T 2723/16 () of 15.2.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T272316.20210215
Datum der Entscheidung: 15 Februar 2021
Aktenzeichen: T 2723/16
Anmeldenummer: 08787221.4
IPC-Klasse: A61K8/44
A61K8/49
A61Q5/08
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: REDUKTIVE ENTFÄRBUNG KERATINHALTIGER FASERN
Name des Anmelders: Henkel AG & Co. KGaA
Name des Einsprechenden: THE PROCTER & GAMBLE COMPANY
Kammer: 3.3.10
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2) (2007)
European Patent Convention Art 83 (2007)
European Patent Convention Art 100(b) (2007)
European Patent Convention Art 100(c) (2007)
European Patent Convention Art 111 (2007)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 11 (2007)
Schlagwörter: Änderungen - unzulässige Erweiterung (nein)
Ausreichende Offenbarung - unzumutbarer Aufwand (nein)
Zurückverweisung an die erste Instanz
Zurückverweisung - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0686/99
T 0407/10
T 1799/12
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Europäische Patent EP 2 178 495 unter Artikel 101(2) und (3)(b) EPÜ zu widerrufen.

II. Im Einspruchsverfahren war das Streitpatent unter Artikel 100(a) EPÜ wegen mangelnder Neuheit (Artikel 54 EPÜ) und mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ), sowie unter Artikel 100(b) EPÜ wegen mangelnder Offenbarung (Artikel 83 EPÜ) und unter Artikel 100(c) EPÜ wegen unzulässiger Erweiterung (Artikel 123(2) EPÜ) angegriffen worden.

III. In ihrer Entscheidung kam die Einspruchsabteilung zu dem Schluss, dass die Ansprüche des erteilten Patents im Prüfungsverfahren nicht unzulässig erweitert worden seien (Artikel 123(2) EPÜ). Jedoch stehe der von der Einsprechenden vorgebrachte Einspruchsgrund der unzureichenden Offenbarung (Artikel 100(b) EPÜ) der Aufrechterhaltung des erteilten Patents entgegen. Die Hilfsanträge 1 bis 3 seien ebenfalls wegen unzureichender Offenbarung nicht gewährbar (Artikel 83 EPÜ). Die Hilfsanträge 4 und 6 verstießen gegen die Erfordernisse des Artikels 123(3) EPÜ. Die Hilfsanträge 5 und 7 waren von der Patentinhaberin während der mündlichen Verhandlung zurückgezogen worden. Über die unter Artikel 100(a) EPÜ vorgebrachten Einspruchsgründe der mangelnden Neuheit und der mangelnden erfinderischen Tätigkeit wurde im Einspruchsverfahren nicht entschieden.

IV. Gegen diese Entscheidung wurde am 20. Dezember 2016 von der Patentinhaberin Beschwerde eingelegt, die am 3. März 2017 begründet wurde. Mit der Beschwerdebegründung wurden vier Hilfsanträge eingereicht.

V. Von der Beschwerdegegnerin (Einsprechende) wurden mit Schreiben vom 27. Juli 2017 und vom 20. Dezember 2019 Argumente vorgebracht gegen die Zulässigkeit der Hilfsanträge 2 bis 4 in das Beschwerdeverfahren sowie gegen die Gewährbarkeit aller Anträge.

VI. Mit Schreiben vom 31. Juli 2020 wurden die Parteien zur mündlichen Verhandlung für den 15. Februar 2021 geladen.

VII. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK wurden die Parteien über die vorläufige Einschätzung der Kammer informiert. Die Kammer war unter anderem der vorläufigen Ansicht, dass der Hauptantrag der Beschwerdeführerin sowohl den Erfordernissen des Artikels 123(2) EPÜ als auch des Artikels 83 EPÜ genüge.

Die Kammer informierte die Parteien zudem darüber, dass, gemäß den Anträgen beider Parteien, mit einer Zurückverweisung der Angelegenheit zur Prüfung der weiteren Patentierbarkeitskriterien an die Einspruchsabteilung zu rechnen sei.

VIII. Der unabhängige Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung, auf dem die angefochtene Entscheidung beruht und der auch der vorliegenden Entscheidung zugrunde liegt, lautet wie folgt:

"Verwendung eines Mittels mit einem pH-Wert von 1 bis 5, enthaltend in einem Träger eine Wirkstoffkombination aus

(a) mindestens einer organischen Verbindung der Formel (I)

HS-X-COOM (I)

worin

X ein gesättigtes oder ungesättigtes, lineares oder verzweigtes sowie aliphatisches Kohlenwasserstoffgerüst bedeutet, das gegebenenfalls mit mindestens einer der folgenden Gruppen substituiert ist Thiolgruppe, Carboxylgruppe, Carboxylatgruppe, Hydroxygruppe, -NH2, (C1 bis C6)-Alkylamino, (C1 bis C6)-Dialkylamino, (C1 bis C6)-Hydroxyalkyl,

M steht für ein Wasserstoffatom, eine (C1 bis C8)-Alkylgruppe oder ein Äquivalent eines ein- oder mehrwertigen Kations,

und

(b) mindestens einem cyclischen, organischen Carbonat als organische Verbindung, zur reduktiven Entfärbung keratinhaltiger Fasern, insbesondere menschlicher Haare."

IX. In ihrer Beschwerdebegründung und im weiteren Verfahren brachte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen folgendes vor:

Eine Basis für die während des Prüfungsverfahrens durchgeführten Änderungen in Anspruch 1 finde sich in den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 1, 2, 9 und 13. Dies sei so auch von der Einspruchsabteilung festgestellt worden. Daher seien die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ erfüllt.

In Bezug auf die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ argumentierte die Beschwerdeführerin, es gebe weder Tatsachen noch Beweismittel für die Behauptung, dass nicht alle beanspruchten Kombinationen der Komponenten (a) und (b) zum erfindungsgemäßen Erfolg führten, noch für die Behauptung, dass die Identifikation wirksamer Kombinationen der Komponenten (a) und (b) für den Fachmann mit einem großen Aufwand verbunden wäre. Es gebe auch keine Anhaltspunkte für die Annahme, die Identifikation wirksamer Kombinationen der Komponenten (a) und (b) sei für den Fachmann mit einem nennenswerten Aufwand verbunden. Von der Beschwerdegegnerin seien diesbezüglich lediglich Vermutungen geäußert worden.

X. In ihrer Antwort auf die Beschwerdebegründung und im weiteren Verfahren brachte die Beschwerdegegnerin im Wesentlichen folgendes vor:

Anspruch 1 des erteilten Patents sei während des Erteilungsverfahrens unzulässig erweitert worden (Artikel 123(2) EPÜ), da die in den geänderten Anspruch 1 aufgenommenen Merkmale zwar an sich in den ursprünglich eingereichten Ansprüchen offenbart seien, nicht jedoch deren Kombination. Die Beschwerdegegnerin verwies hierzu auf die Auswahl der unter Punkt (i) des ursprünglich eingereichten Anspruchs 1 angeführten Vertreter einer organischen Verbindung als "cyclischen, organischen Carbonaten", und deren Kombination mit der als Komponente (a) gemäß ursprünglichem Anspruch 2 gewählten "Verbindung der Formel (I)," sowie dem im ursprünglichen Anspruch 9 bevorzugt angegeben Bereich "von pH 1 bis pH 5".

Zudem seien die Definitionen der Komponenten (a) und (b) so breit, dass der Fachmann nicht ermitteln könne, welche Kombinationen daraus tatsächlich auch das funktionell definierte Merkmal der reduktiven Entfärbung erfülle. Es sei nicht glaubhaft, dass die Verwendung aller Mittel enthaltend in einem Träger jede der möglichen beanspruchten Kombinationen zu einer reduktiven Entfärbung keratinhaltiger Fasern führe. Der Fachmann werde nicht in die Lage versetzt, ohne unzumutbaren Aufwand das beabsichtigte Ergebnis der reduktiven Entfärbung keratinhaltiger Fasern über die gesamte Breite des Anspruchs zu erreichen, die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ seien daher nicht erfüllt.

XI. Anträge der Parteien

Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in der erteilten Fassung, hilfsweise im Umfang der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 4, aufrechtzuerhalten.

Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen und die Entscheidung der Einspruchsabteilung vollständig aufrechtzuerhalten, sowie die Hilfsanträge 2 bis 4 nicht zum Verfahren zuzulassen.

Beide Parteien beantragten, die Angelegenheit zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, falls der Beschwerde stattgegeben werde.

XII. Am 15. Februar 2021 fand eine mündliche Verhandlung, mit Einverständnis beider Parteien in Form einer Videokonferenz, statt. Am Ende der Verhandlung wurde die Entscheidung verkündet.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Hauptantrag - Änderungen (Artikel 100(c) EPÜ)

2.1 Die für die Änderungen relevanten Ansprüche 1, 2, 9 und 13 lauten in der ursprünglich eingereichten Fassung wie folgt (Hervorhebung durch die Kammer):

1. Mittel zur reduktiven Entfärbung keratinhaltiger Fasern, insbesondere menschlicher Haare, enthaltend in einem Träger eine Wirkstoffkombination aus

(a) mindestens einer organischen Verbindung, die mindestens eine Thiolgruppe und mindestens eine gegebenenfalls derivatisierte Carboxylgruppe trägt und

(b) mindestens einer organischen Verbindung, aus-gewählt aus der Gruppe, die gebildet wird, aus

(i) cyclischen, organischen Carbonaten und

(ii) Glycerin und seinen Derivaten,

(iii) C4-C12-Fettsäuredimethylamiden.

2. Mittel nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß Komponente (a) ausgewählt wird aus mindestens eine Verbindung der Formel (I)

HS-X-COOM (I)

worin

X ein gesättigtes oder ungesättigtes, lineares oder verzweigtes sowie aliphatisches Kohlenwasserstoffgerüst bedeutet, das gegebenenfalls mit mindestens einer der folgenden Gruppen substituiert ist

- Thiolgruppe

- Carboxylgruppe

- Carboxylatgruppe

- Hydroxygruppe

- -NH2

- (C1 bis C6)-Alkylamino

- (C1 bis C6)-Dialkylamino

- (C1 bis C6)-Hydroxyalkyl

M steht für ein Wasserstoffatom, eine (C1 bis C8)-Alkylgruppe oder ein Äquivalent eines ein- oder mehrwertigen Kations.

9. Mittel nach einem der Ansprüche 1 bis 8, dadurch gekennzeichnet, daß es einen pH-Wert von pH 1 bis pH 9, insbesondere von pH 1 bis pH 5, ganz besonders bevorzugt von pH 1 bis pH 3, besitzt.

13. Verwendung eines Mittels gemäß einem der Ansprüche 1 bis 12 zur Entfärbung keratinhaltiger Fasern, insbesondere menschlicher Haare.

2.2 Unstrittig zwischen den Parteien war, dass die mit jeder der durchgeführten Änderungen verbundenen Merkmale als solche in den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen offenbart werden. Auch die Kammer ist der Ansicht, dass Anspruch 1 des Hauptantrags lediglich Merkmale enthält, die bereits in den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 1, 2, 9 und 13 offenbart waren.

2.3 Unstrittig zwischen den Parteien war auch, dass die Verwendung gemäß Anspruch 1 bereits durch den ursprünglich eingereichten Anspruch 13 für alle in der Anmeldung offenbarten Mittel offenbart war. Auch die Kammer sieht in dieser geänderten Formulierung des Anspruchs 1 keine unzulässige Erweiterung im Sinne des Artikels 123(2) EPÜ. Insbesondere war Anspruch 13 in der ursprünglichen Fassung auf die Verwendung eines Mittels gemäß einem der vorangehenden Ansprüche gerichtet, also auf alle in diesen vorangehenden Ansprüchen 1 bis 12 jeweils definierten Mittel.

2.4 Die Beschwerdegegnerin brachte jedoch vor, dass die in den Anspruch 1 aufgenommenen Merkmale aus den Ansprüchen 2 (für die Definition der Komponente (a) des ursprünglich eingereichten Anspruchs 1), und 9 (für den Bereich von pH 1 bis pH 5), sowie insbesondere deren Kombination mit der Wahl von "cyclischen organischen Carbonaten" als organischer Verbindung der Komponente (b) des im Anspruch 1 definierten Mittels, zu einer unzulässigen Änderung führe.

2.5 Die Kammer schließt sich dieser Auffassung aus den folgenden Gründen nicht an:

2.5.1 Der ursprüngliche Anspruch 1 in Verbindung mit Anspruch 13 war auf die Verwendung von Mitteln gerichtet, die in einem Träger eine Wirkstoffkombination enthalten, welche mindestens eine aus den im Anspruch 1 unter (i) bis (iii) angegebenen organischen Verbindungen als Komponente (b) enthält (siehe Punkt 2.1 oben).

2.5.2 Um zum geänderten Anspruchsgegenstand zu gelangen, muss der Fachmann daher zunächst eine Auswahl aus drei im ursprünglich eingereichten Anspruch als gleichrangig angegebenen Möglichkeiten treffen, nämlich die Auswahl von "(i) cyclischen, organischen Carbonaten" als Komponente (b) der Wirkstoffkombination. In der Beschreibung werden allerdings ausschließlich Rezepturen angeführt, die mit der Verbindung Propylencarbonat eine unter die getätigte Auswahl fallende Verbindung beinhalten (siehe die Rezepturen E1 bis E3 in Tabelle 1 auf Seite 73 der ursprünglich eingereichten Beschreibung). Dies wird der Fachmann als Hinweis auf die Variante (i) als bevorzugte organische Verbindung (b) verstehen.

2.5.3 Im geänderten Anspruch 1 wird weiterhin die Komponente (a) des Mittels durch Aufnahme des Wortlauts des ursprünglichen Anspruchs 2 präzisiert. Hierzu wurde der komplette Wortlaut in den geänderten Anspruch 1 integriert. Da der ursprüngliche Anspruch 2 als abhängig von Anspruch 1 formuliert war, beinhaltete er bereits die Kombination aller Merkmale der Ansprüche 1 und 2. Daher handelt es sich bei dieser Änderung lediglich um eine Umformulierung des Wortlauts des ursprünglichen Anspruchs 2 in Verbindung mit der gemäß Punkt 2.5.2 getätigten Auswahl.

2.5.4 Analog verhält es sich mit der Aufnahme des Merkmals "mit einem pH-Wert von 1 bis 5". Im ursprünglichen Anspruch 9 wurden weitere Bereiche für den pH-Wert angegeben (siehe Punkt 2.1 oben). Es handelt sich hierbei jedoch nicht um mehrere gleichrangige Alternativen, sondern vielmehr wird der pH-Wert Bereich stufenweise präzisiert. Da der ursprüngliche Anspruch 9 wiederum als von allen vorangehenden Ansprüchen 1 bis 8 abhängig formuliert war, und somit die Kombination mit den Merkmalen dieser vorangehenden Ansprüche bereits enthielt, handelt es sich auch bei der Aufnahme dieses Merkmals in den Anspruch 1 lediglich um eine Umformulierung einer bereits ursprünglich offenbarten Merkmalskombination.

2.6 Somit ergibt sich die Merkmalskombination des geänderten Anspruchs 1 direkt ausgehend von Anspruch 13 unter Einbezug des den pH-Wert betreffenden Merkmals aus Anspruch 9, der Merkmale des Anspruchs 2 und einer einzigen zu tätigenden Auswahl aus dem ursprünglich eingereichten Anspruch 1. Diese Auswahl ist durch die in der Beschreibung offenbarten Beispiele als bevorzugt zu werten. Die Kammer vertritt daher die Auffassung, dass der Fachmann durch die durchgeführten Änderungen nicht mit einer technischen Information konfrontiert wird, die er nicht schon aus den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen unmittelbar und eindeutig entnehmen konnte.

2.7 Die Beschwerdegegnerin hat in ihrer Argumentation auf die Entscheidungen T 1799/12, T 407/10 und T 686/99 verwiesen. Auch unter Berücksichtigung der jeweiligen Sachverhalte kommt die Kammer aus folgenden Gründen nicht zu einer Änderung ihrer Beurteilung:

2.7.1 In der Angelegenheit T 1799/12 (siehe insbesondere Punkt 2.8 der Entscheidungsgründe) wurde eine spezifische Verpackungsform aus einer Reihe von möglichen Ausführungsformen ausgewählt und in den unabhängigen Anspruch aufgenommen. Nach Ansicht der zuständigen Kammer gab es in der Beschreibung des Streitpatents klare Hinweise darauf, dass eine erfindungsgemäße Verpackung gerade nicht bevorzugt in der ausgewählten Form vorliegen sollte. Somit war in der Beschreibung nicht nur kein Hinweis zugunsten des ausgewählten Merkmals enthalten, sondern vielmehr ein Hinweis darauf, eine andere Verpackungsform zu wählen. Dies ist vorliegend gerade nicht der Fall (siehe unter Punkt 2.5.2 oben).

2.7.2 Auch in der der Entscheidung T 407/10 zugrundeliegenden Angelegenheit wurden nach Ansicht der zuständigen Kammer Merkmale in den unabhängigen Anspruch aufgenommen, die bzw. deren Kombination mit anderen Merkmalen in der Beschreibung des Streitpatents nicht als bevorzugt angegeben waren (siehe insbesondere Punkt 2.1.4 und Punkt 3.2 der Entscheidungsgründe). Dies betrifft den vorliegenden Fall ebenfalls nicht.

2.7.3 In der Angelegenheit T 0686/99 (siehe insbesondere Punkt 4.3.3 der Entscheidungsgründe) befand die zuständige Kammer, dass eine durchgeführte Änderung durch mehrfache Auswahl aus zwei Listen alternativer Merkmale zustande kam. Diese Argumentation lässt sich jedoch nicht auf die vorliegende Angelegenheit übertragen, da weder aus zwei Listen, noch aus rein alternativen Merkmalen ausgewählt wurde (siehe unter Punkt 2.5.2 und Punkt 2.5.4 oben).

2.8 Die Kammer kommt daher in Übereinstimmung mit der Einspruchsabteilung zu der Auffassung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag im Prüfungsverfahren nicht unzulässig erweitert wurde und der Antrag somit den Erfordernissen des Artikels 123(2) EPÜ genügt. Der Einspruchsgrund unter Artikel 100(c) EPÜ ist deshalb nicht durchgreifend.

3. Hauptantrag - Ausführbarkeit (Artikel 100(b) EPÜ)

3.1 Die Einspruchsabteilung hatte den Widerruf des Patents wegen mangelnder Ausführbarkeit im Wesentlichen damit begründet, dass die anspruchsgemäße Definition der Komponenten (a) und (b) deutlich über das hinausgingen, was durch die Beispiele gezeigt werde. Daher könne der Fachmann nur durch Herumexperimentieren feststellen, welche der Vielzahl an möglichen Kombinationen zum Erfolg führen könnten. Bezüglich Nachweispflicht hat die Einspruchsabteilung festgestellt, dass eine Nacharbeitung bestimmter anspruchsgemäßer Ausführungsformen durch die Einsprechende/Beschwerdegegnerin aufgrund der Breite der Definitionen der Komponenten (a) und (b) im Anspruch nicht ohne Aufnahme eines Forschungsprogramms erfolgen könne.

3.2 Die Beschwerdegegnerin folgte im Wesentlichen der Argumentation der Einspruchsabteilung. Die Beschwerdeführerin trat dieser Einschätzung entgegen.

3.3 Die Kammer erachtet die Argumentation der Beschwerdeführerin aus folgenden Gründen überzeugend:

3.3.1 Anspruch 1 des Streitpatents bezieht sich auf die Verwendung eines Mittels mit einem pH-Wert von 1 bis 5 zur reduktiven Entfärbung keratinhaltiger Fasern, insbesondere menschlicher Haare. Das Mittel ist charakterisiert dadurch, dass es in einem Träger eine Wirkstoffkombination aus (a) mindestens einer organischen Verbindung der Formel (I), und (b) mindestens einem cyclischen, organischen Carbonat als organische Verbindung enthält. Die Variablen "X" und "M" der Verbindung der Formel (I) werden im Anspruch definiert. Der Anspruch verlangt nicht, dass ein bestimmter Grad an Entfärbung erreicht werden muss.

3.3.2 Um die beanspruchte Verwendung ausführen zu können, muss der Fachmann in die Lage versetzt werden, mit den im Patent angegebenen Informationen unter Zuhilfenahme seines allgemeinen Fachwissens ein im Anspruch definiertes Mittel bereitzustellen, und mit diesem eine reduktive Entfärbung keratinhaltiger Fasern zu erzielen. Das dem Fachmann hierzu notwendige Wissen muss außerdem ausreichend sein, um die Verwendung über die gesamte Breite des Anspruchs ohne unzumutbaren Aufwand nacharbeiten zu können. Um einen Mangel an Ausführbarkeit festzustellen, müssen ernsthafte Zweifel bestehen, die durch nachprüfbare Tatsachen erhärtet werden.

3.3.3 In der Beschreibung des Streitpatents wird die Herstellung von Rezepturen beschrieben, die augenscheinlich Mittel, enthaltend in einem Träger eine anspruchsgemäß definierte Wirkstoffkombination, umfassen (Tabelle 1: Rezepturen E1, E2 und E3). Ebenfalls beschrieben wird die Verwendung eines dieser Mittel (E1) zur Entfärbung keratinhaltiger Fasern (Absätze [0198] bis [0202] und Tabelle 2). Der Fachmann kann somit der Patentschrift wenigstens ein Beispiel entnehmen, wie der Anspruchsgegenstand ausgeführt werden kann.

3.3.4 Strittig zwischen den Parteien war, ob der Fachmann in die Lage versetzt wird, im Wesentlichen alle in den Schutzbereich der Ansprüche fallenden Ausführungsarten nachzuarbeiten.

3.3.5 Diesbezüglich wurde von der Beschwerdegegnerin behauptet, dass die Definitionen der Komponenten (a) und (b) so breit seien, dass der Fachmann nicht ermitteln könne, welche Kombinationen daraus tatsächlich auch das funktionell definierte Merkmal der reduktiven Entfärbung keratinhaltiger Fasern erfülle. Es sei nicht glaubhaft, dass diese Wirkung unter Verwendung aller anspruchsgemäß definierten Mittel auftrete. Insbesondere seien die beiden Komponenten (a) und (b) hinsichtlich ihrer Molekülgröße unbestimmt, Komponente (b) zusätzlich hinsichtlich möglicher zusätzlicher Substituenten, die auch Oxidationen verursachen könnten. Der Fachmann werde daher nicht in die Lage versetzt, ohne unzumutbaren Aufwand das beabsichtigte Ergebnis der reduktiven Entfärbung keratinhaltiger Fasern über die gesamte Breite des Anspruchs zu erreichen.

3.3.6 Die Komponenten (a) und (b) werden im Anspruch 1 insbesondere durch die zwingende Anwesenheit spezifischer funktioneller Gruppen definiert, nämlich einer Thiolgruppe in Formel (I) der Komponente (a), sowie eines cyclischen Carbonats als Komponente (b). Zudem sind die möglichen Substituenten des Kohlenwasserstoffgerüsts "X" ebenfalls auf bestimmte funktionelle Gruppen beschränkt. Die Kammer kann der Argumentation der Beschwerdegegnerin, dass die Komponenten (a) und (b) unverhältnismäßig breit definiert werden, daher nicht folgen. Auch hat die Beschwerdegegnerin konkrete Angaben darüber, oder Nachweise dafür, welche Kombinationen von anspruchsgemäß definierten Komponenten (a) und (b) sich nicht zur reduktiven Entfärbung keratinhaltiger Fasern eignen, nicht vorgebracht. Demgegenüber enthält die Patentschrift Informationen darüber, welche Komponenten (a) oder (b) der Fachmann auswählen kann, und in welchen Mengen diese in den zu verwendenden Mitteln enthalten sein sollten. Insbesondere in den Absätzen [0017] bis [0033] des Streitpatents werden dem Fachmann Ausgestaltungsmöglichkeiten sowohl für die Gruppe "X", inklusive deren bevorzugter Substituenten, und die Gruppe "M" von Verbindungen der Formel (I) als Komponente (a), als auch für die Komponente (b) der Mischung aufgezeigt. Inwiefern der Fachmann diese Informationen nicht nutzen würde, um weitere Beispiele zu erarbeiten, hat die Beschwerdegegnerin ebenfalls offen gelassen.

3.3.7 Selbst wenn unter die Definitionen der Komponenten (a) und (b) auch Verbindungen fallen sollten, die sich nicht für den angegebenen Zweck eignen, wie von der Beschwerdegegnerin mit Verweis auf eventuell oxidierende Substituenten der Komponente (b) vorgebracht wurde, erscheint es der Kammer fraglich, ob der Fachmann auf dem Gebiet der Haarpflegemittel solche für den beabsichtigten Zweck überhaupt in Betracht ziehen würde, insbesondere weil ihm in der Beschreibung des Streitpatents bereits Vorschläge gemacht werden, welche Komponenten er verwenden kann. Falls er dies doch versuchen würde, und damit keine reduktive Entfärbung keratinhaltiger Fasern erreichen würde, ist davon auszugehen, dass er die in der Beschreibung des Streitpatents enthaltene Information betreffend die bevorzugten Verbindungen der Komponenten (a) und (b) nutzen wird, um zu Mitteln zu gelangen, mit denen der gewünschte Effekt erzielt werden kann.

3.3.8 Auch wurden keine Argumente vorgebracht, inwiefern die Beschaffung von unter die Definitionen von (a) und (b) fallenden Substanzen, die Herstellung von diese enthaltenden Trägern, oder die Untersuchung, ob ein Mittel mit einem pH-Wert von 1 bis 5, enthaltend diese Wirkstoffkombination in einem Träger, zu einer reduktiven Entfärbung keratinhaltiger Fasern führt, einen unzumutbaren Aufwand darstellen sollte.

3.3.9 Ebenso hat die Beschwerdegegnerin keinen Versuch unternommen, um zu zeigen, dass bestimmte beanspruchte Ausführungsformen, basierend auf bestimmten Kombinationen von Vertretern der Gruppen (a) und (b), entweder nicht hergestellt werden können, oder nicht zur anspruchsgemäß geforderten reduktiven Entfärbung keratinhaltiger Fasern führen. Die Behauptung, dass der Fachmann hierzu eigene Versuche durchführen muss, erscheint der Kammer zwar korrekt, allerdings sieht sie dies nicht verbunden mit einen unzumutbaren Aufwand, insbesondere nicht im Hinblick auf die in der Patentschrift enthaltenen Informationen bezüglich der Art der Wirkstoffe (a) und (b) sowie der Durchführung der Versuche zur reduktiven Entfärbung keratinhaltiger Fasern (siehe Punkt 3.3.6 oben). Die Kammer erachtet die Durchführung derartiger Versuche daher nicht gleichbedeutend mit der Aufnahme eines Forschungsprogramms.

3.4 Die Kammer ist daher der Auffassung, dass die von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten Argumente nicht in überzeugender Weise zeigen, dass der Fachmann den beanspruchten Gegenstand im Wesentlichen nicht über die gesamte Breite nacharbeiten kann. Die Erfordernisse des Artikel 83 EPÜ werden somit erfüllt.

4. Zurückverweisung (Artikel 111 EPÜ)

Im Einspruchsverfahren war das Patent auch unter Artikel 100(a) EPÜ angegriffen worden. Zu den hierzu von der Einsprechenden/Beschwerdegegnerin im Einspruchsverfahren vorgebrachten Gründe wurde in der Einspruchsentscheidung nicht Stellung genommen. Ausweislich der Niederschrift zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung waren die Einspruchsgründe mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit auch nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Nach Ansicht der Kammer ist dies ein besonderer Grund gemäß Artikel 11 VOBK, der eine Zurückverweisung rechtfertigen kann.

Beide Parteien haben hilfsweise Antrag auf Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung gestellt, falls der Beschwerde stattgegeben wird. Die Kammer folgt diesen Anträgen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.

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