T 1770/16 () of 9.5.2019

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2019:T177016.20190509
Datum der Entscheidung: 09 Mai 2019
Aktenzeichen: T 1770/16
Anmeldenummer: 10721641.8
IPC-Klasse: B66F 9/06
B60L 11/18
B60L 15/38
B60L 11/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: VERFAHREN ZUM BETREIBEN EINER FAHRERLOSEN, MOBILEN MONTAGE- UND/ODER MATERIALTRANSPORTEINHEIT UND FAHRERLOSE, MOBILE MONTAGE- UND/ODER MATERIALTRANSPORTEINHEIT HIERFÜR
Name des Anmelders: Bär, Ralf
Name des Einsprechenden: SEW-EURODRIVE GmbH & Co. KG
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56
Schlagwörter: Verspätetes Vorbringen - korrekte Ermessensausübung der Einspruchsabteilung (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts, die am 16. Juni 2016 zur Post gegeben wurde und mit der der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2419364 aufgrund des Artikels 101 (2) EPÜ zurückgewiesen worden ist.

II. Die Einspruchsabteilung hat u.a. entschieden, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 (bzw. 7) im Hinblick auf die Dokumente

US 6,265,851 B1 (D5) und

US 2009/0009131 A1 (D4)

nicht nahegelegt ist.

III. Am 9. Mai 2019 wurde mündlich verhandelt.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.

IV. Der Anspruchs 1 wie erteilt lautet wie folgt:

Verfahren zum Betreiben einer fahrerlosen, mobilen Montage- und/oder Materialtransporteinheit als fahrerloses Transportsystem (FTS) für eine Montage und/oder Lageranlage mit

- einer Fahreinrichtung für die Fahrbewegung der Transporteinheit,

- einer Antriebseinrichtung (38) für die Fahreinrichtung,

- einer ersten Energiespeichereinrichtung (34), die als Batterieeinrichtung ausgebildet ist und

- einer Steuereinrichtung zur Steuerung der Fahrbewegung in Abstimmung mit einer Systemsteuereinrichtung,

dadurch gekennzeichnet, dass

- in der Montage- und/oder Materialtransporteinheit zusätzlich eine zweite Energiespeichereinrichtung (32) verwendet wird, die als schnellaufladbare Einrichtung, insbesondere Doppelschichtkondensatoreinrichtung, ausgebildet ist,

- die zweite Energiespeichereinrichtung (32) bei Stillstand der Transporteinheit an einer Montage- oder Ladestation aufgeladen wird,

- die zweite Energiespeichereinrichtung (32) die Antriebsenergie für die Antriebseinrichtung (38) zur Verfügung stellt,

- die zweite Energiespeichereinrichtung (32) gleichzeitig die erste Energiespeichereinrichtung (34) aufgeladen hält oder neu auflädt,

- bei Entleerung der zweiten Energiespeichereinrichtung (32) oder bei Unterschreitung eines vorgegebenen Spannungswertes auf die erste Energiespeichereinrichtung (34) umgeschaltet wird, die dann die Antriebsenergie für die Antriebseinrichtung zur Verfügung stellt bis die zweite Energiespeichereinrichtung (32) an einer Montage-/Ladestation wieder aufgeladen wird und

- die erste Energiespeichereinrichtung (34) die Energie zum Betreiben einer Steuereinrichtung und/oder einer Sicherungseinrichtung mit Scanner, Sensoren oder dergleichen zur Verfügung stellt.

V. Die Argumente der Beschwerde­führerin - soweit sie für die Entscheidung wesentlich waren - lauteten wie folgt:

Der Antrag des Patentinhabers im Verfahren vor der Einspruchsabteilung, den Einspruch zurückzuweisen, hätte von der Einspruchsabteilung nicht mehr in das Verfahren zugelassen werden dürfen.

Die Einspruchsabteilung habe zunächst in der mündlichen Verhandlung zwei verschiedene Anträge auf Aufrecht­erhaltung in beschränkten Umfang diskutiert, die von der Einspruchsabteilung als nicht gewährbar erachtet wurden. Erst dann habe der Patentinhaber den Antrag gestellt, das Patent wie erteilt aufrechtzuerhalten und den Einspruch zurückzuweisen.

Dieser Antrag hätte zu Beginn der mündlichen Verhandlung gestellt werden müssen. Daher stellt der Antrag auf Zurückweisung des Einspruchs zu diesem Zeitpunkt einen Verfahrensmissbrauch bzw. einen Verstoß gegen die Verfahrensökonomie dar.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei durch das Dokument D5 in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen nahegelegt.

So offenbare D5 alle Merkmale des erteilten Anspruchs 1 bis auf das Merkmal, dass die zweite Energiespeicher­einrichtung (32) gleichzeitig die erste Energie­speichereinrichtung (34) aufgeladen hält oder neu auflädt (Merkmal 1.9 gemäß der Merkmalsgliederung in der Entscheidung der Einspruchsabteilung).

Die Beschreibung der D5 weise darauf hin, dass beide Energiespeichereinrichtungen, d.h. der Kondensator (Ultracapacitor 30) und die Batterie (28), aufgeladen werden, wenn das Fahrzeug an der Ladestation stehe, idealerweise stehe das Fahrzeug so lange, bis beide Speicher aufgeladen seien (Spalte 5, Zeilen 32 bis 36).

Die Aufgabe des Fachmanns, die sich aus der D5 ergebe, bestehe daher darin, die Standzeiten durch Ladung zu verkürzen und daher zu ermöglichen, dass sobald der Kondensator aufgeladen sei, die Ladestation verlassen werden könne. Da der Antrieb des Fahrzeugs vorzugsweise aus dem Kondensator versorgt werden solle und die Batterie nur für Notfälle gedacht sei, liege es nahe, die Batterie auch über den Kondensator aufzuladen.

Weiterhin zeige D5 (vgl. Figur 2) eine Schaltungs­anordnung mit Schaltern (switching system 22). Daher sei es zumindest dem Fachmann nahegelegt, dass dieses Schalterwerk aus drei Schaltern bestehe, die den Kondensator, die Batterie und den Antrieb auf einen gemeinsamen Knotenpunkt schalten, an den auch das Ladesystem (recharging system 32) angeschlossen sei, vgl. Abbildung 1 in der Beschwerdebegründung.

Auf diese Art und Weise ließen sich alle Möglichkeiten der Zusammenschaltung der vier auf den Knotenpunkt zulaufenden Leitungen ermöglichen. Dies aber entspreche dem allgemeinen Fachwissen und bedürfe keines erfinderischen Aufwandes.

Auch D4 sei in der Lage, die Lehre von D5 in naheliegender Weise zu ergänzen.

D4 offenbare den Betrieb eines Elektrofahrzeugs, bei dem ein Kondensator schnell aufgeladen werde, der seine Energie an eine Batterie weitergebe, die dann ihrerseits den Antrieb speise. Hier sehe der Fachmann bereits, dass das Aufladen eines Kondensators gegenüber einer Batterie bei der Standzeit für die Aufladung erhebliche Vorteile bringe. Somit finde der Fachmann in der D4 die Lösung des durch D5 gestellten Problems, nämlich die Aufladezeiten zu verringern.

VI. Der Beschwerdegegner begegnete diesen Argumenten wie folgt:

Das Vorlegen eines Antrags auf Aufrechterhaltung eines Patents in eingeschränkter Form bedeute nicht automatisch, dass auf die erteilte Fassung unwiderruflich verzichtet werde. So stehe es dem Patentinhaber grundsätzlich frei, einen solchen Antrag auf Aufrechterhaltung eines Patents in eingeschränkter Fassung jederzeit zurückzunehmen oder zu ändern, insbesondere auch das Patent in der erteilten Fassung zu verteidigen. Auch habe er die Gründe, die dem Einspruch gegen das erteilte Patent widersprechen, bereits schriftlich in der Einspruchserwiderung kundgetan.

Weiterhin beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit. Ausgehend von D5 habe der Fachmann überhaupt keine Veranlassung die Batterie über den Kondensator aufzuladen. Vor allen könne das nicht so einfach mit Schaltern geschehen, wie es die Beschwerdeführerin behaupte. So müssten Ströme begrenzt und Spannungen angepasst werden. Dazu seien komplexe elektronische Schaltungen nötig, wie beispielsweise die in der Erfindung oder der D5 beschriebenen DC/DC- Konverter.

Es sei auch nicht sinnvoll, in D5 mit dem Kondensator die Batterie zu laden. Da der Motor durch beide Energiequellen angetrieben werden könne und der Kondensator die Haupt-Energiequelle sei, sei es nicht sinnvoll, die Batterie zu laden. D4 offenbare eine grundsätzlich andere Architektur eines Elektrofahrzeugs als D5. Daher könne man die beiden Systeme überhaupt nicht miteinander vergleichen. In D4 würde nämlich das Fahrzeug in der Hauptsache durch eine Batterie angetrieben werden; der Kondensator hingegen solle lediglich die Energie beim Ladevorgang zwischenspeichern.

Entscheidungsgründe

1. Die Zulassung des Antrags des Patentinhabers auf Zurückweisung des Einspruchs im Verfahren vor der Einspruchsabteilung ist nicht fehlerhaft und ist nicht zu beanstanden.

1.1 Gemäß der etablierten Rechtsprechung der Beschwerde­kammern ist es, für den Fall, dass mit der Beschwerde die Art und Weise angefochten wird, in der ein erstinstanzliches Organ sein Ermessen in einer Verfahrensfrage ausgeübt hat, nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die gesamte Sachlage des Falls nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte. Die Beschwerdekammer sollte sich nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt hat, vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 8. Auflage, IV.E.3.6.

1.2 Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass das Verhalten des Patentinhabers/Beschwerdegegners im Verfahren vor der Einspruchsabteilung einen Verfahrensmissbrauch darstellt, da er den Antrag auf Zurückweisung des Einspruchs am Anfang der mündlichen Verhandlung hätte stellen müssen.

Das Vorgehen des Patentinhabers/Beschwerde­gegners in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung - nämlich zunächst zwei Hilfsanträge diskutieren zu lassen, um dann, nach einer negativen Meinung der Einspruchsabteilung dazu, den Antrag zu stellen, das erteilte Patent zu diskutieren - stellt keinen Verfahrensmissbrauch dar: der Patentinhaber/Be­schwerde­gegner versuchte weder die Einspruchs­abteilung noch die Einsprechende in vorsätzlicher Weise über die Absichten im Unklaren zu lassen oder zu täuschen.

1.3 Allerdings stellt die späte Vorlage des strittigen Antrags fraglos kein gutes Vorgehen unter verfahrens­ökonomischen Gesichtspunkten dar. Ob dies im vorliegenden Fall noch vertretbar war oder nicht, hatte die Einspruchsabteilung unter den seinerzeit obwaltenden Umständen im Rahmen ihres Ermessens zu entscheiden.

Die Kammer kann nicht erkennen, dass dieses Ermessen in fehlerhafter Art und Weise ausgeübt wurde.

Insbesondere ist hier festzustellen, dass die Einspruchs­abteilung im Verfahren noch kein negatives Votum zum erteilten Gegenstand abgegeben hat, so dass nicht per se davon auszugehen war, dass der Antrag auf Zurückweisung des Einspruchs erfolglos sein würde.

Auch war die Einsprechende offensichtlich darauf vorbereitet, den strittigen Antrag zu diskutieren.

2. Das Verfahren des Anspruchs 1 wie erteilt beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit, Artikel 56 EPÜ.

Die Beschwerdeführerin beanstandet einen Mangel an erfinderischer Tätigkeit, ausgehend von D5 in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen oder der Lehre von D4.

Die Kammer folgt hierbei der Entscheidung der Einspruchsabteilung aus den dort genannten Gründen in vollem Umfang.

Dabei ergänzt die Kammer die Ausführungen der Einspruchsabteilung wie folgt:

2.1 Das Dokument D5 offenbart alle Merkmale des strittigen Anspruchs 1 bis auf das Merkmal, dass die zweite Energiespeichereinrichtung (32) gleichzeitig die erste Energiespeichereinrichtung (34) aufgeladen hält oder neu auflädt (Merkmal 1.9 gemäß der Merkmalsgliederung in der Entscheidung der Einspruchsabteilung).

Die Kammer hält dieses Merkmal schon deshalb nicht für nahegelegt, weil es - je nach Umstand - nicht nur eines einfachen Schalternetzwerkes bedarf, um eine Ladung der einen Energiespeichereinrichtung durch die andere zu ermöglichen, wie es die Beschwerdeführerin darlegt, siehe z.B. Beschwerdebegründung, Seite 6, Abbildung 1.

Dem Fachmann ist bekannt, dass bei einer Zusammen­schaltung von Batterie (erste Energiespeicher­einheit) und Kondensator (zweite Energiespeicher­einheit) Spannungen anzupassen oder Ströme zu begrenzen sind. Bei einer Aufladung der Batterie über einen Kondensator ist vor allem deshalb eine Anpassung nötig, da Doppelschicht­kondensatoren (sogenannte Super-Caps), wie sie erfindungsgemäß als zweite Energiespeichereinheit eingesetzt werden, eine kondensatortypische Entlade­kurve aufweisen; dies bedeutet, dass sich die Spannung der Energie­speichereinheit in Abhängigkeit vom Grad der Entladung verändert. Die Erfindung sieht hierzu einen DC/DC Wandler (36) vor, siehe Paragraphen [0020] und [0021] und Figur 2 des Streitpatents.

Es ist nicht erkennbar, warum sich der Fachmann ausgehend von D5 dieser Überlegung nähern sollte. Der DC/DC Konverter ist hier direkt dem Antriebsmotor vorgeschaltet (vgl. Figur 2) um an dieser Stelle einen Ausgleich der in den Energiespeichermedien vorliegenden unterschiedlichen Spannungen zu ermöglichen. Dies ist ein klarer Hinweis, dass es in D5 nicht vorgesehen ist, die Energiespeichermedien miteinander zu verbinden; die Schaltungsarchitektur des D5 zugrundeliegenden Gegenstands ist somit nicht vergleichbar mit der aus dem Streitpatent.

2.2 Die Beschwerdeführerin führt aus, dass es die objektive Aufgabe ausgehend von D5 sei, die Ladezeit zu verkürzen, und dass eine Verkürzung der Ladezeit dadurch geschehen solle, dass die Ladung beendet wird, wenn der Kondensator voll aufgeladen ist.

Diese Aufgabe indes ist aus Sicht des Dokuments D5 bereits als gelöst zu betrachten. D5 offenbart in Spalte 2, Zeilen 25 ff., dass der Antrieb in erster Linie aus dem Kondensator versorgt werden soll, um einerseits kurze Ladezeiten zu ermöglichen und andererseits um die Batterie aus ökonomischen Gründen weniger zu belasten. Die Batterie wird hierbei nur noch als ein Puffer zum Ausgleich einer Spitzenbelastung verwendet (,,...optimum performance is achieved when the capacitor is allowed to fully recharge. The battery then needs only provide power when the ultracapacitor has been discharged or during acceleration or other periods of peak power consumption, thereby reducing the number of battery recharges required during any given operational period").

2.3 Das Dokument D4 verfolgt eine gänzlich andere Strategie in der Energieversorgung des Fahrzeugs. Hier wird das Fahrzeug über die Batterie angetrieben und die Kondensatoren dienen in erster Linie dazu, zusätzliche Energie bereitzustellen, beispielsweise in Beschleunigungsphasen, siehe D4, Seite 2, Paragraph [0030]. Dies stellt einen Stand der Technik dar, der weder mit D5 noch mit der erfinderischen Idee des Streitpatents etwas zu tun hat, siehe auch D5, Spalte 1, Zeilen 49 ff.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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