T 1915/16 () of 18.12.2019

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2019:T191516.20191218
Datum der Entscheidung: 18 Dezember 2019
Aktenzeichen: T 1915/16
Anmeldenummer: 07113038.9
IPC-Klasse: E05F 15/00
E05F 15/20
E05F 15/14
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zum Betrieb einer automatischen Schiebetüranlage
Name des Anmelders: GEZE GmbH
Name des Einsprechenden: Agtatec ag
Dorma Deutschland GmbH
Kammer: 3.2.08
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 123(2)
European Patent Convention Art 84
European Patent Convention Art 112(1)
Schlagwörter: Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag
Erfinderische Tätigkeit - (nein)
Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag 2
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Änderungen - Hilfsantrag 1
Änderungen - unzulässige Erweiterung (ja)
Patentansprüche - Klarheit
Patentansprüche - Hilfsantrag (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Mit der am 21. Juni 2016 zur Post gegebenen Entscheidung wies die Einspruchsabteilung die Einsprüche zurück.

II. Gegen diese Entscheidung legten die Einsprechenden 1 und 2 Beschwerde ein.

III. Eine mündliche Verhandlung fand am 18. Dezember 2019 vor der Beschwerdekammer statt.

IV. Die Beschwerdeführerinnen beantragen:

die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents, und

die Befassung der Grosse Beschwerdekammer mit den während der mündlichen Verhandlung vorgelegten Fragen.

V. Die Beschwerdegegnerin beantragt:

die Beschwerde zurückzuweisen, sowie hilfsweise, das Patent in der Fassung des Hauptantrags - nunmehr bezeichnet als Hauptantrag'

- oder einer der Hilfsanträge 1 oder 2, alle eingereicht mit Schriftsatz vom 14. November 2019, aufrecht zu erhalten.

VI. a) Hauptantrag

Anspruch 1 (wie erteilt) lautet:

"(A) Verfahren zum Betrieb einer automatischen Schiebetüranlage (1) mit mindestens einem Schiebeflügel (2), der mittels einer durch eine elektronische Steuerungseinrichtung angesteuerten Antriebseinrichtung (4) antreibbar ist,

(B) wobei ein Überwachungsbereich (6), welcher beim Öffnen des Schiebeflügels (2) von einer vertikalen Nebenschließkante des Schiebeflügels (2) passiert wird, durch eine Sensoreinrichtung (5) überwacht wird, indem die Sensoreinrichtung (5) beim Vorhandensein eines Hindernisses in diesem Überwachungsbereich (6) ein diesen Zustand anzeigendes Hindernissignal an die Steuerungseinrichtung abgibt,

(C) wodurch im Normalbetrieb ein sofortiges Abbremsen und Stoppen oder Reversieren des Schiebeflügels (2) bewirkt wird, und

(D) wobei die Schiebetüranlage (1) in einem Flucht- und Rettungsweg einsetzbar ist, indem die Antriebseinrichtung (4) so ausgebildet ist, dass im Notfallbetrieb der Flucht- und Rettungsweg nach Ansteuerung der Steuerungseinrichtung mit einem Notfallsignal freigebbar ist, indem der Schiebeflügel (2) durch die Steuerungseinrichtung von seiner Geschlossenlage (X0) in Richtung seiner Offenlage (X2) bewegt wird, und

(E) wobei der Schiebeflügel (2) beim Auftreten des Hindernissignals, während das Notfallsignal vorliegt, gezielt bis zum Stillstand in einem Stopppunkt (X1) abgebremst wird,

dadurch gekennzeichnet,

dass (F) der Stopppunkt (X1) ausschließlich bei 80% oder zwischen 80% einer für eine in einem Flucht- und Rettungsweg einsetzbaren Schiebetüranlage (1) vorgegebenen Mindestöffnungsweite (XM) und der vollständigen Offenlage (X2) zugelassen ist,

(G) wobei der Schiebeflügel (2) nach Ablauf einer ab Erreichen eines Stopppunkts (X1), welcher zwischen 80% und 100% einer für eine in einem Flucht-und Rettungsweg einsetzbaren Schiebetüranlage (1) vorgegebenen Mindestöffnungsweite (XM) liegt, laufenden Stillstandszeit (t6) mit einer geringeren Niedriggeschwindigkeit (V1) in seine Mindestöffnungsweite (XM) bewegt wird."

(Merkmalsgliederung in Fett durch die Kammer eingefügt)

b) Hauptantrag'

Die Ansprüche dieses Antrags wurden gegenüber den Hauptantrag nicht geändert (im Vergleich zum Hauptantrag wurde lediglich die Beschreibung geändert).

c) Hilfsantrag 1

Folgendes Merkmal ist nach Merkmal F im Anspruch 1 des Hauptantrags eingefügt worden:

"so dass der Schiebeflügel (2) in dem Fall, dass während seiner durch das Notfallsignal ausgelösten Öffnungsbewegung ein Hindernissignal auftritt, bevor er die vorgeschriebene Mindestöffnungsweite (XM) erreicht hat, bis zum Erreichen von 80% der vorgeschriebenen Mindestöffnungsweite (XM) in Öffnungsrichtung in Bewegung gehalten und erst bei diesen 80% der vorgeschriebenen Mindestöffnungsweite (XM) in einem Stopppunkt (XM) zum Stillstand gebracht wird,"

d) Hilfsantrag 2

Folgendes Merkmal ist nach Merkmal F im Anspruch 1 des Hauptantrags eingefügt worden:

"wobei der Schiebeflügel (2), wenn die vorgenannten Kriterien beim Auftreten eines Hindernissignals, während des Notfallsignal vorliegt, nicht erfüllt sind, weiter in Öffnungsrichtung betrieben wird, bis das Kriterium erfüllt ist, dass der Stopppunkt (X1) bei 80% der Mindestöffnungsweite (XM) liegt, und"

VII. Folgende Dokumente sind relevant für diese Entscheidung:

D1/D14': DIN 18650-1

D2': DE 36 43 324 C2

D4/D5': DE 10 2004 031 897 A1

Zur Stützung ihrer Anträge trugen die Beschwerdeführerinnen im Wesentlichen Folgendes vor:

a) Hauptantrag

i) Ausführbarkeit

Die beanspruchte Erfindung sei nicht ausführbar, weil das Patent nicht beschreibe, wie die Mindestöffnungsweite zu bestimmen sei. Die Mindestöffnungsweite sei wesentlich für die Lehre des Anspruchs 1. Außerdem könne die Mindestöffnungsweite aufgrund unterschiedlicher gesetzlicher Bestimmungen in verschiedenen Ländern unterschiedlich sein, so dass der Fachmann nicht wisse, ob er im Schutzumfang des Anspruchs arbeite.

Darüber hinaus sei im Patent nicht angegeben, wie der Fachmann die normierte Öffnungszeit von 3s bei allen beanspruchten Varianten erreichen soll.

ii) Neuheit

D4/D5' offenbare alle Merkmale des Anspruchs 1. Der Wert der Mindestöffnungsweite habe keinen feststellbaren technischen Effekt. Wenn der Mindestöffnungswert 80% des Maximalöffnungswerts entspricht und das Verfahren nach D4/D5' laufe, führe das zu dem gleichen Ergebnis wie wenn der Mindestöffnungswert dem Maximalöffnungswert entspreche und das Verfahren anspruchsgemäß ablaufe. Das Merkmal sei daher nur als Platzhalter zu betrachten. Die fehlende Neuheit folge auch aus den Begründungen der Beschlüsse des Bundespatentgerichts 19 W 79/17 sowie des Bundesgerichtshofs X ZB 6/15.

iii) Erfinderische Tätigkeit

Ausgehend von D4/D5' beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Auch wenn D4/D5' die Merkmale E und G nicht offenbare, sei der Fachmann aus Sicherheitsgründen immer bemüht, die Tür soweit wie möglich zu öffnen. Damit würde der Fachmann das Merkmal G in dem aus D4/D5' bekannten Verfahren einsetzen, auch wenn eine Einklemmungsgefahr bestehe.

Die Tür nach D4/D5' sei bereits mit einem Sensor 5 ausgestattet. Für den Fachmann sei es naheliegend, diesen vorhandenen Sensor zu verwenden.

Damit gelange der Fachmann ohne erfinderisches Zutun zum Gegenstand des Anspruchs 1.

b) Hauptantrag'

Die Ansprüche nach diesem Antrag seien gegenüber dem Hauptantrag nicht geändert worden. Damit beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 ebenfalls nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

c) Hilfsantrag 1

Der Hilfsantrag 1 sei verspätet vorgebracht worden und nicht in das Verfahren zuzulassen.

Der Begriff "vorgeschriebenen" sei nicht aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung entnehmbar. Damit seien die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ nicht erfüllt.

d) Hilfsantrag 2

Der Hilfsantrag 2 sei verspätet vorgebracht worden und in das Verfahren nicht zuzulassen. Darüber hinaus sei er auch nicht gewährbar.

i) Artikel 123(2) EPÜ

Die Änderungen seien nicht im Einklang mit Artikel 123(2) EPÜ, weil die unklaren "vorgenannten Kriterien" nicht ursprünglich offenbart seien.

ii) Klarheit

Der neu eingeführte Begriff "Mindestöffnungsweite" im Anspruch 1 sei nicht klar. Ebenfalls unklar sei, was unter den "vorgenannten Kriterien" zu verstehen sei.

iii) Erfinderische Tätigkeit

Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe aus den gleichen Gründen wie beim Hauptantrag nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D4/D5' oder D1/D14, weil der Anspruch inhaltlich nicht verändert worden sei.

Auch beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D4/D5' oder D1/D14 im Hinblick auf die Lehre von D2'.

e) Vorlage an die Große Beschwerdekammer

Die gestellten Fragen seien von erheblicher rechtlicher Bedeutung.

VIII. Zur Stützung ihrer Anträge trug die Beschwerdegegnerin im Wesentlichen Folgendes vor:

a) Hauptantrag

i) Ausführbarkeit

Der Fachmann sei anhand der Beschreibung und der Figuren in der Lage, die Erfindung auszuführen. Bezüglich der Mindestöffnungsweite sei der Fachmann in der Lage, diesen Wert durch Normen oder auch durch seine tägliche Arbeit zu bestimmen.

Der Anspruch enthalte keine Angabe darüber, wie schnell die Mindestöffnungsweite erreicht werden solle. Der Fachmann könne daher die beanspruchte Erfindung ausführen, auch bei Überschreiten der in der Norm angegebenen Zeit.

Ob der Fachmann erkenne, dass er im Schutzbereich arbeite, sei eine Frage der Klarheit und nicht der Ausführbarkeit.

Damit sei die Erfindung ausführbar.

ii) Neuheit

D4/D5' beschreibe Merkmale E, F, und G des Anspruchs 1 nicht. Insbesondere sei ein Stopp des Schiebeflügels vor Erreichen der Mindestöffnungsweite aus D4/D5' nicht bekannt.

Die Mindestöffnungsweite sei kein willkürlich ausgewählter Wert. Auch habe dieser Wert eine erkennbare Auswirkung auf der Bewegung des Schiebeflügels, weil ein Stoppen des Schiebeflügels vor dem Mindestöffnungswert ausgeschlossen sei. Gemäß D4/D5' sei lediglich ein Stoppen nach Erreichen der Mindestöffnungsweite X1 möglich.

iii) Erfinderische Tätigkeit

Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe auf einer erfinderischen Tätigkeit. Ein Stoppen des Schiebeflügels vor der Mindestöffnungsweite sei aus dem Stand der Technik nicht bekannt. Weder die Verwendung des Sensors 5 noch eine Weiterfahrt der Tür gemäß der D4/D5' seien bei einem Einklemmen der Tür naheliegend. Somit beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit.

b) Hauptantrag'

Die Argumente bezüglich des Hauptantrags seien ebenfalls gültig für diesen Antrag.

c) Hilfsantrag 1

Hilfsantrag 1 sei - ebenso wie Hilfsantrag 2 - als Reaktion zu der Mitteilung der Kammer eingereicht worden. Beide Hilfsanträge seien deshalb in das Verfahren zuzulassen.

Der Begriff "vorgeschrieben" sei synonym mit dem in der Anmeldung verwendeten Begriff "vorgegeben". Die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ seien daher erfüllt.

d) Hilfsantrag 2

i) Artikel 123(2) EPÜ

Das Merkmal F' sei aus Paragraf [0006] entnommen worden. Der Anspruch erfülle daher die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ.

ii) Klarheit

Der Begriff "Mindestöffnungsweite" sei schon im erteilten Anspruch enthalten. Die "vorgenannten Kriterien" seien eindeutig die Kriterien gemäß Merkmal F. Daher sei der Anspruch durch die Änderungen nicht unklar geworden.

iii) Erfinderische Tätigkeit

Durch das eingefügte Merkmal F' werde deutlich, dass der Schiebeflügel vor der Mindestöffnungsweite stoppen und anschließend bis zur Mindestöffnungsweite weiterfahren könne. Damit sei der Einfluss der Mindestöffnungsweite auf das beanspruchte Verfahren feststellbar, das sich somit von dem im D4/D5' beschriebenen Verfahren unterscheide.

e) Vorlage an die Große Beschwerdekammer

Eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer sei nicht notwendig, da keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung erhoben worden sei. Auch sei ein Antwort nicht notwendig, um den vorliegenden Fall zu entscheiden.

Entscheidungsgründe

1. Hauptantrag

1.1 Ausführbarkeit

Gemäß dem Anspruch 1 ist die Mindestöffnungsweite wesentlich für die Definition der Erfindung. Es ist daher notwendig, einen Wert der Mindestöffnungsweite zu bestimmen, um die Erfindung auszuführen.

Es stimmt, dass im Patent dieser Wert nicht definiert ist, und keine Norm oder Berechnungsmethode dafür angegeben ist. Jedoch ist dieser Wert eine bekannte Größe vgl. D4/D5', Paragraf [0003] oder D1/D14, Absatz 5.8.3.4.1. Der Fachmann hätte keine Schwierigkeiten einen Wert für die Mindestöffnungsweite, evtl. unter Berücksichtigung der Besonderheiten der individuellen Tür, zu bestimmen. Die Tatsache, dass sich dieser Wert über die Zeit oder in verschiedenen Ländern ändern kann, und dass somit der Schutzbereich nicht eindeutig definiert wird, ist keine Frage der Ausführbarkeit sondern der Klarheit.

Vom beanspruchten Verfahren wird nicht gefordert, dass die Mindestöffnungsweite in einer bestimmten Zeit - insbesondere in den von der Beschwerdeführerinnen erwähnten 3 Sekunden - zu erreichen ist. Eine Schwierigkeit bei der Ausführung der Erfindung besteht insoweit deshalb nicht.

Daher ist die beanspruchte Erfindung im Patent so deutlich und vollständig offenbart, dass der Fachmann sie ausführen konnte.

1.2 Neuheit

1.2.1 D4/D5' offenbart unstreitig Merkmale A - D des Oberbegriffs des Anspruchs 1:

ein Verfahren zum Betrieb einer automatischen Schiebetüranlage mit mindestens einem Schiebeflügel (2), der mittels einer durch eine elektronische Steuerungseinrichtung angesteuerten Antriebseinrichtung antreibbar ist (siehe Paragraph [0017]),

wobei ein Überwachungsbereich (6), welcher beim Öffnen des Schiebeflügels von einer vertikalen Nebenschließkante des Schiebeflügels passiert wird, durch eine Sensoreinrichtung (5) überwacht wird, indem die Sensoreinrichtung beim Vorhandensein eines Hindernisses in diesem Überwachungsbereich ein diesen Zustand anzeigendes Hindernissignal an die Steuerungseinrichtung abgibt, wodurch im Normalbetrieb ein sofortiges Abbremsen und Stoppen oder Reversieren des Schiebeflügels bewirkt wird (siehe Paragrafen [0021] und [0022]), und

wobei die Schiebetüranlage (1) in einem Flucht- und Rettungsweg einsetzbar ist, indem die Antriebseinrichtung so ausgebildet ist, dass im Notfallbetrieb der Flucht- und Rettungsweg nach Ansteuerung der Steuerungseinrichtung mit einem Notfallsignal freigebbar ist, indem der Schiebeflügel durch die Steuerungseinrichtung von seiner Geschlossenlage (X0) in Richtung seiner Offenlage (X2) bewegt wird (siehe Paragraf [0021]).

1.2.2 Das Verfahren im Ausführungsbeispiel der Fig. 2 von D4/D5' bremst der Flügel beim Auftreten des Hindernissignals auf eine geringe Niedriggeschwindigkeit ab - siehe Anspruch 1 und Paragraf [0021]. Gemäß Paragraf [0013] kann aber auch eine weitere Absicherung eingebaut sein, bei der das Einklemmen eines Hindernisses während der langsamen Bewegung zum Abschalten der Antriebsvorrichtung führt. Diese Abschalten wird durch Messung der Flügelgeschwindigkeit oder des Motorstroms ausgelöst. Das Abschalten bedingt somit einen Stopppunkt im Bereich zwischen X1=0.8 X2 und der Öffnungsweite X2 (vollständige Offenlage).

X2 kann als "Mindestöffnungsweite" im Sinne des Anspruchs 1 angesehen werden, da die Mindestöffnungsweite des Streitpatents auch der vollständigen Offenlage entsprechen kann (Figur 2 des Streitpatents). Die Tatsache, dass in D2 demgegenüber X1 als Mindestöffnungsweite genannt ist, ist dabei nicht relevant, da - wie oben erklärt - die Mindestöffnungsweite gemäß dem Streitpatent eine an die Umstände angepasster Wert ist, welcher nicht notwendigerweise der Mindestöffnungsweite der D4 entspricht.

Folglich offenbart D4/D5' auch Merkmal F, wonach

der Stopppunkt ausschließlich bei 80% oder zwischen 80% einer für eine in einem Flucht- und Rettungsweg einsetzbaren Schiebetüranlage vorgegebenen Mindestöffnungsweite und der vollständigen Offenlage zugelassen ist.

Damit sind Merkmale A - D und F aus D4/D5' bekannt.

1.2.3 Laut Anspruch 1 wird das Stoppen des Flügels durch das Hindernissignal eingeleitet (Merkmal E). Das Hindernissignal wird durch die Sensoreinrichtung bestimmt, die den Überwachungsbereich überwacht (Merkmal B).

Demgegenüber enthält D4 keinen Hinweis darauf, dass das Stoppen des Flügels durch die Sensoreinrichtung 5 ausgelöst wird (im Paragraf [0013] werden als Beispiele die Messung der Flügelgeschwindigkeit oder des Motorstroms genannt). Damit ist es aus D4/D5' nicht bekannt, dass der Schiebeflügel beim Auftreten des Hindernissignals, während das Notfallsignal vorliegt, gezielt bis zum Stillstand in einem Stopppunkt abgebremst wird (Merkmal E).

D4/D5' offenbart auch nicht, dass der Flügel nach Erreichen des Stopppunkts mit einer geringeren Niedriggeschwindigkeit in seine Mindestöffnungsweite bewegt wird. Nach D4/D5', Paragraf [0013] wird nämlich die Antriebseinrichtung beim Auftreten eines Hindernisses (im Bereich zwischen X1=0.8 X2 und X2) abgeschaltet. Daher ist eine Weiterfahrt bis zur Öffnungsweite X2 ausgeschlossen, was ebenfalls der Vermeidung eines Einklemmens dient. Es stimmt, dass nach Paragraf [0013] der Flügel die "Mindestöffnungsweite" X1 der D4/D5' schon erreicht hat. Wie oben erklärt stellt aber, wenn Merkmal F als offenbart in D4/D5' angesehen wird, nicht X1 sondern X2 die Mindestöffnungsweite im Sinne des Anspruchs 1 dar. Damit ist Merkmal G nicht aus D4/D5' bekannt.

Folglich sind die Merkmale E und G nicht aus D4/D5' bekannt. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs in der Sache X ZB 6/15 führt ebenfalls nicht zu einem anderen Ergebnis, weil der diesem Verfahren zugrundeliegende Anspruch nicht identisch mit dem vom Bundesgerichtshof geprüften Anspruch ist und weil in der zitierten Entscheidung nicht erklärt wird, warum Merkmal E aus D4/D5' bekannt sein sollte.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist damit neu.

1.3 Erfinderische Tätigkeit

Das in D4/D5' Paragraf [0013] beschriebene Ausführungsbeispiel bildet unstreitig den nächstliegenden Stand der Technik.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich vom Verfahren nach D4/D5' durch die Merkmale E und G.

Die zu lösende Aufgabe ist nach dem Patent, Paragraf [0004], ein Verfahren zu schaffen, welches sowohl eine zuverlässige Freigabe des Fluchtweges als auch eine Minimierung der von der Nebenschließkante des sich öffnenden Schiebeflügels ausgehenden Gefahr gewährleistet.

Es ist dem Fachmann bekannt, dass sich die Sicherheit erhöhen lässt, wenn die Schiebetür so weit wie möglich geöffnet wird, selbst wenn die Gefahr einer Einklemmung vorliegt. Es war deshalb für den Fachmann naheliegend, die Tür nach dem im Paragraf [0013] beschriebenen Abschalten weiter zu fahren, wie im Paragraf [0012] und Fig. 2 beschrieben. Damit schafft der Fachmann die angestrebte zuverlässige Freigabe des Fluchtweges mittels Merkmals (G) ohne erfinderisches Zutun.

Dem Fachmann ist auch bewusst, dass die Tür gemäß D4 einen Sensor 5 aufweist, der beim Vorhandensein eines Hindernisses (auch eines Hindernisses, das zu einer Einklemmung führen könnte) in diesem Überwachungsbereich ein diesen Zustand anzeigendes Hindernissignal an die Steuerungseinrichtung abgibt. Es wäre eine offensichtliche Maßnahme, diesen vorhandenen Sensor zu verwenden, auch um die zusätzliche Einklemmschutz zu betätigen. Das Merkmal E ist deshalb auch ausgehend von D4 naheliegend.

Damit beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

2. Hauptantrag'

Die Ansprüche dieses Antrags sind gegenüber den Hauptantrag nicht geändert worden und damit aus den oben genannten Gründen ebenfalls nicht gewährbar.

3. Zulassung in das Verfahren der Hilfsanträge 1 und 2

Die Hilfsanträge wurden spät d.h. nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung im Verfahren eingereicht. Allerdings sind die Änderungen nicht komplex. Sie haben keine neue Fragen aufgeworfen, deren Behandlung der Kammer und den anderen Beteiligten nicht während der Verhandlung hätten zugemutet werden können. Die Änderungen können auch als Reaktion zur Mitteilung der Kammer angesehen werden. Die Kammer entschied daher diese Hilfsanträge ins Verfahren zuzulassen.

4. Hilfsantrag 1

4.1 Artikel 123(2) EPÜ

Das Wort "vorgeschrieben" wurde nicht in der ursprünglich eingereichten Anmeldung verwendet. Im Kontext des neu eingefügten Merkmals impliziert es, dass die Mindestöffnungsweite durch eine Anweisung, z.B. gesetzlich, bestimmt wird. Eine solche Bedeutung geht aus ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht hervor. Der Argument, wonach "vorgeschrieben" und "vorgegeben" synonym sind, überzeugt daher nicht. Eine "Vorgabe" kann vielmehr auch auf technischen Anforderungen beruhen.

Der Hilfsantrag 1 erfüllt daher nicht die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPC.

5. Hilfsantrag 2

5.1 Klarheit

Der nach der Meinung der Beschwerdeführerinnen unklare Begriff "Mindestöffnungsweite" ist im neu eingefügten Merkmal zu finden. Der Begriff ist jedoch bereits im erteilten Anspruch 1 enthalten, so dass die behauptete Unklarheit nicht durch die Änderungen herbeigeführt wurde. Insoweit besteht daher kein Klarheitsmangel.

Der Begriff "vorgenannten Kriterien", der erst im Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 eingeführt wurde, ist klar, da dieser direkt nach einer Liste von verschiedenen Konditionen bzw. Kriterien, nämlich die Kriterien gemäß Merkmal F gebraucht wird. Für den Leser ist damit ohne weiteres erkennbar, dass die "vorgenannten Kriterien" diejenigen des Merkmals F gemeint sind.

Die Änderungen der Ansprüche erfüllen daher die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ.

5.2 Artikel 123(2) EPÜ

Es ist aus dem Wortlaut des Anspruchs wie oben erläutert klar, dass die im neuen eingefügten Merkmal erwähnten "vorgenannten Kriterien", die im Merkmal F definierten Kriterien sind. Diese sind im Paragraf [0006] der ursprünglich eingereichten Anmeldung offenbart. Das neu eingefügte Merkmal im Anspruch 1 ist deshalb aus Paragraf [0006] entnommen worden und erfüllt die Erfordernisse des Artikel 123(2) EPÜ.

5.3 Erfinderische Tätigkeit

5.3.1 D4/D5' als nächstliegender Stand der Technik

Offenbarung von D4/D5'

Das Merkmal F', wonach "der Schiebeflügel (2), wenn die vorgenannten Kriterien beim Auftreten eines Hindernissignals, während des Notfallsignal vorliegt, nicht erfüllt sind, weiter in Öffnungsrichtung betrieben wird, bis das Kriterium erfüllt ist, dass der Stopppunkt (X1) bei 80%der Mindestöffnungsweite (XM) liegt", stellt in Verbindung mit dem Merkmal F klar, dass auch Hindernisse vor 80% der Mindestöffnungsweite berücksichtigt werden und wie das implementiert wird (mit einem kurzen Stoppen bei 80% der Mindestöffnungsweite). Dies hat einen Effekt auf das Verhalten der Tür und somit eine beobachtbare technische Wirkung. Dies ist jedoch nicht der Fall bei dem aus D4/D5' bekannten Verfahren, wonach lediglich Hindernisse nach dem Erreichen von 0,8 X2 berücksichtigt werden - siehe Paragrafen [0011], [0013].

Daher unterscheidet sich der Gegenstand des Anspruchs 1 vom Verfahren nach D4/D5' durch die Merkmale F' und E,G (siehe Paragraf 1.2 oben).

Aufgabe

Die zu lösende Aufgabe ist nach dem Patent, Paragraf [0004], ein Verfahren zu schaffen, welches sowohl eine zuverlässige Freigabe des Fluchtweges als auch eine Minimierung der von der Nebenschließkante des sich öffnenden Schiebeflügels ausgehenden Gefahr gewährleistet. Dies ist unstreitig.

Lösung

Es ist dem Fachmann bekannt, dass sich die Sicherheit dadurch erhöhen lässt, wenn die Schiebetür so weit wie möglich geöffnet wird. Dies mag den Fachmann zwar dazu anregen, die Tür, wie im Paragraf [0013] (Obergriff des Anspruchs 1 und Fig. 2) beschrieben, auch nach dem im Paragraf [0013] beschriebenen Aufhalten weiter zu fahren. Jedoch würde der Fachmann nicht ohne erfinderisches Zutun zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangen, weil die beanspruchte Berücksichtigung der Hindernisse vor 80% der Mindestöffnungsweite, die eine erhöhte Sicherheit mit sich bringt, im Stand der Technik weder offenbart noch nahegelegt wird.

Insbesondere ist eine solche Lehre in D2' nicht zu finden. D2' offenbart nämlich ein Türöffnungsverfahren mit Personenerfassung, siehe Anspruch 1. Jedoch ist weder eine Notöffnung noch eine Mindestöffnungsweite offenbart. Merkmal F' wird auch weder offenbart noch nahegelegt.

Damit beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D4/D5'.

5.3.2 D1/D14 als nächstliegender Stand der Technik

a) Offenbarung D1/D14

D1/D14 lässt ein Stoppen des Schiebeflügels vor der Mindestöffnungsweite nicht zu.

Daher offenbart D1/D14 nicht die Merkmale E, F', G.

b) Aufgabe

Die zu lösende Aufgabe ist nach dem Patent, Paragraf [0004], ein Verfahren zu schaffen, welches sowohl eine zuverlässige Freigabe des Fluchtweges als auch eine Minimierung der von der Nebenschließkante des sich öffnenden Schiebeflügels ausgehenden Gefahr gewährleistet. Dies ist unstreitig.

c) Lösung

Es ist dem Fachmann bekannt, dass sich die Sicherheit dadurch erhöhen lässt, wenn die Schiebetür so weit wie möglich geöffnet wird. Der Fachmann würde daher eine weitere Fahrt des Schiebeflügels in Betracht ziehen (vgl. Merkmal G).

Ein Stoppen des Schiebeflügels vor der Mindestöffnungsweite und anschließend eine weitere Fahrt wird aber nicht nahegelegt, weil der Fachmann sich an dem Norm halten würde. Wie oben erklärt kann auch D2' nicht zur beanspruchten Lösung führen. Um die obengenannte Aufgabe zu lösen, müsste der Fachmann erfinderisch tätig werden.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht daher auf einer erfinderischen Tätigkeit.

6. Vorlage an die Große Beschwerdekammer

Nach Artikel 112 EPÜ kann die Vorlage an die Große Beschwerdekammer entweder zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung erfolgen, oder geboten sein, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt. Voraussetzung für eine Vorlage ist allerdings in jedem Fall, dass der Ausgang des Verfahrens von der Antwort auf die Vorlagefrage abhängt.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) beantragte, der Großen Beschwerdekammer die Frage vorzulegen,

"ob eine Verletzung der EPÜ-Vorschriften vorliegt, wenn die beanspruchte technische Lehre und der damit verbundene Schutzbereich abhängig ist von einer beliebig vorgebbaren, nicht messbaren Hilfs- oder Zwischengröße zur internen Berechnung eines Ereignisses."

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 2) beantragte, der Grossen Beschwerdekammer die folgenden Fragen vorzulegen:

"Kann ein Merkmal eines Patentanspruchs, das in einem Teilbereich eines in dem Patentanspruch definierten Intervalls keine - insbesondere technische Wirkung erzielt ("partielles Nullmerkmal"), zur Abgrenzung gegenüber dem Stand der Technik in diesem Teilbereich des Intervalls herangezogen werden?"

"Kann ein Merkmal eines Patentanspruchs, das in einem Teilbereich eines in dem Patentanspruch definierten Intervalls keine - insbesondere technische Wirkung erzielt ("partielles Nullmerkmal"), zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit in diesem Teilbereich des Intervalls herangezogen werden?"

Die Beschwerdeführerinnen haben keine divergierende Rechtsprechung identifiziert. Auch liegt keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vor. Die vorgeschlagene Fragen sind derart weit und unbestimmt gefasst, dass ihre Beantwortung für die Entscheidung in dem vorliegenden Fall nicht vorgreiflich ist. Für die von der Beschwerdeführerin (Einsprechenden 1) formulierte Frage nach eine "Verletzung der EPÜ-Vorschriften" gilt dies deshalb, weil nicht ersichtlich ist, welche Vorschriften verletzt sein könnten. Bezüglich der Fragen der Beschwerdeführerin (Einsprechende 2) kann die Kammer, wie oben dargelegt, zu einer Entscheidung in diesem Fall auf Basis der Bestimmungen des EPÜ kommen, ohne diese Fragen zu beantworten.

Damit sind die Anträge auf Vorlage an die Grosse Beschwerdekammer zurückzuweisen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Anweisung, das Patent in der folgenden Fassung zu erteilen:

- Ansprüche 1 und 2 gemäß Hilfsantrag 2, eingereicht mit Schriftsatz vom 14. November 2019

- Beschreibung: Spalten 1 bis 6 der Patentschrift und

- Zeichnungen: Figuren 1 bis 5 der Patentschrift

3. Die Anträge auf Vorlage an die Grosse Beschwerdekammer werden zurückgewiesen.

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