T 2746/16 () of 15.1.2020

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2020:T274616.20200115
Datum der Entscheidung: 15 Januar 2020
Aktenzeichen: T 2746/16
Anmeldenummer: 10710316.0
IPC-Klasse: F03D 1/06
F03D 7/02
F03D 7/04
F03D 9/00
H02J 3/04
H02J 3/24
H02J 3/38
H02P 9/00
H02P 9/10
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: VERFAHREN ZUM BETREIBEN EINER WINDENERGIEANLAGE
Name des Anmelders: Wobben Properties GmbH
Name des Einsprechenden: Siemens Aktiengesellschaft
Nordex Energy GmbH (Einspruch zurückgezogen)
Senvion GmbH
Kammer: 3.2.04
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2)
European Patent Convention Art 56
Schlagwörter: Änderungen - Zwischenverallgemeinerung
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerden richten sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, nach der das Patent in geänderter Form gemäß Hilfsantrag 2 den Erfordernissen der Artikel 123(2), 83, 54(1) und 56 EPÜ entspricht.

In der Zwischenentscheidung der Einspruchabteilung werden insbesondere folgende Dokumente als Stand der Technik berücksichtigt:

D1: Regulation TF 3.2.5 "Wind Turbines Connected To Grids With Voltages Above 100 kV", Dezember 2004

D5: WO 2005/025026 A1 (entspricht

E4: US 2007/0085343 A1)

E5: J.Kristoffersen: "The Horns Rev Wind Farm and the Operational Experience with the Wind Farm Main Controller", Copenhagen Offshore Wind 2005, 26-28 Oktober 2005

E6: B. Meyer: "Distributed Generation: towards an effective contribution to power system security",IEEE 2007

E7: P. Sørensen e.a.: "Wind power plants - status and visions", Risø-R-1517(EN)

E8: J. Morren e.a.: "Wind Turbines Emulating Inertia and Supporting Primary Frequence Control", IEEE Transactions on Power Systems, Vol.21, No.1, Feburar 2006

E9: J.Morren e.a.: "Inertial response of variable speed wind turbines",Electric Power Systems Research 76 (2006) 980-987, Elsevier 2006

II. Die Beschwerde der Einsprechenden 1 (Siemens AG) ging am 23. Dezember 2016 unter gleichzeitiger Entrichtung der Beschwerdegebühr ein. Die Beschwerdebegründung folgte am 21. Februar 2017.

Die Beschwerde der Einsprechenden 3 (Senvion SE, mittlerweile Senvion GmbH) ging am 25. Januar 2017 unter gleichzeitiger Entrichtung der Beschwerdegebühr ein. Ihre Beschwerdebegründung folgte am 3. April 2017.

Die Beschwerde der Patentinhaberin ging am 9. Februar 2017 unter gleichzeitiger Entrichtung der Beschwerdegebühr ein. Ihre Beschwerdebegründung folgte am 11. April 2017.

III. In Vorbereitung einer mündlichen Verhandlung teilte die Kammer den Verfahrensbeteiligten in einer Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK 2007 vom 17. Juli 2019 ihre vorläufige Auffassung mit.

Die mündliche Verhandlung fand am 15. Januar 2020 in Anwesenheit aller Verfahrensbeteiligter statt. Die Beschwerdeführerinnen-Einsprechenden 1 und 3 wurden gemeinsam vertreten. Im Lauf der mündlichen Verhandlung nahm die Patentinhaberin ihre Beschwerde zurück.

IV. Die Beschwerdeführerinnen-Einsprechenden 1 und 3 beantragen, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und das Patent vollständig zu widerrufen.

Die Beschwerdegegnerin-Patentinhaberin beantragt, die Beschwerden zurückzuweisen, somit das Patent in geänderter Form gemäß Hilfsantrag 2 aufrechtzuerhalten, den die Einspruchsabteilung bereits als gewährbar erachtet hatte.

V. Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 (von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltene Fassung) lautet wie folgt (Änderungen gegenüber der ursprünglichen Fassung sind in kursiv und Änderungen gegenüber der erteilten Fassung durch Streichung bzw. Unterstreichung von der Kammer hervorgehoben):

"Verfahren zum Betrieb einer Windenergieanlage, wobei die Windenergieanlage an ein elektrisches Versorgungsnetz angeschlossen ist und im Betrieb, d.h., wenn Wind herrscht, der oberhalb der Anfangsgeschwindigkeit und unterhalb der Abschaltgeschwindigkeit liegt, elektrische Energie in das Versorgungsnetz (18) einspeist und zwar in der vom Versorgungsnetz (18) gewünschten bzw. erforderlichen Spannung und Frequenz, wobei im Betrieb der Windenergieanlage oberhalb des Nennwertes bzw. unterhalb der Abschaltgeschwindigkeit der Rotor (7) der Windenergieanlage, der wenigstens ein Rotorblatt aufweist, sich dreht und mit dem Rotor (7) der Windenergieanlage ein Generator (10) verbunden ist, der durch den Rotor (7) angetrieben wird, um somit elektrische Energie zu erzeugen, wobei die Windenergieanlage Mittel (22) aufweist,um die im elektrischen Versorgungsnetz (18) herrschende Frequenz zu messen und diese Mittel (22) zum Messen der Netzfrequenz verbunden sind mit einer Steuereinrichtung (20) zum Steuern des Betriebs der Windenergieanlage, dadurch gekennzeichnet, dass die vom Generator (10) der Windenergieanlage an das Netz (18) abgegebene Leistung kurzfristig und für einen kurzen Zeitraum über die aktuelle Leistung der Windenergieanlage angehoben wird, wenn die Netzfrequenz des elektrischen Netzes (18) um einen vorbestimmten Frequenzwert unterhalb der gewünschten Sollfrequenz des Netzes liegt[deleted: und/oder wenn die Netzfrequenz mit einem Frequenzgradienten, nämlich mit einer Änderung pro Zeit fällt, deren Betrag einen vorbestimmten Änderungsbetrag überschreitet], wobei

- in einem Totbandbereich (30), nämlich einem Frequenzbereich der Netzfrequenz (36)zwischen der Netzsollfrequenz und einer darunter liegenden Totbandfrequenz, die Leistung nicht verändert wird,

- in einem Regelbandbereich (32), nämlich einem Frequenzbereich der Netzfrequenz zwischen der Totbandfrequenz und einer darunter liegenden Regelbandfrequenz, die Leistung in Abhängigkeit einer Frequenzabweichung der Netzfrequenz von der Totbandfrequenz erhöht wird, und

- in einem Unterfrequenzbereich (34), nämlich einem Frequenzbereich der Netzfrequenz von der Regelbandfrequenz abwärts, die Leistung (38) konstant um eine maximal voreingestellte Leistungserhöhung erhöht ist,

wobei die kurzfristige Leistungserhöhung unter Ausnutzung der in dem Trägheitsmoment des Rotor-/Generatorsystems (6, 7, 8) gespeicherten Rotationsenergie erfolgt.

VI. Die Beschwerdeführerinnen-Einsprechenden 1 und 3 tragen im wesentlichen folgendes vor:

Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei unzulässig erweitert bzw. zwischenverallgemeinert, da ein einschränkendes Merkmal der ursprünglichen Offenbarung nicht Aufnahme in diesen gefunden hätte.

Im übrigen beruhe er nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit ausgehend vom in D5 offenbarten nächsten Stand der Technik.

Die Beschwerdegegnerin-Patentinhaberin trägt im wesentlichen folgendes vor:

Das einschränkende Merkmal sei nicht Teil der ursprünglichen Offenbarungsgrundlage.

Weder der D5, noch einem anderen der von den Beschwerdeführerinnen-Einsprechenden mit D5 kombinierten Dokumenten könne der Fachmann einen Hinweis auf die beanspruchte Lösung entnehmen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Gegenstand des Patents und der Erfindung

2.1 Das vorliegende Patent befasst sich mit der Regelung bzw. Stabilisierung der Netzfrequenz eines elektrischen Versorgungsnetzes durch in dieses Netz einspeisende Windenergieanlagen.

In einem solchen Versorgungsnetz muss eine gleichbleibende Frequenz erhalten bleiben. Wenn zuviel Leistung entnommen wird oder eine Störung vorliegt, fällt die Netzfrequenz, und muss die eingespeiste Leistung sofort erhöht werden durch Hochfahren und/oder Zuschalten von Energieerzeugern wie Kraftwerken und Windparks (sog. Primärregelung). Windenergieanlagen werden deshalb als potentielle Reserve oft unter Nennleistung, also maximal dem Wind entziehbarer Leistung, betrieben, was eigentlich nicht wünschenswert ist.

Bekannt ist auch, kurzzeitig durch Ausbeutung der Rotationsenergie und Massenträgheit einer Windenergieanlage deren Einspeiseleistung (ggf. sogar über Nennleistung) zu erhöhen und so zur Netzfrequenzregelung beizutragen. Da bei Entnahme dieser "kinetischen Reserveenergie" die Drehzahl einer Windenergieanlage sinkt, ist die jeweils zur Verfügung stehende "Menge" an kinetischer Reserveenergie durch das Erreichen der zulässigen Minimaldrehzahl begrenzt (ein Abschalten der Windenergieanlage bei Unterschreiten der Minimaldrehzahl soll für gewöhnlich vermieden werden). Obwohl es sich hierbei also nur um begrenzte Beiträge zur Netzfrequenzregelung handelt, ist von Vorteil, dass sie sehr schnell zur Verfügung gestellt werden können.

2.2 Die Erfindung betrifft ein derartiges Verfahren zum Betrieb einer Windenergieanlage, bei dem zur Netzfrequenzregelung eine kurzfristige Leistungserhöhung unter Ausnutzung der in dem Trägheitsmoment gespeicherten Rotationsenergie erfolgt, und zwar in drei Graden je nach Abweichung von der Sollfrequenz des Netzes:

Auf relativ geringe Abweichungen in einem sog. "Totbandbereich" wird nicht reagiert, größere Abweichungen in einem anschließenden "Regelbandbereich" führen zu einer Erhöhung der von der Windenergieanlage bereitgestellten Leistung in Abhängigkeit der Abweichung, und beim Auftreten noch größerer Abweichungen in einem anschließenden "Unterfrequenzbereich" behält die Leistungserhöhung einen vorher bestimmten Maximalwert bei und wächst auch bei zunehmender Abweichung nicht weiter mit.

3. Hauptantrag - unzulässige Erweiterung (Artikel 123(2) EPÜ)

3.1 Die dem ursprünglichen Anspruch 1 hinzugefügten Merkmale des Totbandbereichs, Regelbandbereichs und Unterfrequenzbereichs stammen aus Seite 9, Zeile 18 bis Seite 10, Zeile 9 der Offenlegungsschrift. Danach kann insbesondere im Regelbandbereich "eine Erhöhung der Wirkleistung in Abhängigkeit der Frequenzabweichung, nämlich insbesondere der Ist-Frequenz von der Totbandfrequenz, um eine Leistungserhöhung Pincrease erfolgen ... somit eine Erhöhung der Wirkleistung in Abhängigkeit von der Frequenzabweichung um eine zusätzliche Leistung Pincrease von 0% bis zu einem voreingestellten Wert Pincrease_set" (Seite 9, Zeile 30 - Seite 10, Zeile 3).

3.2 Die Beschwerdeführerinnen-Einsprechenden erkennen eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung darin, dass diese Merkmale aus ihrem Zusammenhang mit der Ausführungsform der Figur 3 gerissen worden seien. Unter anderem sei Anspruch 1 nicht auf eine stetige Regelungskurve bzw. Leistungsabgabe als Funktion der Frequenz bzw. deren Änderung im Regelbandbereich beschränkt und umfasse somit auch nicht offenbarte, unstetige Verläufe. Ein solche Stetigkeit sei aber eindeutig der Figur 3 der Offenlegungsschrift zu entnehmen, die in obiger Passage beschrieben sei.

3.3 Nach Ansicht der Kammer bezieht sich diese Passage zwar auf Figur 3, definiert aber nur in allgemeiner Form deren drei Bereiche Totbandbereich 30, Regelbandbereich 32 und Unterfrequenzbereich 34. Figur 3 soll nämlich nur "ein schematisches Beispiel eines Frequenzverlaufes sowie Frequenzbereiche über die Zeit" zeigen (Seite 9, Zeile 16 und 17). Somit soll sie nur beispielhaft die wesentlichen Merkmale des zeitlichen Verlaufs veranschaulichen, ohne aber einschränkend zu sein. Welche wesentliche Merkmale gemeint sind, folgt in einer einleitenden Passage unmittelbar danach (Seite 8, Zeile 18, bis Seite 10, Zeile 11), wo es heißt : "Aus der Fig. 3 ist zu erkennen .....". Danach erst (Seite 10, ab Zeile 12) wird der beispielhafte Verlauf detaillierter beschrieben. Für den Fachmann geht dies unmittelbar und eindeutig aus dem Textzusammenhang hervor.

Sämtliche in der einleitenden Passage beschriebenen, wesentlichen Merkmale dieser Bereiche sind aber in Anspruch 1 aufgenommen worden. Insbesondere ist dort eben keine unabdingbare Art der Abhängigkeit angegeben - lediglich eine optionale proportionale Abhängigkeit auf Seite 9, Zeile 34. Somit enthält diese Offenbarungsgrundlage keine Einschränkung hinsichtlich eines stetigen Verlaufs der Leistungskurve 38.

Es ist daher unerheblich, dass die in Figur 3 gezeigte Leistungskurve 38 stetig, insbesondere proportional zur Frequenz (Seite 10, Zeilen 24-26) verläuft. In der nachfolgenden Passage der Offenlegungsschrift ab Seite 10, Zeile 13 wird ein solcher Verlauf wiederum nur als beispielhaft beschrieben : "die jeweilige Leistungserhöhung Pincrease ...ist hier proportional ...". Die gewählte Formulierung steht in Einklang mit den allgemein zu Figur 3 in der Offenlegungsschrift getroffenen Aussagen:

"Fig. 3 zeigt ein schematisches Beispiel eines Frequenzverlaufs" (Seite 9, Zeile 16)";

"In Fig. 3 ist der beispielhafte Verlauf der Ist-Frequenz fettgezeichnet dargestellt....Außerdem ist der beispielhafte Verlauf einer einzustellenden Leistung mit dem Bezugszeichen 38 eingezeichnet.... " (Seite 10, Zeilen 11 -16).

3.4 Zusammenfassend stellt die Passage auf Seite 9, Zeile 16 - Seite 10, Zeile 9 also eine in sich geschlossene Offenbarungsgrundlage für die dem ursprünglichen Anspruch 1 hinzugefügten Bereichsmerkmale dar, die keinen Rückgriff auf weitere, ausschließlich der ohnehin nur schematischen und beispielhaften Darstellung der Figur 3 ggf. entnehmbare Merkmale (wie "stetig") nötig macht.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 geht somit nicht über den Inhalt der Anmeldung in ihrer ursprünglichen Fassung hinaus, Artikel 123(2) EPÜ.

4. Hauptantrag - erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)

4.1 Es besteht Einigkeit, dass das Verfahren nach Anspruch 1 neu im Sinne von Artikel 54 (1), (2) EPÜ ist und sich lediglich durch die Merkmale des Unterfrequenzbereichs vom dem in D5 (Seite 6, zweiter und dritter Absatz; Seite 7, dritter Absatz; Seite 12, dritter bis fünfter Absatz ) offenbarten Verfahren unterscheidet.

Nach diesen Merkmalen ist die Einspeisung der kinetischen Reserveenergie in Reaktion auf eine Netzfrequenzabweichung auf eine voreingestellte maximale Leistungserhöhung begrenzt, die konstant gehalten wird, sobald und solange die Netzfrequenz einen Regelbandbereich unterschreitet, sich also in dem sog. "Unterfrequenzbereich" befindet (natürlich auch nur, solange kinetische Reserveenergie überhaupt noch zur Verfügung steht).

4.2 Mit einer solchen Beschränkung der Bereitstellung von Leistung in Abhängigkeit von der Netzfrequenzabweichung bei Erreichen der voreingestellten maximalen Leistungserhöhung lässt sich die Dauer der Einspeisung der begrenzt zur Verfügung stehenden Menge an kinetischer Reserveenergie durch "Haushalten" verlängern. Die Konstanz der Leistungserhöhung im Unterfrequenzbereich trägt dazu bei, ein Überschwingen der Netzfrequenzregelung und damit längere Einregelzeiten zu vermeiden und so den Netzfrequenz-Ausgleich zu stabilisieren.

Somit kann die Aufgabe gelöst werden, die an sich nur kurzzeitig mögliche Leistungserhöhung unter Ausnutzung der kinetischen Reserveenergie effizient für eine Stabilisierung der Netzfrequenz bzw. deren Glättung einzusetzen (siehe Absatz 21 der Patentschrift).

4.3 Die beanspruchte Lösung der Vorbestimmung einer maximalen Leistungserhöhung und deren konstanter Beibehaltung in einem bestimmten Bereich der Frequenzabweichung ist weder durch Fachwissen, noch den zitierten Stand der Technik nahegelegt.

4.3.1 D5 schlägt als eine einfache Art der kinetischen Reserveenergie-Einspeisung in einem Regelbandbereich vor, die aktuelle Drehzahl der Windenenergieanlage zu überwachen und (ggf. in Abhängigkeit der Frequenzabweichung) solange kinetische Reserveenergie einzuspeisen, bis die Drehzahl der Windenergieanlage die zulässige Minimaldrehzahl erreicht hat (Seite 12, zweiter Absatz, zweiter Satz). Zwar kann nach D5 der zeitliche Verlauf der Einspeisung der kinetischen Reserveenergie verschieden gestaltet werden: durch Auswahl eines bestimmten Gradienten der pro Zeit der bereitgestellten Leistung oder auch abschnittsweise verschiedener Gradienten ("zunächst viel, dann weniger Energie", Seite 12, vierter Absatz). In diesem Zusammenhang wird sogar eine Art von "Haushalten" vorgeschlagen, nämlich "längere Zeit, wenig Energie". Dies ist aber weder von einer bestimmten Netzfrequenzabweichung (Unterfrequenzbereich), noch einer maximal vorbestimmten Leistungserhöhung beeinflusst, sondern lediglich von Drehzahl, Leistung und Einspeisedauer, siehe auch Seite 12, fünfter Absatz.

Demnach findet der Fachmann in D5 zwar Anregungen zur Lösung der Aufgabe, diese führen jedoch zu anderen Lösungen als der beanspruchten.

4.3.2 E8, die sich ebenfalls mit der Ausbeutung kinetischer Reserveenergie von Windenergieanlagen zur Unterstützung der Primärregelung befasst (siehe abstract), erkennt das Problem, dass nach Ausschöpfung der kinetischen Reserveenergie die Leistung der Windenergieanlage beträchtlich fällt und dadurch zu einer erneuten Destabilisierung der Netzfrequenz beiträgt (Abschnitt V, Fig. 2). Zur Verbesserung der Netzfrequenzstabilisierung schlägt E8 jedoch ebenfalls andere Lösungen als die anspruchsgemäße vor, nämlich den Netzfrequenzausgleich mehrerer Windräder zeitlich versetzt zu beenden oder eine sanftere Rückkehr zum Normalbetrieb durch einen allmählichen Übergang.

4.3.3 Wenn Windenergieanlagen in "konventioneller" Weise zur Primärregelung beitragen, müssen sie in der Lage sein, auf Abruf einen bestimmten, vom Netzbetreiber in einem "grid code" vorgegebenen Beitrag zur Netzfrequenzstabilisierung zu leisten. Die Leistungserhöhung kann dabei in Abhängigkeit der Netzfrequenzabweichung anhand eines Verlaufs erfolgen, der sich wie beim Verfahren des Anspruchs 1 über drei Bereiche erstreckt:

einen Totbandbereich geringer Frequenzabweichung, in dem die Leistungsabgabe nicht erhöht wird, einen Regelbandbereich, in dem die Leistung in Abhängigkeit von der Netzfrequenzabweichung von einem gedrosselten Betrieb bis zur möglichen Nennleistung gefahren wird, und einem Unterfrequenzbereich, bei dem die Leistung trotz immer noch wachsender Netzfrequenzabweichung nicht mehr erhöht wird, weil bereits die maximal mögliche Nennleistung (ohne Berücksichtigung einer potentiellen kinetischen Reserveenergie) eingespeist wird. Derartige Verläufe sind in den Dokumenten D1, Fig. 7, E5, Fig. 7, E6, Fig. 4 und E7, Fig. 5 gezeigt, legen das Vorsehen eines anspruchsgemäßen Unterfrequenzbereichs im Verfahren nach D5 aber auch nicht nahe.

Zum einen bezwecken sie ihrer Natur nach kein Haushalten mit begrenzt zur Verfügung stehender kinetischer Reserveenergie - bei Abgabe von Nennleistung ist eine Windenergieanlage beliebig lange betreibbar (jedenfalls solange der Wind anhält). Der Fachmann würde sie also zur Lösung der oben definierten Aufgabe nicht heranziehen, die von nur kurzzeitig möglichen Leistungserhöhungen ausgeht und diese betrifft.

Zum anderen wird bei solchen konventionellen Primärregelungsverfahren eine maximale Leistungserhöhung weder voreingestellt noch begrenzt, sondern ergibt sich automatisch aus der Differenz zwischen im gedrosselten Betrieb eingespeister Leistung und der Nennleistung, die von vorneherein als Maximalwert feststeht. Aus dem skalierten Verlauf in Fig. 7 der D1 kann abgelesen werden, dass die maximale Leistungserhöhung im gezeigten Beispiel grundsätzlich 100% der Ausgangsleistung beträgt (von 50% der Nennleistung auf 100% der Nennleistung). Zu Fig. 5 der E7 wird erläutert, dass der Totbandbereich und der Regelbandbereich einstellbar sind. Der Unterfrequenzbereich beginnt aber stets, wenn die abgegebene Leistung auf Nennleistung erhöht worden ist.

Somit kann der Fachmann auch diesen Dokumenten nicht alle unterschiedlichen Merkmale des Anspruchs 1 entnehmen, die er im Verfahren nach D5 ergänzen müsste, um zur Erfindung zu gelangen.

4.3.4 Die Beschwerdeführerinnen-Einsprechenden scheinen nicht zu bestreiten, dass der Fachmann "konventionelle" Primärregelungsverfahren normalerweise nicht zur Lösung der Aufgabe heranziehen und mit dem Verfahren der D5 kombinieren würde. Allerdings erkennen sie bestimmte Hinweise in den Dokumenten E5 und E7, die den Fachmann trotz des unterschiedlichen Charakters von konventioneller Primärregelung und kinetischer Reserveenergie-Einspeisung dazu veranlassen würden, den dort offenbarten Unterfrequenzbereich auf das Verfahren der D5 zu übertragen.

So spricht E5 auf Seite 5, dritter Absatz von einer "spinning reserve", womit nach Ansicht der Beschwerdeführerinnen-Einsprechenden eindeutig die kinetische Reserveenergie gemeint ist.

Obwohl beide Ausdrücke den Begriff "Reserve" enthalten, wird bereits im nächsten Satz der E5 klargestellt, dass der Windpark als "spinning reserve" gedrosselt unter Nennleistung ("below possible power") betrieben wird ("to make this work properly"), was auch als Delta Regelung bezeichnet wird und in der nachfolgenden Fig. 6 dargestellt ist. Somit ist ein Betrieb als "spinning reserve" in E5 eindeutig als Teil, insbesondere Ausgangspunkt, einer "konventionellen", dort in Fig. 7 gezeigten Primärregelung beschrieben.

Die auf Seite 265, dritter Absatz der E7 erwähnte Trägheit ("inertia") bezieht sich nach Ansicht der Beschwerdeführerinnen-Einsprechenden auf die im Trägheitsmoment gespeicherte Rotationsenergie, somit ebenso auf die kinetische Reserveenergie.

Das erscheint der Kammer nicht ganz zutreffend. Die im dritten Absatz erwähnte Trägheit ist zunächst die des gesamten Stromversorgungsnetzes ("in the power system"), zu der z.B. die Trägheit großer Kraftwerksturbinen maßgeblich beiträgt. Im folgenden wird darauf abgestellt, dass zu dieser Trägheit in analoger Weise auch Windräder mit direkt gekoppelten Generatoren beitragen, aber eigentlich nicht Windräder mit variabler Geschwindigkeit, deren Rotorträgheit durch ihren Geschwindigkeitsregler vom Netz entkoppelt ist. Jedoch könne bei diesen eine virtuelle Trägheit simuliert werden, damit sie trotzdem zur Trägheit des Netzes beitragen könnten. Es geht demnach im gesamten dritten Absatz um unmittelbar bei einer Frequenzabweichung eintretende Trägheitsreaktionen, und eben nicht um eine Primärregelung mit ihrem typischen Totbandbereich und der Leistungserhöhung in Abhängigkeit der Netzfrequenzabweichung in ihrem Regelbandbereich (sog. "droop control"), die im ersten, zweiten und vierten Absatz auf Seite 265 gesondert behandelt wird. Deshalb würde der Fachmann auch der E7 keine Verknüpfung von Primärregelung und kinetischer Reserveenergie entnehmen.

4.3.5 Zusammenfassend erkennt die Kammer in E5 und E7 weder einen Hinweis, zur Lösung der oben definierten Aufgabe bekannte grid codes auf das Verfahren nach D5 zu übertragen, noch würde eine solche Übertragung unmittelbar zum Verfahren nach Anspruch 1 führen.

4.4 Die Beschwerdeführerinnen-Einsprechenden definieren die objektiv zu lösende Aufgabe ausgehend von der D5 alternativ als Schutz der Windenergieanlage vor Beschädigung infolge von Überlastung. Wenn der Regelbandbereich nicht durch den Unterfrequenzbereich begrenzt und die maximale Leistungserhöhung nicht voreingestellt wird, würde die abgegebene Leistung einer zunehmenden Netzfrequenz-Abweichung auch in Bereiche folgen, für die die Windenergieanlage nicht ausgelegt ist, und in denen Bauteile Schaden nähmen.

Die in Anspruch 1 vorgeschlagenen Maßnahmen seien dann für den Fachmann zur Lösung dieser Aufgabe selbstverständlich. Darüber hinaus lehre E9, solche Schutzmaßnahmen auch beim Verfahren nach D5 zum Netzfrequenzausgleich vorzusehen: Zu Beginn des Abschnitts 4.3 werde bereits allgemein auf die mechanischen Belastungen hingewiesen, die bei der Entnahme von Energie aus dem Rotor einer Windrades aufträten. Im Abschnitt 5 auf Seite 985, linke Spalte werde dann explizit auf Windräder mit variabler Geschwindigkeit verwiesen, deren Leistungsstromrichter einem Überstrom nicht lange standhalten können, was den Betrag der dem Netz während Frequenzabweichungen zusätzlich zugeführter Leistung begrenzt. Demnach wisse der Fachmann, dass er auch bei Verfahren der in D5 genannten Art die dem Netz zusätzlich zugeführte Leistung begrenzen oder, mit anderen Worten, die maximale Leistungserhöhung voreinstellen sollte.

4.4.1 Die angenommene Überlastungsgefahr, die dieser Aufgabenstellung zugrunde liegt, scheint der Kammer jedoch nicht gegeben bzw. im Stand der Technik bereits beseitigt zu sein.

So spricht D5 selbst an, dass es nötig sein kann, die Auslegung des Umrichters und des Reglers mit anderen Drehzahlen/Leistungskennlinien durchzuführen, wenn das volle, mechanisch vorhandene Potential an kinetischer Reserveenergie genutzt werden soll (Seite 5, vierter Absatz). Nach einer solchen Anpassung sollte keine Überlastungsgefahr durch das in D5 vorgeschlagene Verfahren mehr bestehen, der durch weitere Maßnahmen entgegengewirkt werden müsste.

4.4.2 Es ist zutreffend, dass die Autoren der E9 ebenfalls eine mögliche Überlastung des Leistungsumrichters durch Überstrom in Betracht ziehen und diese Möglichkeit überprüfen, weil in diesem Fall der Rotorstrom ggf. begrenzt werden müsste. Das Ergebnis dieser Überprüfung ist jedoch, dass dies nicht nötig ist, weil der Rotorstrom bei Entnahme der kinetischen Reserveenergie seinen nominalen Grenzwert nicht übersteigt (siehe letzter Satz der linken Spalte auf Seite 985, Fig. 8) oder zumindest mit großen (gefährlichen) Übertretungen nicht zu rechnen ist (erster Absatz der rechten Spalte auf Seite 985).

4.4.3 E9 weist zudem darauf hin, dass bei einer Regelung in Abhängigkeit der Frequenzabweichung, der sog. "droop control" (Seite 981, linke Spalte, 1.vollständiger Absatz), sich die Leistungsabgabe langsamer steigert, was zu verhältnismäßig geringen mechanischen Belastungen im Antriebsstrang und Drehmomentschwankungen in der Antriebswelle führt (Übergang von Seite 984 auf Seite 985, Fig. 7). Somit sieht die E9 eben keine Gefahr mechanischer Überlastungen bei Entnahme kinetischer Reserveenergie in einer solchen "droop control", die der frequenzabhängigen Regelung im Regelbandbereich nach D5 (Seite 5, zweiter Absatz) und Anspruch 1 entspricht. Daher gibt die E9 dem Fachmann keinen Anlass, an dieser mechanisch relativ "sanften" Regelungsart etwas zu ändern.

4.4.4 Insgesamt scheint der Kammer deshalb weder die Ableitung der alternativen objektiven Aufgabe schlüssig und überzeugend, noch die Voreinstellung einer maximalen Leistungserhöhung zur Lösung dieser Aufgabe im Lichte des zitierten Stands der Technik naheliegend zu sein.

4.5 Aus den voranstehenden Gründen beruht das Verfahren nach Anspruch 1 unter Berücksichtigung des von den Beschwerdeführerinnen-Einsprechenden herangezogenen Standes der Technik auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.

5. Ergebnis

Das Patent und die Erfindung, dies es zum Gegenstand hat, erfüllen unter Berücksichtigung der gemäß Hilfsantrag 2 der Beschwerdegegnerin-Patentinhaberin vorgenommenen Änderungen, d.h. in der von der Einspruchabteilung nach Artikel 101(3)(a) EPÜ aufrechterhaltenen Fassung, die Erfordernisse des EPÜ.

Die Entscheidung der Einspruchsabteilung war deshalb zu bestätigen und die gegen sie gerichteten Beschwerden der Beschwerdeführerinnen-Einsprechenden zurückzuweisen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerden werden zurückgewiesen.

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