jeweiligen Entgegenhaltung bekannt sei und welches nicht.
Zur Frage der erfinderischen Tätigkeit nach Artikel 56 EPÜ enthalte die angefochtene Entscheidung für jeden vorgetragenen Angriff der Einsprechenden einen "Aufgabe-Lösung-Ansatz".
Die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 17. August 2016 enthalte eine detaillierte Auflistung aller ausgetauschten Argumente zum Einspruchsgrund unter Artikel 100 a) EPÜ. Dem Beschwerdeverfahren lägen gemäß Artikel 12 (1) a) VOBK 2020 u.a. die Niederschriften über mündliche Verhandlungen vor dem Organ, das die Entscheidung erlassen hat, zugrunde.
Aus Punkt 4.3.1 der angefochtenen Entscheidung gehe hervor, dass das Dokument D8 entgegen dem Merkmal 1.3 des erteilten Anspruchs 1 kein steckdosenkontaktseitiges Kontaktende, sondern nur ein kontaktseitiges Kontaktende aufweise. Ergänzend sei in diesem Zusammenhang auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung unter Ziffer 4.1 verwiesen. Entsprechendes gelte auch für die weiteren in der Entscheidung genannten Dokumente zum Stand der Technik. Aus der schriftlich abgefassten Entscheidung, insbesondere unter ergänzender Berücksichtigung der Niederschrift über die mündliche Verhandlung, die gemäß Artikel 12 (1) a) VOBK 2020 dem Beschwerdeverfahren zugrunde liegt, sei eindeutig ersichtlich, aus welchen Gründen die Einspruchsabteilung zu dem Ergebnis gelangt sei, dass das Streitpatent die Erfordernisse der Artikel 54 und 56 EPÜ erfülle.
Es liege daher kein Verstoß gegen das rechtliche Gehör und kein wesentlicher Verfahrensmangel vor. Eine Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und Zurückweisung der Sache an die erste Instanz sei
folglich nicht gerechtfertigt.
Die Zurückverweisung der Sache zur weiteren Prüfung an die erste Instanz sei im Übrigen nicht verfahrensökonomisch.
VI. Die für diese Entscheidung wesentlichen Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Im Abschnitt "Entscheidungsgründe" der angefochtenen Entscheidung habe die Einspruchsabteilung zu den Einspruchsgründen unter Artikel 100 b) und c) EPÜ lediglich festgestellt, dass sie den Ausführungen der Beschwerdeführerin nicht folgen könne. Eine Begründung, warum dies so ist, sei dort jedoch nicht enthalten.
Auf Seite 49, Punkt e) der Einspruchsbegründung habe sich die Beschwerdeführerin mit der mangelnden Ausführbarkeit der Erfindung nach Anspruch 27 auseinandergesetzt. Zur unzulässigen Erweiterung habe die Beschwerdeführerin in mehreren Passagen der Einspruchsbegründung vorgetragen. Zudem sei hierzu auch in der Erwiderung vom 30. Oktober 2015 auf Seite 5, letzter Absatz ausgeführt worden. Selbst wenn im Rahmen der mündlichen Verhandlung keine Diskussion der Einspruchsgründe unter Artikel 100 b) und c) EPÜ stattgefunden habe, so waren diese Einspruchsgründe dennoch im Verfahren und die Einspruchsabteilung hätte begründen müssen, warum sie die Ausführbarkeit für gegeben hält und keine unzulässige Erweiterung vorliege. Zudem habe die Einspruchsabteilung in der Entscheidung zumindest über die Ausführbarkeit und die unzulässige Erweiterung entschieden, wenn auch ohne Begründung. Die Beschwerdeführerin habe die Einspruchsgründe unter Artikel 100 b) und c) EPÜ jedenfalls nicht fallenlassen. Es sei lediglich auf das schriftliche Vorbringen verwiesen worden.
Im Übrigen sei die Kammer berechtigt von Amts wegen Ermittlungen im Falle einer Verletzung des rechtlichen Gehörs anzustellen (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage, Juli 2019, III.B.2.1).
Im Hinblick auf die Neuheitsbeurteilung beschränkten sich die Gründe in der angefochtenen Entscheidung im Wesentlichen darauf, den Anspruch zu zitieren und in dem Anspruchswortlaut durch Durchstreichen festzustellen, welche Unterscheidungsmerkmale angeblich vorhanden seien. Es werde aber nicht begründet, warum diese in dem jeweiligen Dokument vorhanden sein sollen. Eine entsprechende Begründung finde sich auch nicht in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung. Dort seien lediglich die Argumente der Parteien wiedergegeben.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Wesentlicher Verfahrensmangel
2.1 Die angefochtene Entscheidung enthält in wesentlichen Teilen keine ordnungsgemäße Begründung im Sinne der Regel 111 (2) EPÜ. Die Passagen in der angefochtenen Entscheidung unter den Punkten 2 bis 4, betreffend die Einspruchsgründe unter Artikel 100 b) und c) EPÜ sowie Artikel 100 a) in Verbindung mit 54 EPÜ, ermöglichen es der Kammer nicht nachzuvollziehen, aus welchen Gründen die vorgenannten Einspruchsgründe durch die Einspruchsabteilung zurückgewiesen wurden. Die Kammer kann daher nicht darüber befinden, ob die angefochtene Entscheidung gerechtfertigt ist oder nicht.
Zu den im Abschnitt II ("Entscheidungsgründe") der angefochtenen Entscheidung genannten Einspruchsgründen wird im Einzelnen Folgendes festgestellt:
2.1.1 Artikel 100 c) EPÜ
Zum Einspruchsgrund unter Artikel 100 c) EPÜ enthält die angefochtene Entscheidung im Hinblick auf die dort wiedergegebenen Einwände der Beschwerdeführerin unter den Punkten 2.1 und 2.2 jeweils lediglich die Bemerkung:
" [...] Die Einspruchsabteilung kann den Ausführungen der Einsprechenden nicht folgen."
Gründe, aus denen die Einspruchsabteilung den Ausführungen der Beschwerdeführerin nicht folgen kann, werden nicht angegeben.
Unter Punkt 2.3 der angefochtenen Entscheidung wird ferner Folgendes dargelegt:
"Die Einspruchsabteilung kann den Ausführungen der Einsprechenden für Ansprüche 24 und 27 nicht folgen."
Wiederum werden keine Gründe angegeben, aus denen die Einspruchsabteilung den Ausführungen der Beschwerdeführerin nicht folgen kann.
Unter Punkt 2.4 wird wiederum ohne die Angabe von Gründen Folgendes festgestellt:
"Die Einspruchsabteilung ist die Meinung, dass in Anspruch 28 das Ersetzen von « dimensioniert ist » durch « vorgesehen für » kein Verstoß gegen Artikel 123(2) darstellt."
2.1.2 Artikel 100 b) EPÜ
Zum Einwand der mangelnden Ausführbarkeit gemäß dem Einspruchsgrund unter Artikel 100 b) EPÜ hat die Einspruchsabteilung nach erfolgter Bezugnahme auf die Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt sowie einer knappen Zusammenfassung des Einwandes der Beschwerdeführerin Folgendes festgestellt:
"[...]
3.3 Die Einspruchsabteilung kann den Ausführungen der Einsprechenden nicht folgen.
3.4 Die Einspruchsabteilung ist deshalb der Meinung, dass die Erfindung wie in der gesamten Patentanmeldung beschrieben, vollständig und deutlich offenbart ist, so dass ein Fachmann sie ausführen kann. Die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ sind deshalb erfüllt."
Die angefochtene Entscheidung enthält somit auch zum Einspruchsgrund unter Artikel 100 b) EPÜ keinerlei Hinweise, welche die Kammer in die Lage versetzen zu verstehen, weshalb die Einspruchsabteilung den Argumenten der Beschwerdeführerin nicht gefolgt ist.
2.1.3 Artikel 100 a) und 54 EPÜ
Im Hinblick auf den Einspruchsgrund unter Artikel 100 a) und 54 EPÜ enthält die angefochtene Entscheidung zum Einwand der mangelnden Neuheit gegenüber D8 unter Punkt 4.3.1 im Wesentlichen Folgendes:
"[...]
D8 offenbart (die Verweise in Klammern beziehen sich auf dieses Dokument):
"Verfahren zur Herstellung eines Steckerstifts (3 und 7, Figur 1) mit einem Verbindungsende ("Aufnahme 7") zur Verbindung mit einer Netzanschlusslitze ("Leiter" 9, Figur 1) und einer vom Verbindungsende (7) zu einem [deleted: steckdosen]kontaktseitigen Kontaktende (3) führenden Mittelbereich [...]
Das Dokument D8 offenbart gemäß der obenstehenden Merkmalsuntererteilung [sic] die Merkmale M1.1, M1.2, M1.4-M1.6.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich somit von dem bekannten Verfahren durch das Merkmal M1.3.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents ist somit neu gegenüber dem Dokument D8."
Die Entscheidung enthält somit auch im Hinblick auf den Einwand der mangelnden Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 gegenüber D8 weder eine Auseinandersetzung mit den von den Parteien vorgebrachten Argumenten noch sonstige Angaben, die es der Kammer ermöglichen nachvollziehen, aus welchen Gründen das Merkmal 1.3 des Anspruchs 1 in D8 als nicht offenbart angesehen wurde.
Entsprechendes gilt sinngemäß für die Ausführungen der Einspruchsabteilung unter Punkt 4.3.2 der angefochtenen Entscheidung im Hinblick auf die Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 18 gegenüber D1, unter Punkt 4.3.3 gegenüber D2, unter Punkt 4.3.4 gegenüber D4, unter Punkt 4.3.5 gegenüber D8, unter Punkt 4.3.6 gegenüber D9, unter Punkt 4.3.7 gegenüber D10, unter Punkt 4.3.8 gegenüber D11, und schließlich unter Punkt 4.3.9 gegenüber D16.
2.2 Die Kammer bemerkt der Vollständigkeit halber, dass die Ausführungen unter den Punkten 2 bis 4 der Entscheidungsgründe im Wesentlichen identisch sind mit denjenigen unter Punkt 3 bis 5 der vorläufigen Meinung der Einspruchsabteilung vom 15. Februar 2016.
2.3 Die angefochtene Entscheidung setzt sich somit in den betreffenden Passagen weder mit den wesentlichen Argumenten der Parteien auseinander noch werden sonstige Überlegungen dargelegt, welche die Einspruchsabteilung angestellt hat, um zu einer Zurückweisung der betreffenden Einspruchsgründe zu gelangen. Insgesamt genügen die Ausführungen der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung zumindest in Bezug auf die Einspruchsgründe unter Artikel 100 a) und 54 sowie 100 b) und c) EPÜ somit nicht den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Begründung im Sinne der Regel 111 (2) EPÜ.
2.4 Verletzung des rechtlichen Gehörs
Der in Artikel 113 (1) EPÜ verankerte Grundsatz des rechtlichen Gehörs umfasst auch das Recht der Parteien, dass alle relevanten Argumente in der schriftlichen Entscheidung angemessen berücksichtigt werden (vgl. R19/10, Nr. 6.2 der Entscheidungsgründe). Eine in diesem Sinne mangelhafte Begründung der Entscheidung verstößt gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs und stellt somit einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, welcher einen besonderen Grund im Sinne von Artikel 11 VOBK 2020 darstellt, der die Zurückverweisung der Angelegenheit an das Organ, welches die angefochtene Entscheidung erlassen hat, rechtfertigt.
Das Argument des Beschwerdegegners, wonach eine Zurückverweisung der Verfahrensökonomie abträglich wäre, hält die Kammer im Lichte der vorliegend festgestellten Verletzung des rechtlichen Gehörs für nicht überzeugend. In diesem Zusammenhang verweist die Kammer im Übrigen auf Artikel 11 VOBK 2020, welcher als besonderen Grund, der eine Zurückverweisung rechtfertigt, explizit einen wesentlichen Verfahrensmangel vor dem erstinstanzlichen Organ nennt.
2.5 Zurückverweisung von Amts wegen
Artikel 11 VOBK 2020 erfordert keinen Antrag auf Zurückverweisung einer Partei, da die Zurückverweisung der Angelegenheit im Ermessen der Kammer steht und von ihr auch ohne entsprechenden Antrag entschieden werden kann (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage 2019, V.A.7.3.4, III.B.2.1).
Ein Verstoß gegen das in den Verfahrensgrundsätzen der Beschwerdekammern verankerte Gebot der Unparteilichkeit, wie von dem Beschwerdegegner dargelegt, liegt im Falle der Zurückverweisung ohne entsprechenden Antrag der Parteien somit nicht vor. Vor diesem Hintergrund ist es unbeachtlich, dass die Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung zunächst keinen wesentlichen Verfahrensmangel geltend gemacht hatte.
2.6 Abweichender Sachverhalt in T 0520/01
2.6.1 Der Beschwerdegegner hat im Wesentlichen vorgetragen, die Einspruchsgründe unter Artikel 100 b) und c) EPÜ seien im erstinstanzlichen Verfahren fallengelassen bzw. zurückgenommen worden, zumindest aber sei auf eine weitergehende Argumentation sowie eine ausführlichere Entscheidungsbegründung verzichtet worden. In Anwendung von T 0520/01 musste sich die Einspruchsabteilung somit nicht weiter mit diesen Einspruchsgründen befassen.
2.6.2 Der vom Beschwerdegegner herangezogenen Beschwerdesache T 0520/01 liegt ein anderer Sachverhalt zugrunde. Die Einsprechende hatte dort in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung explizit erklärt, sie halte den Einspruchsgrund unter Artikel 100 b) EPÜ nicht aufrecht (siehe Punkt 1.1 der Entscheidungsgründe in T 0520/01). Im vorliegenden Fall hat die Einsprechende jedoch ausweislich Punkt 2 der Niederschrift vom 29. November 2016 in der mündlichen Verhandlung lediglich festgestellt, dass
"die Einspruchsgründe nach Artikel 100 b) bzw. c) nicht weiter erläutert werden müssen, da die vorläufige Meinung der Einspruchsabteilung diesbezüglich als ausreichend angesehen wird."
Die Kammer kann in dieser Erklärung weder eine explizite noch eine implizite Rücknahme der betreffenden Einspruchsgründe erkennen.
2.6.3 Angebliche Rücknahme und mangelnde Substantiierung der Einspruchsgründe unter Artikel 100 b) und c) EPÜ
Im Hinblick auf den Einwand des Beschwerdegegners, die Einspruchsgründe unter Artikel 100 b) und c) EPÜ seien fallengelassen oder zurückgenommen worden, zumindest aber sei auf eine ausführliche Entscheidungsbegründung verzichtet worden, ist Folgendes zu bemerken:
Die Zulässigkeit der Einspruchsgründe unter Artikel 100 b) und c) EPÜ ist im erstinstanzlichen Verfahren zu keinem Zeitpunkt thematisiert worden. Ferner hat die Einspruchsabteilung über die betreffenden Einspruchsgründe in der angefochtenen Entscheidung im Abschnitt II, "Entscheidungsgründe", zumindest formal entschieden. Für die Kammer kann daher kein Zweifel daran bestehen, dass die Einspruchsabteilung zu keinem Zeitpunkt davon ausgegangen ist, die Beschwerdeführerin habe in der mündlichen Verhandlung die Rücknahme der Einspruchsgründe unter Artikel 100 b) und c) EPÜ erklärt, was eine Entscheidung über diese Punkte obsolet gemacht hätte.
2.7 Anhaltspunkte für eine mangelnde Substantiierung der betreffenden Einspruchsgründe sind für die Kammer ebenfalls nicht erkennbar und der Beschwerdegegner hat im erstinstanzlichen Verfahren nichts dergleichen vorgetragen. Die Beschwerdeführerin hat in diesem Zusammenhang zutreffend auf die entsprechenden Passagen in der Einspruchsbegründung verwiesen.
Ferner ist die Tatsache, dass die Einspruchsgründe unter Artikel 100 b) und c) EPÜ in der mündlichen Verhandlung nicht erörtert wurden, für die Frage der Substantiiertheit dieser Einspruchsgründe irrelevant, denn sie sind im schriftlichen Verfahren jedenfalls zulässig erhoben worden und waren somit Gegenstand des Einspruchsverfahrens (siehe Punkt 2.6.2).
2.8 Berücksichtigung der Niederschrift über die mündliche Verhandlung
Zum Einwand des Beschwerdegegners, die Niederschrift über die mündlichen Verhandlung liege dem Beschwerdeverfahren nach Artikel 12 (1) a) VOBK 2020 zugrunde und enthalte wesentliche Informationen, die im Hinblick auf die angefochtene Entscheidung zu berücksichtigen seien, bemerkt die Kammer Folgendes:
Die Niederschrift über die mündlichen Verhandlung kann grundsätzlich keine ordnungsgemäße Begründung der angefochtenen Entscheidung im Sinne der Regel 111 (2) EPÜ ersetzen. Der Beschwerdegegner hat in diesem Zusammenhang Bezug genommen auf die Feststellungen der Einspruchsabteilung unter Punkt 4.3.1 der angefochtenen Entscheidung über die Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 gegenüber dem Dokument D8 sowie die zugehörigen Passagen des Protokolls über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung.
Die Argumente des Beschwerdegegners überzeugen die Kammer nicht. Vielmehr ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen die Einspruchsabteilung zu der Auffassung gelangt ist, dass das Dokument E8 das Merkmal 1.3 ("zu einem steckdosenkontaktseitigen Kontaktende führenden Mittelbereich") nicht offenbare. Die bloße Feststellung, dass dies nicht der Fall sei, ohne jegliche Auseinandersetzung mit den Argumenten der Parteien, stellt jedoch keine ordnungsgemäße Begründung im Sinne der Regel 111 (2) EPÜ dar.
Anders als vom Beschwerdegegner vorgetragen, lässt sich der Niederschrift in Bezug auf das Merkmal 1.3 lediglich entnehmen, dass der Beschwerdegegner keinen Mittelbereich gemäß Merkmal 1.3 in dem Dokument D8 erkannt hat. Das den Hochstromkontakt betreffende Argument des Beschwerdegegners bezog sich hingegen auf das Merkmal 1.1 ("Verfahren zur Herstellung eines Steckerstifts"). Dieses Merkmal wurde von der Einspruchsabteilung jedoch als in dem Dokument D8 offenbart angesehen, sodass auch unter Berücksichtigung der Niederschrift über die mündliche Verhandlung nicht ersichtlich ist, aus welchen Gründen die Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung schließlich zu dem Schluss gelangt ist, das Dokument D8 offenbare zwar ein Verfahren zur Herstellung eines Steckerstifts gemäß Merkmal 1.1, bei dem mit "3" bezeichneten Element handele es sich jedoch nicht um ein "steckdosenkontaktseitiges" Ende, sondern nur um ein "kontaktseitiges" Ende.
Selbst wenn also die Niederschrift über die mündlichen Verhandlung zum Verständnis der angefochtenen Entscheidung, insbesondere unter Punkt 4.3.1 berücksichtigt werden würde, so ist immer noch nicht ersichtlich, welche Argumente die Einspruchsabteilung bei ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigt oder welche Überlegungen sie hierbei generell angestellt hat.
3. Hilfsantrag des Beschwerdegegners
3.1 Der Hilfsantrag des Beschwerdegegners, "die Sache lediglich mit der Auflage zur weiteren Prüfung an die erste Instanz zurückzuverweisen, dass die vermeintlich fehlenden Entscheidungsgründe nachgereicht werden", ist nicht gewährbar.
3.2 Eine Anordnung "zur weiteren Entscheidung" nach Artikel 111 (1) EPÜ unter der Maßgabe, dass lediglich die fehlende Entscheidungsbegründung nachzureichen ist, würde voraussetzen, dass sich die Kammer in der Sache mit der Angelegenheit auseinandergesetzt hat und die angefochtene Entscheidung im Ergebnis für zutreffend befunden hat. In einem solchen Fall wäre die Kammer jedoch zur Überprüfung der angefochtenen Entscheidung in der Lage gewesen und eine Zurückverweisung wäre folglich obsolet. Vorliegend war es der Kammer angesichts der schwerwiegenden Begründungsmängel jedoch nicht einmal im Ansatz möglich die "Begründung" nachzuvollziehen, geschweige denn eine vollständige sachliche Überprüfung der angefochtenen Entscheidung vorzunehmen (siehe Punkt 2 der vorliegenden Entscheidung).
3.3 Mit der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung ist die Einspruchsabteilung an das sachliche Ergebnis dieser Entscheidung nicht mehr gebunden. Sie wird sich überdies auch mit dem im Beschwerdeverfahren eingereichten Vorbringen der Parteien auseinandersetzen müssen, sodass eine bloße "Nachreichung" einer ergänzenden Begründung nicht ausreicht. Die Zurückverweisung kann daher nicht unter die Bedingung gestellt werden, dass die weitere Entscheidung der Einspruchsabteilung mit der ersten Entscheidung im Ergebnis übereinstimmt und lediglich die Entscheidungsbegründung "nachgereicht" wird.
3.4 Der entsprechende Hilfsantrag des Patentinhabers war daher zurückzuweisen.
4. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
Nach Regel 103 (1) a) EPÜ wird die Beschwerdegebühr in voller Höhe zurückgezahlt, wenn der Beschwerde durch die Beschwerdekammer stattgegeben wird und die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht. Da beide Voraussetzungen vorliegend gegeben sind, ist die Beschwerdegebühr nach Regel 103 (1) a) EPÜ zurückzuerstatten.
5. Ergebnis
Aus den oben genannten Gründen ist die Kammer zu dem Schluss gelangt, dass die angefochtene Entscheidung aufzuheben ist. Die Kammer macht ferner von ihrer Befugnis nach Artikel 111 (1) EPÜ und Artikel 11 VOBK 2020 Gebrauch, die Angelegenheit entsprechend dem Antrag der Beschwerdeführerin zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen. Darüber hinaus hält die Kammer angesichts des wesentlichen Verfahrensmangels die Rückzahlung der Beschwerdegebühr für angemessen (Regel 103 (1) a) EPÜ).
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.
3. Die Beschwerdegebühr wird zurückerstattet.