T 1756/16 () of 14.4.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T175616.20210414
Datum der Entscheidung: 14 April 2021
Aktenzeichen: T 1756/16
Anmeldenummer: 09001890.4
IPC-Klasse: A61M 1/16
G01J 3/42
G01N 21/33
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Vorrichtung zur extrakorporalen Blutbehandlung
Name des Anmelders: B. Braun Avitum AG
Name des Einsprechenden: Fresenius Medical Care Deutschland GmbH
Kammer: 3.2.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 83
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(2)
European Patent Convention R 100(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 15(1)
Schlagwörter: Zulassung des Hauptantrags (ja)
Zulassung von Einwänden (teilweise)
Ausführbarkeit (ja)
Orientierungssatz:

Neuer Einwand nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung. Entscheidungsgründe,Punkte 3.5-3.10, insbesondere Punkt 3.9.

Angeführte Entscheidungen:
G 0003/14
T 1404/05
T 1064/15
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Einsprechende legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, den Einspruch zurückzuweisen. In der angefochtenen Entscheidung wurde entschieden, dass die vorgebrachten Einspruchsgründe gemäß Artikel 100 (a) und (b) EPÜ betreffend die Anforderungen der Artikel 56 und 83 EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung nicht entgegenstünden.

II. Am 19. Oktober 2020 erging die Ladung zur mündlichen Verhandlung, und am 23. Oktober 2020 erließ die Kammer eine Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 mit einer vorläufigen Einschätzung der Punkte, die sie für die Diskussion bei der mündlichen Verhandlung von besonderer Bedeutung erachtete.

III. Am 14. April 2021 fand die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des Hauptantrags, eingereicht als neuer Hilfsantrag 1 während der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer.

IV. Anspruch 1 des Hauptantrags (eingereicht als neuer Hilfsantrag 1 während der mündlichen Verhandlung) lautet wie folgt:

"1. Vorrichtung zur extrakorporalen Blutbehandlung mit einem Dialysator (10), der durch eine semipermeable Membran (11) in eine erste und zweite Kammer geteilt ist, wobei die erste Kammer (12) in einem Dialysierflüssigkeitsweg angeordnet ist und die zweite Kammer (13) mittels einer Blutzuführleitung (14) und einer Blutabführleitung (15) mit dem Blutkreislauf eines Patienten (1) verbindbar ist,

- einem Zulauf (20) für frische Dialysierflüssigkeit,

- einem Ablauf (30) für verbrauchte Dialysierflüssigkeit,

- einer in dem Ablauf (30) angeordneten Messeinrichtung (40) zur Bestimmung der Absorption der durch den Ablauf (30) fließenden verbrauchten Dialysierflüssigkeit, wobei die Messeinrichtung (40) wenigstens eine Strahlungsquelle (41) für im Wesentlichen monochromatische elektromagnetische Strahlung sowie ein Detektorsystem (42) zur Detektion der Intensität der elektromagnetischen Strahlung aufweist,

dadurch gekennzeichnet, dass Mittel (50) vorgesehen sind, um auftretende Änderungen der Intensität der elektromagnetischen Strahlung der Strahlungsquelle (41) und/oder der Empfindlichkeit des Detektorsystems (42) zu kompensieren, wobei als Mittel (50) eine Temperaturregelung (51) vorgesehen ist, durch welche die Temperatur der Strahlungsquelle (41) auf vordefinierte Arbeitstemperaturen T1 und/oder die Temperatur des Detektorsystems (42) auf vordefinierte

Arbeitstemperaturen T2 regelbar ist, wobei für das Mittel (50) zusätzlich eine elektronische Regelung (52) vorgesehen ist, mit deren Hilfe die Intensität I der elektromagnetischen Strahlung der Strahlungsquelle (41) derart regelbar ist, dass am Detektorsystem (42) vordefinierte Intensitäten I44, nach Absorption durch unverbrauchte Dialysierflüssigkeit, und/oder I45, ohne Absorption durch unverbrauchte Dialysierflüssigkeit, detektierbar sind."

V. Die von der Beschwerdeführerin (Einsprechenden) vorgebrachten Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Zulassung des Hauptantrags (neuen Hilfsantrags 1)

Der mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung eingereichte (alte) Hilfsantrag 1 sei nicht zuzulassen, da er nicht bereits im erstinstanzlichen Verfahren eingereicht worden sei. Ferner sei der während der mündlichen Verhandlung eingereichte neue Hilfsantrag 1 im Hinblick auf Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht ins Verfahren zuzulassen. Zur Behebung des von der Kammer aufgeworfenen Klarheitseinwands habe die Kammer eine Frist von zwei Monaten vor dem Datum der mündlichen Verhandlung angesetzt. Die Einreichung des neuen Hilfsantrags 1 erst während der mündlichen Verhandlung sei somit nicht fristgerecht erfolgt. Die Beschwerdegegnerin habe auch keine stichhaltigen Gründe aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorgelegen hätten, die eine fristgerechte Einreichung verhindert haben könnten.

Zulassung von Einwänden

Gegen den neuen Hilfsantrag 1 seien folgende Einwände zu berücksichtigen: mangelnde Ausführbarkeit gemäß Artikel 83 EPÜ und mangelnde erfinderischer Tätigkeit auf der Grundlage von AP2/AP1 als nächster Stand der Technik in Kombination mit D3. In der Beschwerdebegründung seien Einwände mangelnder Ausführbarkeit gegen die Vorrichtungsmerkmale des erteilten Anspruchs 1 vorgebracht worden. Es sei selbstverständlich, dass diese auch für den eingeschränkteren Gegenstand des erteilten abhängigen Anspruchs 2 gelten, der die Grundlage des neuen Hilfsantrags 1 darstelle. Der Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit sei innerhalb der in der Mitteilung der Kammer vom 23. Oktober 2020 gesetzten Frist von zwei Monaten vor der mündlichen Verhandlung vorgebracht worden und sei deshalb im Hinblick auf Artikel 13 (2) VOBK 2020 zu berücksichtigen. Zudem sei bereits in der Beschwerdebegründung die mangelnde erfinderische Tätigkeit in Bezug auf die Unteransprüche angesprochen worden. Der nun vorgetragene Einwand sei somit Teil des Beschwerdeverfahrens.

Artikel 83 EPÜ

Anspruch 1 des neuen Hilfsantrags 1 enthalte verschiedene und/oder-Kombinationen, wodurch Gegenstände beansprucht werden, für die der Fachmann keine Lehre zur Ausführbarkeit finden könne und die auch physikalisch nicht erklärbar seien. In der Patentschrift sei z.B. keine Lehre vorhanden, wie durch Temperaturregelung des Detektorsystems die Intensität der Strahlungsquelle beeinflusst werden könne; oder wie durch Regelung der Arbeitstemperatur der Strahlungsquelle die Empfindlichkeit des Detektorsystems kompensiert werden könne. Der Anspruch sei folglich über seine ganze Breite nicht ausführbar, was den Anforderungen von Artikel 83 EPÜ zuwiderlaufe. Es werde auf T 1064/15 und T 1404/05 verwiesen, wo, wie im vorliegenden Fall, der Anspruch vage formuliert gewesen sei und mehrere Auslegungsmöglichkeiten offengelassen gewesen seien, die das Gebot der Ausführbarkeit nicht erfüllten.

Ferner sei die beanspruchte Temperaturregelung der Strahlungsquelle und/oder des Detektorsystems nicht ausführbar, insbesondere nicht mit dem beanspruchten Zweck, Änderungen der Intensität der Strahlung und/oder der Empfindlichkeit des Detektors jeweils zu kompensieren. Die Temperatur sei anspruchsgemäß die einzige Regelgröße, mit der die Intensität der Strahlung oder die Empfindlichkeit jeweils kompensiert werde. Die Regelung der Temperatur alleine sei aber - wie im Patent selber dargelegt werde - nicht ausreichend, um die Strahlungsintensität und/oder die Detektorempfindlichkeit zu kompensieren, denn diese seien jeweils (unterschiedlich stark) auch von anderen Parametern bestimmt, wie z.B. dem Betriebsstrom oder der Alterung der Leuchtdiode (Absätze [0037] und [0046]).

VI. Die von der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) vorgebrachten Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Zulassung des Hauptantrags (neuen Hilfsantrags 1)

Der (alte) Hilfsantrag 1 sei mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung eingereicht worden und stelle daher das Vorbringen der Patentinhaberin im Beschwerdeverfahren dar. Darüber hinaus sei dieser Hilfsantrag 1 als Reaktion auf neue vorgebrachte Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit mit neuen Beweismitteln AP1 bis AP4 erfolgt. Der neue Hilfsantrag 1 sei als Reaktion auf den Klarheitseinwand der Beschwerdekammer in ihrer Mitteilung eingereicht worden. Im neuen Hilfsantrag 1 seien lediglich die Indizes der Intensitäten I44 und I45 tiefgestellt und damit ein Formfehler im (alten) Hilfsantrag 1 behoben worden. Da der Anspruch inhaltlich unverändert geblieben sei, sei es unverhältnismäßig, den Antrag nur deshalb nicht zuzulassen, weil die Einreichung während der mündlichen Verhandlung vorgenommen worden sei.

Zulassung von Einwänden

In der Beschwerdebegründung seien keine Einwände gegen den Gegenstand des erteilten abhängigen Anspruchs 2 erhoben worden, der die Grundlage des neuen Hilfsantrags 1 darstelle. Der Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit basierend auf AP2/AP1 in Kombination mit D3 sei erst nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht worden und sei folglich im Hinblick auf die strengen Bestimmungen von Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht ins Verfahren zuzulassen. Es gäbe keine stichhaltigen Gründe für das Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen vor, die die Berücksichtigung dieses verspätet vorgebrachten Einwands rechtfertigen könnten. Der Einwand sei immerhin vier Jahre nach Einreichung des Hilfsantrags 1 mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung vorgebracht worden.

Artikel 83 EPÜ

Anspruch 1 des neuen Hilfsantrags 1 sei klar formuliert, sodass der Fachmann keine Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Begriffe haben könne. Durch den Anspruchswortlaut zufällig umfasste Ausführungen, die technisch keinerlei Sinn ergeben, würde der Fachmann außer Acht lassen. Es sei z.B. klar, dass die Intensität der Strahlungsquelle nicht durch eine Temperaturregelung des Detektorsystems beeinflusst werden könne. Ansonsten definiere der Anspruch Alternativen, die ausreichend beschrieben und ausführbar seien. Der Begriff "Temperaturregelung" impliziere die Verwendung einer Temperaturerfassungseinrichtung, einer Temperaturvergleichseinrichtung und einer Temperaturbeeinflussungseinrichtung. In den Absätzen [0020] bis [0023] des Patents werden zudem Beispiele verschiedener Temperaturregelungen für eine Leuchtdiode und/oder einen Detektor gegeben. Das Streitpatent stelle nicht in Abrede, dass eine Mehrzahl von Faktoren Einfluss auf die Genauigkeit des Messergebnisses haben könne, gebe aber auch zu verstehen, dass die Kompensation von Temperaturschwankungen an der Lichtquelle als einer der Faktoren bereits einen positiven Einfluss auf die Messergebnis-Genauigkeit haben könne. Darüber hinaus werde mit einer weiteren elektronischen Regelung (52) die Intensität der Strahlung geregelt, womit Veränderungen durch Alterung und Temperaturschwankungen sehr präzise kompensiert werden können (Absätze [0035] und [0037]).

Entscheidungsgründe

1. Die Erfindung betrifft eine Vorrichtung zur extrakorporalen Blutbehandlung mit im Wesentlichen:

- einem Dialysator, einem Zulauf und einem Ablauf für verbrauchte Dialysierflüssigkeit,

- einer Messeinrichtung zur Bestimmung der Absorption der durch den Ablauf fließenden verbrauchten Dialysierflüssigkeit, wobei die Messeinrichtung eine Strahlungsquelle für im Wesentlichen monochromatische elektromagnetische Strahlung (z.B. eine LED; siehe Anspruch 4 des erteilten Patents) sowie ein Detektorsystem zur Detektion der Intensität der Strahlung aufweist und

- Mitteln, um auftretende Änderungen der Intensität der Strahlung und/oder der Empfindlichkeit des Detektorsystem zu kompensieren, wobei als Mittel eine Temperaturregelung vorgesehen ist, durch welche die Temperatur der Strahlungsquelle und/oder des Detektorsystems auf vordefinierte Arbeitstemperaturen regelbar ist. Ferner ist als Mittel eine elektronische Regelung vorgesehen, mit der die Strahlungsintensität der Strahlungsquelle derart regelbar ist, dass am Detektorsystem vordefinierte Intensitäten mit und/oder ohne Absorption durch unverbrauchte Dialysierflüssigkeit detektierbar sind.

Aus der gemessenen Strahlungsabsorption in der verbrauchten Dialysierflüssigkeit während der Behandlung wird beispielsweise der Kt/V-Wert bestimmt, der ein Maß für die Effizienz der Dialysebehandlung liefert (Absätze [0003] und [0005]). Dazu wird insbesondere die Temperatur geregelt, um die Signalintensität der Strahlungsquelle und/oder die Empfindlichkeit des Detektorsystems zu stabilisieren (Absatz [0011]).

2. Zulassung des Hauptantrags ins Verfahren

2.1 Der vorliegende Hauptantrag wurde während der mündlichen Verhandlung als "neuer Hilfsantrag 1" an Stelle des mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung gestellten Hilfsantrags 1 eingereicht. Der einzige Unterschied zwischen diesen beiden Anträgen besteht darin, dass die Intensitäten "I44" und "I45" im Anspruch 1 des (alten) Hilfsantrags 1 nunmehr - im Einklang mit dem erteilten Anspruch 2 - als "I44" und "I45" im Anspruch 1 des neuen Hilfsantrags 1 definiert werden.

2.2 Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin sah die Kammer keinen Grund, den neuen Hilfsantrag 1 nicht ins Verfahren zuzulassen.

Der mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung eingereichte (alte) Hilfsantrag 1 war im Einklang mit Artikel 12 (3) VOBK 2020 Teil des Beschwerdevorbringens der Beschwerdegegnerin. Der Hilfsantrag war insbesondere als Rückfallposition hinsichtlich neuer, mit der Beschwerdebegründung vorgetragener und auf neue Beweismittel AP1 bis AP4 gestützter Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit eingereicht worden. Somit hatte die Kammer den (alten) Hilfsantrag 1 ins Verfahren zugelassen.

2.3 In der unmittelbar mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung erlassenen Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 bemerkte die Kammer ex officio, dass die nicht definierten Intensitätsmerkmale "I44" und "I45" im Anspruch 1 des (alten) Hilfsantrags 1 nicht klar seien. Daraufhin reichte die Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung den neuen Hilfsantrag 1 ein, in dem diese Intensitätsmerkmale nunmehr - entsprechend dem erteilten Anspruch 2 - als "I44" und "I45" gekennzeichnet wurden. Da gegen einen erteilten Anspruch gemäß der Entscheidung G 3/14 kein Klarheitseinwand zu erheben ist, hatte die Kammer bereits in ihrer Mitteilung darauf hingewiesen, dass eine entsprechende Klarstellung des Anspruchswortlauts des (alten) Hilfsantrags 1 als zulässig anzusehen sei.

2.4 Der neue Hilfsantrag 1 ist als Reaktion auf den Klarheitseinwand der Beschwerdekammer in ihrer unmittelbar mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung abgesandten Mitteilung eingereicht worden. Der von der Kammer ex officio erhobene Einwand stellt also außergewöhnliche Umstände dar, der die Einreichung des neuen Hilfsantrags 1 nach Absendung der Ladung zur mündlichen Verhandlung stichhaltig rechtfertigen. Damit sind die Bedingungen des Artikels 13 (2) VOBK 2020 für die Zulassung des neuen Hilfsantrags 1 ins Verfahren erfüllt.

2.5 Die Beschwerdeführerin war der Auffassung, dass die Nichteinhaltung der in der Kammermitteilung gesetzten Frist vor der mündlichen Verhandlung zum Einreichen neuen Vorbringens zur Unzulässigkeit des neuen Hilfsantrags 1 gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 führe.

Die Kammer teilt diese Auffassung nicht. Im neuen Hilfsantrag 1 werden lediglich die Indizes der Intensitätsmerkmale "I44" und "I45" tiefgestellt, so wie im erteilten Anspruch 2. Dass diese formelle Änderung erst während der mündlichen Verhandlung eingereicht wurde, statt innerhalb des von der Kammer festgesetzten Zeitraums von zwei Monaten vor der mündlichen Verhandlung, sieht die Kammer im vorliegenden Fall als unerheblich an. Die Aufforderung, etwaiges neues Vorbringen innerhalb dieses Zeitraums einzureichen, dient vorwiegend dazu, der anderen Partei und der Kammer ausreichend Zeit einzuräumen, sich auf das neue Vorbringen vorzubereiten oder einzustellen. Die Festsetzung dieses Zeitraums ist nicht vergleichbar mit der einer rechtlich festgelegten Frist wie z.B. in einer Mitteilung gemäß Regel 100 (2) EPÜ, innerhalb derer eine bestimmte Handlung einer Partei gefordert wird und bei deren Überschreitung rechtliche Folgen eintreten. Da im vorliegenden Fall der neue Hilfsantrag 1 gegenüber dem vorherigen Hilfsantrag 1 inhaltlich unverändert geblieben ist, ist eine Auseinandersetzung damit innerhalb der während der mündlichen Verhandlung zur Verfügung stehenden Zeit ohne weiteres möglich. Somit kann auch dieser Vortrag der Beschwerdeführerin das Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK 2020 nicht in Frage stellen.

2.6 Die Kammer lässt folglich den neuen Hilfsantrag 1, der den vorliegenden Hauptantrag bildet, ins Verfahren zu.

3. Zulassung von Einwänden

3.1 Wie oben bereits erläutert, ist der Gegenstand des Hauptantrags (bzw. neuen Hilfsantrags 1) identisch mit dem (alten) Hilfsantrag 1, der mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung eingereicht wurde. Der (alte) Hilfsantrag 1 ist (bis auf die formelle Schreibweise der Intensitätsmerkmale "I44" und "I45") eine Kombination des erteilen unabhängigen Anspruchs 1 mit dem erteilten abhängigen Anspruch 2.

3.2 Die Beschwerdeführerin stellte in der mündlichen Verhandlung auf Anfrage klar, dass gegen den neuen Hilfsantrag 1 folgende Einwände erhoben werden: mangelnde Ausführbarkeit gemäß Artikel 83 EPÜ, wie sie gegen Anspruch 1 des erteilten Patents vorgetragen wurde, und mangelnde erfinderischer Tätigkeit auf der Grundlage von AP2/AP1 als nächstem Stand der Technik in Kombination mit D3.

3.3 Die in der Beschwerdebegründung gegen die Vorrichtungsmerkmale des erteilten Anspruchs 1 vorgetragenen Einwände mangelnder Ausführbarkeit gelten selbstverständlich auch für die bevorzugte Vorrichtungsausführung des erteilten abhängigen Anspruchs 2, der die Grundlage des neuen Hilfsantrags 1 darstellt. Dazu bedarf es keines expliziten Hinweises in der Beschwerdebegründung.

3.4 Somit sind die Einwände unter Artikel 83 EPÜ gegen den neuen Hilfsantrag 1 (derzeitigen Hauptantrag) im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen.

3.5 Der Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit basierend auf AP2/AP1 in Kombination mit D3 gegen den (alten) Hilfsantrag 1 ist jedoch erstmalig im Schreiben vom 12. Februar 2021 nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 19. Oktober 2020 erhoben worden.

3.6 Die revidierte Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, VOBK 2020, trat am 1. Januar 2020 in Kraft (Artikel 24 VOBK 2020). Artikel 13 (2) VOBK 2020 regelt, dass Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Ablauf einer von der Kammer in einer Mitteilung nach Regel 100 (2) EPÜ bestimmten Frist oder, wenn eine solche Mitteilung nicht ergeht, nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt bleiben, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.

3.7 Die Beschwerdegegnerin beantragte, den Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit basierend auf AP2/AP1 in Kombination mit D3 im Hinblick auf die strengen Bestimmungen von Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht ins Verfahren zuzulassen.

Die Beschwerdeführerin war hingegen der Auffassung, dass der Einwand innerhalb der in der Mitteilung der Kammer vom 23. Oktober 2020 gesetzten Frist von zwei Monaten vor der mündlichen Verhandlung erhoben worden sei und folglich zu berücksichtigen sei. Darüber hinaus argumentierte sie, dass die mangelnde erfinderische Tätigkeit in Bezug auf die Unteransprüche bereits in der Beschwerdebegründung angesprochen worden sei, und der nun vorgetragene Einwand somit Teil des Beschwerdeverfahrens wäre.

3.8 Zu letzterem weist die Kammer darauf hin, dass die Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung (Seite 29) in Bezug auf die Unteransprüche nur kursorisch auf "die Argumentation im Einspruchsverfahren" verwiesen hat, gefolgt von Anmerkungen zu den Ansprüchen 4-6. Solch ein allgemeiner Verweis genügt aber den Erfordernissen des Artikels 12 (3) VOBK 2020 nicht. Zum anderen waren die Dokumente AP2/AP1, auf dem der Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit beruht, gar nicht Teil des Einspruchsverfahrens.

3.9 Die Mitteilung der Kammer vom 23. Oktober 2020 wurde gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 erlassen. Sie stellt jedoch keine Mitteilung nach Regel 100 (2) EPÜ dar, wie sie in Artikel 13 (2) VOBK 2020 erwähnt wird.

In der Mitteilung der Kammer wurde gemäß Artikel 15 (1) und 17 (2) VOBK 2020 auf Punkte hingewiesen, die für die zu treffende Entscheidung voraussichtlich von besonderer Bedeutung sein würden, und es wurde eine vorläufige Einschätzung des Vorbringens der Parteien durch die Kammer mitgeteilt. Insbesondere wurde darin festgehalten, dass sich die Beschwerdeführerin bis zu dem Zeitpunkt (am 23. Oktober 2020) zu den mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung vom 6. Februar 2017 eingereichten Hilfsanträgen explizit nicht geäußert hatte (Punkt 4). Auch wenn eine Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 häufig, wie auch im vorliegenden Fall, eine Frist zur Einreichung von etwaigem Vorbringen der Parteien unter Vorbehalt der Zulassungsbestimmungen von Artikel 114 (2) EPÜ und Artikel 13 VOBK 2020 enthält, stellt sie keine Mitteilung nach Regel 100 (2) EPÜ dar, mit der die Parteien zu einer Stellungnahme innerhalb einer bestimmten Frist explizit aufgefordert werden.

Die Beschwerdeführerin konnte somit nicht davon ausgehen, dass sie durch die Mitteilung der Kammer aufgefordert worden wäre, innerhalb einer bestimmten Frist erstmalig Einwände gegen den Hilfsantrag 1 einzureichen. Erst recht konnte sie nicht davon ausgehen, dass neue Einwände ins Verfahren zugelassen werden würden, nur weil sie innerhalb dieser Frist eingereicht wurden.

Die Beschwerdeführerin brachte auch keine stichhaltigen Gründe für das Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen vor, die die Berücksichtigung des nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vorgebrachten Einwands mangelnder erfinderischer Tätigkeit basierend auf AP2/AP1 in Kombination mit D3 hätte rechtfertigen können.

Auch sieht die Kammer die Einreichung des neuen Hilfsantrags 1, der auf einer Kombination von erteilten Ansprüchen beruht und der inhaltlich dem mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten (alten) Hilfsantrag 1 entspricht, nicht als außergewöhnliche Umstände gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 an. Die Beschwerdeführerin hatte die Möglichkeit, auf das Einreichen des (alten) Hilfsantrags 1 zu reagieren. Im vorliegenden Fall lagen zwischen dem Einreichen der Beschwerdeerwiderung und der Ladung zur mündlichen Verhandlung mehr als 3,5 Jahre. Diesbezüglich erlegt die neue Verfahrensordnung den Kammern auf, eine Ladung in inter-partes Verfahren frühestens zwei Monate nach Erhalt der Beschwerdeerwiderung zu versenden (Artikel 15 (1) VOBK 2020). Ziel dieses zeitlichen Ablaufs ist es, den Beteiligten die Möglichkeit zu geben, auf schriftliche Erwiderung mit Vorbringen zu reagieren, das unter die die weniger strenge zweite Stufe des Konvergenzansatzes, d.h. unter Artikel 13 (1) und nicht 13 (2) VOBK 2020, fällt (Erläuterungen zu Artikel 13 (2), Zusatzpublikation 1, ABl. EPA 2020, S. 194).

3.10 Aus den oben genannten Gründen stellt dieser Einwand eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Beschwerdeführerin nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung dar, der gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 unberücksichtigt bleibt.

4. Artikel 83 EPÜ

4.1 Anspruch 1 definiert eine Vorrichtung zur extrakorporalen Blutbehandlung mit einer Messeinrichtung zur Bestimmung der (optischen) Absorption der verbrauchten Dialysierflüssigkeit und Mitteln, die im Wesentlichen Änderungen der Intensität der Strahlungsquelle und/oder der Empfindlichkeit des Detektorsystems kompensieren, wobei die Mittel eine Temperaturregelung der Strahlungsquelle und/oder des Detektorsystems vorsehen.

4.2 Da jede der beiden "und/oder"-Definitionen drei Alternativen beinhaltet, umfasst der Wortlaut des Anspruchs insgesamt neun alternative Vorrichtungen.

Es ist jedoch für den Fachmann sofort und zweifelsfrei erkennbar, dass nicht jede der von dem Anspruch strikt wörtlich umfassten Alternativen einen technischen Sinn ergibt. Dies blieb auch zwischen den Parteien unstrittig. Es ist beispielsweise klar, dass die Intensität der Strahlungsquelle nicht durch eine Temperaturregelung des Detektorsystems beeinflusst werden kann. Dieser Feststellung stimmte die Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung explizit zu. Ebenso wenig ist es technisch möglich, die Empfindlichkeit des Detektorsystems durch eine Temperaturregelung der Strahlungsquelle zu beeinflussen.

4.3 Die Beschwerdeführerin folgerte daraus, dass der Anspruch über seine ganze Breite nicht ausführbar sei, was den Anforderungen von Artikel 83 EPÜ zuwiderlaufe. Sie verwies in diesem Zusammenhang auf die Entscheidungen T 1064/15 und T 1404/05 und argumentierte, dass der vorliegende Anspruch, ebenso wie der jeweilige Anspruch dieser Entscheidungen, vage formuliert sei und mehrere Auslegungsmöglichkeiten offenlasse, die das Gebot der Ausführbarkeit nicht erfüllen.

Die Kammer kann dieser Argumentation nicht folgen. Anders als in den zitierten Entscheidungen ist der vorliegende Anspruch nicht vage formuliert, insbesondere nicht so vage formuliert, dass mehrere Auslegungsmöglichkeiten offengelassen werden. Wie oben dargelegt, umfasst der Anspruch neun klar definierte und zweifelsfrei identifizierbare Alternativen, wobei der Fachmann ebenfalls zweifelsfrei klar erkennt, dass einige von diesen keinen technischen Sinn ergeben. Die restlichen technisch sinnvollen Alternativen sind jedoch ausreichend beschrieben, sodass sie ausgeführt werden können. In den Absätzen [0020] bis [0023] des Patents werden beispielsweise verschiedene Temperaturregelungen für eine Leuchtdiode und/oder einen Detektor beschrieben, mit denen Änderungen der Intensität der Strahlung und/oder der Empfindlichkeit des Detektors kompensiert werden können. Somit wird der Fachmann in die Lage versetzt, alle in den Schutzbereich des Anspruchs fallenden technisch sinnvollen Alternativen nachzuarbeiten.

Dass der Anspruch einige Alternativen umfasst, die zweifelsfrei erkennbar keinen technischen Sinn ergeben, ist im vorliegenden Fall als ein hinnehmbarer, unerheblicher Nachteil der kompakten Definition des beanspruchten Gegenstandes als Kombination von zwei "und/oder"-Formulierungen anzusehen.

4.4 Die Beschwerdeführerin beanstandete ferner, dass die beanspruchte Temperaturregelung der Strahlungsquelle und/oder des Detektorsystems nicht ausführbar sei, insbesondere nicht mit dem beanspruchten Zweck, Änderungen der Intensität der Strahlung und/oder der Empfindlichkeit des Detektors jeweils zu kompensieren. Die Temperatur sei anspruchsgemäß die einzige Regelgröße, mit der die Intensität der Strahlung oder die Empfindlichkeit des Detektors jeweils kompensiert werde.

Die Kammer kann auch diesen Argumenten nicht folgen. Unabhängig davon, dass außer der Temperatur andere Faktoren Einfluss auf die Strahlungsintensität oder die Detektorempfindlichkeit und somit auf die Genauigkeit des Messergebnisses haben können, ist es unbestritten, dass die Temperatur der Lichtquelle (beispielsweise einer Leuchtdiode, wie sie im abhängigen Anspruch 3 oder in Absatz [0015] erwähnt wird) oder eines Detektors (beispielsweise eines Fotodetektors, wie im Absatz [0016] erwähnt) die Strahlungsintensität oder die Detektorempfindlichkeit jeweils beeinflusst. Die Beschreibung beschreibt ferner in den Absätzen [0020] bis [0023] konkrete Beispiele möglicher Temperaturregelungen für eine Leuchtdiode und/oder einen Detektor.

Darüber hinaus ist zu bemerken, dass der Anspruch die Temperatur nicht als die einzige Regelgröße definiert, mit der die Intensität der Strahlung oder die Empfindlichkeit des Detektors kompensiert werden, wie die Beschwerdeführerin behauptete. Mit der beanspruchten "elektronischen Regelung" wird vielmehr eine weitere Regelung vorgesehen, mit deren Hilfe die Intensität der Strahlung geregelt wird, womit Veränderungen durch Alterung und Temperaturschwankungen sehr präzise kompensiert werden können (siehe Absätze [0035] und [0037]).

4.5 Die Kammer kommt folglich zu dem Schluss, dass das Patent den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann ihn ausführen kann. Somit sind die Anforderungen von Artikel 83 EPÜ erfüllt.

4.6 Auch sieht die Kammer prima facie keine weiteren Einwände, die der Patentierbarkeit des Gegenstands von den Ansprüchen des neuen Hilfsantrags 1 entgegenstünden.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent in geändertem Umfang mit folgender Fassung aufrechtzuerhalten:

Ansprüche 1-12 des Hauptantrags, eingereicht als neuer Hilfsantrag 1 während der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer;

Beschreibung: Spalten 1-11 eingereicht während der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer;

Figuren 1 und 2 der Patentschrift.

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