T 1948/16 () of 2.7.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T194816.20210702
Datum der Entscheidung: 02 Juli 2021
Aktenzeichen: T 1948/16
Anmeldenummer: 10773240.6
IPC-Klasse: B29C 45/76
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zur Regelung der Herstellung eines Produktes
Name des Anmelders: Priamus System Technologies AG
Name des Einsprechenden: Kistler Instrumente AG
Kammer: 3.2.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 100(c)
European Patent Convention Art 123(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(1)
RPBA2020 Art 011
RPBA2020 Art 024(1)
RPBA2020 Art 025(3)
Schlagwörter: Einspruchsgründe - neuer Einspruchsgrund (nein)
Zulassung eines neuen Einwandes nach Artikel 123 (2) EPÜ (nein)
Zurückverweisung an die erste Instanz (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0010/91
G 0001/95
G 0007/95
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Patentinhaberin hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 2 485 881 zu widerrufen, Beschwerde eingelegt.

Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass der in Artikel 100 c) EPÜ genannte Einspruchsgrund der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung entgegensteht, sowie dass unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ nicht erfüllt sind.

II. Am 7. Oktober 2019 erging eine Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer am 2. Juli 2021.

III. Anträge

Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in geänderter Fassung auf Grundlage des mit Schreiben vom 16. September 2020 als neuen Hauptantrag eingereichten Antrags (als Hilfsantrag eingereicht mit der Beschwerdebegründung) mit den Ansprüchen 1 bis 7 aufrechtzuerhalten.

Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.

IV. Anspruches 1 des vorliegenden Hauptantrags lautet wie folgt (die von der Kammer verwendeten Merkmalsbezeichnungen sind in eckigen Klammern angegeben):

"[HI1] Verfahren zur Regelung der Herstellung eines Produktes in einer Form, in die eine plastische Masse eingegeben wird, die einer Schergeschwindigkeit und/oder einer Schubspannung unterliegt,

[HI2] wobei die Schergeschwindigkeit und/oder die Schubspannung so lange verändert wird/werden, bis das Produkt seine gewünschte Qualität, wie insbesondere Oberflächengüte, Dimension, Festigkeit od.dgl. [sic], erreicht,

[HI3.1] die Schergeschwindigkeit und/oder Schubspannung für das Produkt mit gewünschter Qualität bestimmt wird,

[HI3.2] wobei die Schergeschwindigkeit und/oder die Schubspannung mit Hilfe von Druck- und/oder Temperatursensoren ermittelt wird/werden,

[HI4] die Schergeschwindigkeit und/oder Schubspannung nach Erreichen der gewünschten Qualität konstant gehalten wird/werden

[HI5.1] und Positionen von Druck- und Temperatursensoren in die Bestimmung einbezogen werden,

[HI5.2] um optimierte Werte einer Schergeschwindigkeit und/oder Schubspannung automatisch zwischen den entsprechenden Sensorpositionen zu ermitteln

[HI6] und in einer Datenbank abzuspeichern."

V. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, soweit für die Entscheidung relevant, war im Wesentlichen wie folgt:

Nicht-Zulassung des von der Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 7. April 2021 erhobenen Einwands nach Artikel 123 (2) EPÜ

Der von der Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 7. April 2021 erhobene Einwand nach Artikel 123 (2) EPÜ, dass das Merkmal [HI3.1] unzulässig erweitert sei, sei ein neuer Einspruchsgrund. Analog dazu, dass fehlende Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit verschiedene Einspruchsgründe darstellten, sei dieser neue Einwand als neuer Einspruchsgrund aufzufassen. Der im Einspruchsverfahren geltend gemachte Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ sei nämlich auf andere Merkmale gerichtet gewesen. Der Einführung des neuen Einspruchsgrundes stimme die Patentinhaberin nicht zu. Zudem sei er verspätet vorgebracht und daher gemäß Artikel 13 (1) VOBK 2007 nicht zuzulassen. Da das Merkmal [HI3.1] bereits Bestandteil der erteilten Ansprüche gewesen sei, hätte dieser Einwand bereits im Einspruchsverfahren vorgebracht werden müssen, spätestens aber in der Beschwerdeerwiderung.

Hauptantrag - keine unzulässige Erweiterung

Der Hauptantrag sei weder im Hinblick auf Merkmal [HI3.1] noch auf Merkmal [HI5.1] unzulässig erweitert.

Antrag auf Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung

Da die Einspruchsabteilung insbesondere über die Frage der erfinderischen Tätigkeit nicht entschieden und sich dazu auch nicht vorläufig geäußert habe, sei die Angelegenheit für die Prüfung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

VI. Der für die vorliegende Entscheidung relevante Vortrag der Beschwerdegegnerin beinhaltet im Wesentlichen Folgendes:

Zulassung des von der Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 7. April 2021 erhobenen Einwands nach Artikel 123 (2) EPÜ

Der mit Schreiben vom 7. April 2021 erhobene Einwand, dass das Merkmal [HI3.1] unzulässig erweitert sei, stelle zwar einen neuen Einwand aber keinen neuen Einspruchsgrund dar. Der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ sei von der Einspruchsabteilung zugelassen worden und somit im Verfahren. Der erteilte Anspruch 1 habe ursprünglich zwei Alternativen "die Simulation bzw. die Bestimmung" umfasst. Im Anspruch 1 des Hauptantrages sei die Alternative "die Simulation" im Merkmal [HI5.1] gestrichen worden. Dadurch erst sei das Augenmerk auf die Alternative "die Bestimmung" gerichtet worden. Dieser Begriff sei für sich genommen unklar und könne sich nur auf das Merkmal [HI3.1] beziehen. Erst dabei sei aufgefallen, dass dieses Merkmal unzulässig erweitert sei, weil eine Bestimmung der Schergeschwindigkeit und/oder der Schubspannung im Hinblick auf eine gewünschter Qualität des Produkts nicht ursprünglich offenbart gewesen sei. Daher sei dieser Einwand nach Artikel 13 (1) VOBK 2007 in das Verfahren zuzulassen.

Hauptantrag - unzulässige Erweiterung

Das Merkmal [HI3.1] des Hauptantrages sei, wie oben dargelegt, unzulässig erweitert. Andere Einwände gemäß Artikel 123 (2) EPÜ gäbe es nicht.

Antrag auf Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung

Die Beschwerdegegnerin hatte keine Einwände, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

Entscheidungsgründe

1. Nicht-Zulassung des von der Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 7. April 2021 erhobenen Einwands nach Artikel 123 (2) EPÜ

1.1 Die Einspruchsabteilung hat den Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ in das Verfahren zugelassen (siehe Punkt 2 der Entscheidungsgründe der Einspruchsabteilung) und den Widerruf des Patents unter anderem auf diesen Einspruchsgrund gestützt (siehe Punkt 3 der Entscheidungsgründe der Einspruchsabteilung). Die Beschwerdeführerin sieht den von der Beschwerdegegnerin erstmals mit Schreiben vom 7. April 2021 im Hinblick auf das Merkmal [HI3.1] erhobenen Einwand nach Artikel 123 (2) EPÜ als einen neuen Einspruchsgrund an.

1.2 Jedoch greift ihr Argument, dass verschiedene Einwände der unzulässigen Erweiterung des Anspruchsgegenstands analog zu den Einspruchsgründen der fehlenden Neuheit und der mangelnden erfinderischen Tätigkeit unter Artikel 100 a) EPÜ jeweils als separate Einspruchsgründe unter Artikel 100 c) EPÜ aufzufassen seien, nicht. Die diesbezüglich relevanten Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer (G 1/95 und G 7/95, ABl. EPA 1996, 615 und 626) haben klargestellt, was unter einem Einspruchsgrund zu verstehen ist. Artikel 100 EPÜ regelt, auf welche Rechtsgrundlagen, d.h. Einwände, ein Einspruch gestützt werden kann. Der Einspruchsgrund in Artikel 100 c) EPÜ definiert dabei eine einzelne, klar abgegrenzte Rechtsgrundlage für einen Einspruch und stellt somit einen (einzigen) Einspruchsgrund dar, im Gegensatz zu Artikel 100 a) EPÜ, der sich auf eine Sammlung verschiedener Erfordernisse bezieht (Artikel 52 bis 57 EPÜ) (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 9. Auflage, Juli 2019, IV.C.3.4.1; im Folgenden: "Rechtsprechung"). Weil sich im Fall mehrerer Einwände der unzulässigen Erweiterung des Anspruchsgegenstands alle diese Einwände auf die gleiche Rechtsgrundlage stützen, sind sie unter einem einzigen Einspruchsgrund, nämlich jenem nach Artikel 100 c) EPÜ, zu subsumieren. Vorliegend ist dieser Einspruchsgrund bereits im Verfahren, sodass der diesbezügliche neue Einwand gegen das Merkmal [HI3.1] keinen neuen Einspruchsgrund im Beschwerdeverfahren darstellt und seine Prüfung somit auch ohne Zustimmung der Patentinhaberin möglich ist (vgl. G 10/91, ABl. EPA 1993, 420, Leitsatz 3).

1.3 Zudem hat die Beschwerdeführerin beantragt, den neuen Einwand gegen das Merkmal [HI3.1] aufgrund seiner Verspätung nicht ins Verfahren zuzulassen.

1.4 Gemäß Artikel 25 (3) der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020, ABl. EPA 2019, A63) ist Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht anzuwenden, wenn vor dem Inkrafttreten der revidierten Fassung (d.h. 1. Januar 2020, siehe Artikel 24 (1) VOBK 2020) die Ladung zur mündlichen Verhandlung zugestellt wurde. Stattdessen ist weiterhin Artikel 13 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern in der Fassung von 2007 (VOBK 2007 - siehe ABl. EPA 2007, 536, und EPÜ, 16. Auflage, Juni 2016, Seiten 601 bis 629) anzuwenden.

1.5 Die Parteien wurden mit Schreiben vom 7. Oktober 2019 zur mündlichen Verhandlung geladen, weshalb vorliegend Artikel 13 VOBK 2007 anzuwenden ist.

1.6 In Anwendung von Artikel 13 (1) VOBK 2007 steht es im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung zuzulassen und zu berücksichtigen. Bei der Ausübung des Ermessens werden insbesondere die Komplexität des neuen Vorbringens, der Stand des Verfahrens und die gebotene Verfahrensökonomie berücksichtigt.

1.7 Im vorliegenden Fall wurde der Einwand, dass das Merkmal [HI3.1] unzulässig erweitert sei, von der Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 7. April 2021 erstmalig vorgetragen. Es ist hier zu berücksichtigen, dass das Merkmal [HI3.1] in der gleichen Form bereits Bestandteil von Anspruch 1 in der erteilten Fassung des Patents war. Ein eventueller Einwand hätte daher bereits im Einspruchsverfahren vorgebracht werden können, insbesondere als wegen des auf ein anderes Merkmal gerichteten verspätet vorgebrachten und von der Einspruchsabteilung zugelassenen Einspruchsgrundes nach Artikel 100 c) EPÜ die mündliche Verhandlung im Einspruchsverfahren vertagt worden war. Selbst das Argument der Beschwerdegegnerin, dass ihr die unzulässige Erweiterung erst durch das Streichen der Alternative "die Simulation" im Merkmal [HI5.1] aufgefallen sei, kann das Vorbringen des neuen Einwands zu einem fortgeschrittenen Stadium des Beschwerdeverfahrens nicht rechtfertigen, da diese Änderung im Hilfsantrag bereits mit der Beschwerdebegründung eingereicht worden war. Aus diesem Grund hätte die Beschwerdegegnerin genügend Veranlassung gehabt, diesen Einwand spätestens in der Beschwerdeerwiderung zu erheben. Die Beschwerdegegnerin hat keine überzeugende Begründung für ihr Unterlassen angegeben.

1.8 Folglich hat die Kammer entschieden, ihr Ermessen gemäß Artikel 13 (1) VOBK 2007 dahingehend auszuüben, den neuen Einwand nach Artikel 123 (2) EPÜ nicht ins Verfahren zuzulassen.

2. Artikel 123 (2) EPÜ

Die Beschwerdegegnerin erklärte, keine weiteren Einwände nach Artikel 123 (2) EPÜ zu haben, insbesondere nicht in Bezug auf das geänderte Merkmal [HI5.1].

3. Antrag auf Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung

3.1 Die Beschwerdeführerin beantragte die Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz. Die Beschwerdegegnerin hatte keine Einwände gegen eine Zurückverweisung.

3.2 Nach Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ steht es im Ermessen der Beschwerdekammer, ob sie in der Sache selbst entscheidet, oder ob sie diese an die Instanz zurückverweist, die die Entscheidung erlassen hat. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern besteht kein grundsätzliches Recht der Parteien auf die Prüfung eines Sachverhaltes in zwei Instanzen. Vielmehr entscheiden die Beschwerdekammern nach Sachlage im Einzelfall über die Zweckmäßigkeit einer solchen Zurückverweisung. Da die Beschwerde vorrangig der Überprüfung der Entscheidung der erstinstanzlichen Abteilung dient, wird eine Sache in der Regel zurückverwiesen, wenn wesentliche Fragen zur Patentierbarkeit des beanspruchten Gegenstands von der erstinstanzlichen Abteilung noch nicht geprüft und entschieden wurden (vgl. "Rechtsprechung" V.A.7.2.1)

3.3 Im vorliegenden Fall hat die Einspruchsabteilung nicht über die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) und b) EPÜ entschieden. Darüber hinaus wurde in den Ladungsbescheiden der Einspruchsabteilung keine vorläufige Meinung hinsichtlich erfinderischer Tätigkeit abgegeben. Die Kammer müsste also erstmalig und zugleich letztinstanzlich über die Patentfähigkeit entscheiden. Aufgrund dieser Erwägungen liegen nach Auffassung der Kammer besondere Gründe im Sinne von Artikel 11 VOBK 2020 vor, dem Antrag der Beschwerdeführerin zu folgen und die Angelegenheit nach Artikel 111 (1) EPÜ an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.

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