T 1614/16 () of 27.4.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T161416.20210427
Datum der Entscheidung: 27 April 2021
Aktenzeichen: T 1614/16
Anmeldenummer: 08105214.4
IPC-Klasse: H04N 7/24
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Vorrichtung und Verfahren zum Bereitstellen von Audio- und/oder Videodaten für IP-TV
Name des Anmelders: Deutsche Telekom AG
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.5.04
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56
RPBA2020 Art 013(1)
RPBA2020 Art 013(2)
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (nein)
Änderung des Beschwerdevorbringens - Hilfsantrag
Änderung des Beschwerdevorbringens - Änderung räumt aufgeworfene Fragen aus (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0989/15
T 0954/17
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung über die Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung Nr. 08 105 214.4.

II. In der angefochtenen Entscheidung wurde folgendes Dokument zitiert:

D1: Cisco IPTV Video Headend, Produktbroschüre [online], Cisco Systems Inc., 2007, Seiten 1 bis 15, abgerufen von <http://www.cisco.com/en/US/solutions/collateral

/ns341/ns524/ns610/

net_brochure0900aecd80613e44.pdf>.

III. Die Gründe für die Zurückweisung der der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Anträge (Hauptantrag sowie erster und zweiter Hilfsantrag) waren mangelnde Klarheit (Artikel 84 EPÜ) einiger der unabhängigen Ansprüche und mangelnde erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ) des Gegenstands dieser Ansprüche. Außerdem wurde der Einwand erhoben, dass die Aufgabenstellung auf Seite 2 der Beschreibung im Vergleich zu Dokument D1 nicht nachvollziehbar sei und somit den Erfordernissen der Regel 42 (1) c) EPÜ nicht genüge.

IV. Gegen diese Entscheidung legte die Anmelderin Beschwerde ein. Mit der Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin einen neuen Anspruchssatz als einzigen Antrag ein. Die Beschwerdeführerin gab an, dass dieser Antrag auf dem der Entscheidung zugrundeliegenden Hauptantrag beruhe, mit klarstellenden Änderungen in den unabhängigen Ansprüchen 1 und 4.

V. Am 15. September 2020 erging eine Ladung zur mündlichen Verhandlung, der eine Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, die am 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist (VOBK 2020, siehe ABl. EPA 2019, A63 sowie Zusatzpublikation 2 zum ABl. EPA 2020), beigefügt war. In dieser Mitteilung führte die Kammer das Dokument US 6,229,851 B1 ("D2") ex officio in das Beschwerdeverfahren ein und äußerte die folgende vorläufige Meinung:

a) Das Merkmal "dass eine Schleife entsteht, indem der Transportstrom mit einem ersten Intrakodierten Rahmen, I-Rahmen, beginnt und mit dem letzten Rahmen vor einem weiteren I-Rahmen endet, wobei auf diesen letzten Rahmen dann wieder der erste I-Rahmen folgt" sei unklar. Somit erfülle Anspruch 1 nicht die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ.

b) Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 4 beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ.

VI. Mit Schreiben vom 15. Februar 2021 reichte die Beschwerdeführerin geänderte Ansprüche gemäß einem Hauptantrag und einem Hilfsantrag ein.

VII. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 27. April 2021 statt und wurde als Videokonferenz gemäß Artikel 15a (1) VOBK 2020 durchgeführt, der vorliegend gemäß Artikel 3 des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 23. März 2021 zur Genehmigung einer Änderung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (CA/D 3/21) (siehe ABl. EPA 2021, A19) für die mündliche Verhandlung anwendbar war.

Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines europäischen Patents auf der Grundlage der Ansprüche des mit Schreiben vom 15. Februar 2021 eingereichten Hauptantrags, und hilfsweise auf der Grundlage der Ansprüche des mit Schreiben vom 15. Februar 2021 eingereichten Hilfsantrags.

Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Vorsitzende die Entscheidung der Kammer.

VIII. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:

"Verfahren zum Bereitstellen von Audio/Videodaten für IP-TV mit den Schritten:

an einem IP-TV-Produktionsstandort:

a) Empfangen, an einem Enkoder (12), von Quellmaterial in Form von Audio/Video-Daten von einem Quellmaterialspeicher (2);

b) Enkodieren des empfangenen Quellmaterials im Enkoder (12) in ein Zielformat, wobei das Zielformat MPEG4 ist;

c) Aufzeichnen, in einem Aufnahmegerät (16), des enkodierten Audio/Video-Daten-Quellmaterials im Zielformat als Transportstrom;

d) Bearbeiten, in einer Bearbeitungseinrichtung (16), des Quellmaterial-Transportstroms im Zielformat dergestalt, dass eine Endlosschleife bildbar ist, indem der Transportstrom mit einem ersten Intrakodierten Rahmen, I-Rahmen, beginnt und mit dem letzten Rahmen vor einem weiteren I-Rahmen endet, und

e) Übertragen des bearbeiteten Quellmaterial-Transportstroms im Zielformat vom IP-TV-Produktionsstandort zu einem Zwischenspeicher (22) eines IP-TV-Ausspielorts; und

an dem IP-TV-Ausspielort:

f) Speichern des übertragenen bearbeiteten Transportstroms in dem Zwischenspeicher (22), wobei der Zwischenspeicher (22) geeignet ist, Quellmaterial-Transportströme auszugeben;

g) Ausgeben des Audio/Video-Daten-Transportstroms in einer Endlosschleife in das IP-TV-Netzwerk."

IX. Anspruch 1 des Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags nur im letzten Merkmal g), das lautet:

"Ausgeben des Audio/Video-Daten-Transportstroms in einer Endlosschleife direkt in das IP-TV-Netzwerk, wobei am Ausspielort keine Neukodierung der AV-Daten erfolgt."

X. Die Beschwerdeführerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:

zum Hauptantrag

a) Aus Anspruch 1 ergebe sich, dass nur ein Encoder erforderlich sei und es keinen weiteren Encoder am IP-TV Ausspielort gebe. Das sei in Dokument D1 nicht der Fall, wo der "Regional Headend" ebenfalls die Funktion "Receive Encode Encapsulate" enthalte.

b) Gemäß Anspruch 1 erfolge die Bearbeitung wie in Merkmal d) spezifiziert nach der durch Merkmal b) beschriebenen Encodierung. Hingegen erfolge in Dokument D1 eine Videobearbeitung stets vor der Videocodierung, siehe zum Beispiel die Reihenfolge der Blöcke "Video Processing" und "HD H.264 Encoder" in Abbildung 2).

c) Durch die Bearbeitung der Audio/Videodaten erst nach der Encodierung seien die zu bearbeitenden Datenmengen deutlich geringer. Dies erlaube eine schnellere und kostengünstigere Bearbeitung. Entsprechend bestehe die objektive technische Aufgabe darin, ein Verfahren und ein System bereitzustellen, durch die eine schnellere und kostengünstigere Datenverarbeitung von Audio/Videodaten bis zur störungsfreien Ausgabe eines Audio/Video Transportstroms in einer Endlosschleife an ein IP-TV Netzwerk erreicht werde.

d) Das Sammeln von linearem Programm aus verschiedenen Quellen und die Distribution via IP-TV sei nicht ohne Weiteres mit dem Konzept des Ausgebens einer Endlosschleife kompatibel oder ergebe sich auch nicht als naheliegende Fortentwicklung, die mit Hilfe des Dokuments D2 verwirklicht werden könne. Der Fachmann wäre aufgrund der erheblichen erforderlichen Änderungen daher nicht ohne rückschauende Betrachtung zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangt (siehe Schreiben vom 15. Februar 2021, Punkt 2.2).

e) Der Fachmann hätte Dokument D2 nicht in Betracht gezogen, weil es ein Verfahren für den MPEG-2 Standard beschreibe aber nicht für den MPEG-4 Standard.

f) Der Fachmann hätte Dokument D2 außerdem nicht in Betracht gezogen, weil es keinen Bezug zu IP-TV oder den damit verbundenen technischen Aufgaben beinhalte (siehe Schreiben vom 15. Februar 2021, Punkt 2.2).

g) In Dokument D1 erfolge eine Videobearbeitung stets vor der Codierung. Davon würde der Fachmann auch nach Kombination mit Dokument D2 nicht abweichen. Daher würde sich durch eine Kombination der Dokumente D1 und D2 nicht die Reihenfolge der Merkmale b) und d) wie in Anspruch 1 ergeben.

h) Selbst wenn der Fachmann das Dokument D2 in Betracht gezogen hätte, sei es nicht klar, wo die Nachbearbeitung des Inhalts zur Vorbereitung einer Endlosschleife angesiedelt sein solle. Diese könne sowohl beim Super Headend (IP-TV-Produktionsstandort) als auch beim Regional Headend (IP-TV-Ausspielort) der Fall sein.

zum Hilfsantrag

i) Der Hilfsantrag sei zuzulassen, weil er eine direkte Reaktion auf die Einwände der Kammer in der Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 sei. Dort sei der Einwand erhoben worden, dass die Abwesenheit weiterer Encoder, etwa am IP-TV Ausspielort, kein Merkmal des Anspruchs 1 sei. Genau dieses Merkmal sei nun explizit eingefügt worden.

j) Das geänderte Merkmal g) im Hilfsantrag mache klar, dass keine Neucodierung der A/V Daten erfolge und damit der technische Effekt und die technische Aufgabe nun anders seien als im Hauptantrag. Insbesondere, sei nun eine schnellere und kostengünstigere Datenverarbeitung gegeben.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Hauptantrag - Zulassung in das Beschwerdeverfahren (Artikel 13 (2) VOBK 2020)

Die Ladung wurde nach Inkrafttreten der VOBK 2020 zugestellt und der Hauptantrag wurde nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereicht. Daher ist gemäß Artikel 25 (1) und (3) VOBK 2020 der Artikel 13 (2) VOBK 2020 vorliegend anzuwenden.

Die Kammer hat in ihrer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 neue Klarheitseinwände erhoben. Darüber hinaus hat die Kammer in dieser Mitteilung ein neues Dokument in das Beschwerdeverfahren eingeführt und darauf basierend einen geänderten Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit erhoben. In Reaktion darauf hat die Beschwerdeführerin geänderte Ansprüche gemäß Hauptantrag eingereicht, um diese Einwände zu beheben. Die Kammer sieht darin außergewöhnliche Umstände im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK 2020 und hat daher ihr Ermessen nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 dahingehend ausgeübt, den Hauptantrag in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.

3. Hauptantrag - erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)

3.1 Nach Artikel 56 EPÜ gilt eine Erfindung "als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt". Es ist ständige Rechtsprechung, dass der "Aufgabe-Lösungs-Ansatz" eine geeignete Methode ist, um zu prüfen, ob ein beanspruchter Gegenstand die in Artikel 56 EPÜ genannten Voraussetzungen erfüllt (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts ("Rechtsprechung"), Neunte Auflage 2019, I.D.2).

3.2 Dokument D1 kann als nächstliegender Stand der Technik angesehen werden. Dem hat die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung zugestimmt.

3.3 Dokument D1 offenbart folgende Merkmale des Anspruchs 1:

Verfahren zum Bereitstellen von Audio/Videodaten für IP-TV mit den Schritten:

an einem IP-TV-Produktionsstandort (siehe D1, Seite 5, 1. "The Super Headend (SHE)"; Abbildung 1: "Super Headend (SHE)")

a) Empfangen, an einem Encoder, von Quellmaterial in Form von Audio/Video-Daten von einem Quellmaterialspeicher (siehe D1, Seite 5, 1. "aggregates live national content"; Abbildung 1: "Receive Encode Encapsulate" im "Super Headend". Dabei ist es implizit, dass die vom "Super Headend" empfangenen Inhalte vorher an anderer Stelle gespeichert waren);

b) Encodieren des empfangenen Quellmaterials im Encoder in ein Zielformat, wobei das Zielformat MPEG4 ist (siehe D1, Seite 5, 1. "encodes the content in MPEG-4/AVC (H.264)"; Abbildung 1: "Receive Encode Encapsulate" im "Super Headend"; Abbildung 2: "HD H.264 Encoder")

c) Aufzeichnen, in einem Aufnahmegerät, des encodierten Audio/Video-Daten-Quellmaterials im Zielformat als Transportstrom (siehe D1, Abbildung 1: "Receive Encode Encapsulate" im "Super Headend"; implizit aufgrund des Symbols "IP" nach dem "HD H.264 Encoder" in Abbildung 2)

e) Übertragen des Quellmaterial-Transportstroms im Zielformat vom IP-TV-Produktionsstandort zu einem Zwischenspeicher eines IP-TV-Ausspielorts (siehe D1, Seite 5, 1. "distributes it through an IP core network to the VHOs"; Abbildung 1: "IP Core Network"); und

an dem IP-TV-Ausspielort (siehe D1, Seite 5, 2. "The Video Hub Office (VHO)"; Abbildung 1: "Regional Headend"):

f) Speichern des übertragenen bearbeiteten Transportstroms in dem Zwischenspeicher, wobei der Zwischenspeicher geeignet ist, Quellmaterial-Transportströme auszugeben (D1, Seite 5, 2. "The typical VHO serves a metropolitan area of between 100.000 to 500.000 homes". Dabei ist ein zumindest temporärer Zwischenspeicher im VHO implizit.);

g) Ausgeben des Audio/Video-Daten-Transportstroms in das IP-TV-Netzwerk (siehe D1, Abbildung 1: "Metro Aggregation and Distribution Network" und Seite 6, erster Absatz nach Abbildung 1: "a carrier's unique IPTV offering").

3.4 Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich daher von der Offenbarung des Dokuments D1 durch das Merkmal d) und durch den Ausdruck "in einer Endlosschleife" im Merkmal g).

3.5 Die Beschwerdeführerin sah weitere Unterscheidungsmerkmale zwischen dem Gegenstand des Anspruchs 1 und der Offenbarung des Dokuments D1 und argumentierte wie folgt.

3.5.1 Aus Anspruch 1 ergebe sich, dass nur ein Encoder erforderlich sei und es keinen weiteren Encoder am IP-TV Ausspielort gebe. Das sei in Dokument D1 nicht der Fall, wo der "Regional Headend" ebenfalls die Funktion "Receive Encode Encapsulate" enthalte (siehe Punkt X(a)).

3.5.2 Gemäß Anspruch 1 erfolge die Bearbeitung wie in Merkmal d) spezifiziert nach der durch Merkmal b) beschriebenen Encodierung. Hingegen erfolge in Dokument D1 eine Videobearbeitung stets vor der Videocodierung, siehe zum Beispiel die Reihenfolge der Blöcke "Video Processing" und "HD H.264 Encoder" in Abbildung 2 (siehe Punkt X(b)).

3.6 Die Kammer ist von diesen Argumenten aus folgenden Gründen nicht überzeugt.

3.6.1 Anspruch 1 spezifiziert nicht explizit, dass am Ausspielort keine Neucodierung der Audio/Video-Daten erfolgt. Im Sinne der Beschwerdeführerin nimmt die Kammer aber im Folgenden an, dass sich ein solches Merkmal aus den übrigen Merkmalen von Anspruch 1 ergeben würde.

Nach Abbildung 1 von Dokument D1 enthält der "Regional Headend" ein Element "Receive Encode Encapsulate" für "Regional Content Ingestion" und "Regional Content Insertion". Es ist für den Fachmann aber klar, dass dies nicht zwingend so sein muss. Wenn kein regionaler Inhalt in den nationalen Inhalt eingefügt werden soll, erfolgt auch keine erneute Audio/Video-Codierung.

Daher kann die Abwesenheit eines Audio/Video-Encoders am IP-TV Ausspielort kein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Gegenstand des Anspruchs 1 und der Offenbarung des Dokuments D1 sein.

3.6.2 Weil Dokument D1 das Merkmal d) nicht offenbart, kann es auch keine Reihenfolge zwischen diesem fehlenden Merkmal und anderen Merkmalen des Anspruch 1 geben. Daher kann für die Feststellung der Unterscheidungsmerkmale die Reihenfolge der Merkmale b) und d) nicht berücksichtigt werden.

3.6.3 Daher geht die Kammer im Folgenden von den unter Punkt 3.4 genannten Unterscheidungsmerkmalen aus.

3.7 Die Kammer ist der Ansicht, dass das Ausgeben eines Audio/Video-Daten-Transportstroms in Form einer Endlosschleife - im Gegensatz zu einer nur einmaligen Ausgabe - eine durch kommerzielle Überlegungen getriebene Entscheidung ist. Um eine bestimmte Gesamtsendezeit zu erreichen, etwa 12 Stunden, muss dann nicht mehr ein Programm in der vollen Länge erstellt werden, sondern es genügt, zum Beispiel ein Programm von 3 Stunden Länge viermal zu wiederholen. Das ist weniger aufwendig, bietet aber weniger Abwechslung. Diese Abwägung zwischen Kosten der Programmerstellung und Abwechslung für den Zuschauer ist eine kommerzielle, nicht-technische Entscheidung.

Dem hat die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung zugestimmt.

Daher ist es zulässig, diese nichttechnische Zielsetzung als Teil der Rahmenbedingungen für die zu lösende technische Aufgabe anzugeben (siehe Rechtsprechung, I.D.9.1.4).

3.8 Entsprechend besteht die objektive technische Aufgabe darin, ein Verfahren und ein System bereitzustellen, durch die eine Datenverarbeitung von Audio/Videodaten bis zur störungsfreien Ausgabe eines Audio/Video-Transportstroms in einer Endlosschleife an ein IP-TV Netzwerk erreicht wird.

3.9 Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass durch die Bearbeitung der Audio/Videodaten erst nach der Encodierung die zu bearbeitenden Datenmengen deutlich geringer seien. Dies erlaube eine schnellere und kostengünstigere Bearbeitung. Entsprechend sei in der objektiven technischen Aufgabe der Begriff "Datenverarbeitung" zu ersetzen durch "schnellere und kostengünstigere Datenverarbeitung" (siehe Punkt X(c)).

3.10 Dieses Argument hat die Kammer nicht überzeugt. Eine Bearbeitung von uncodierten Audio/Videodaten kann eine schnellere Verarbeitung ermöglichen, weil direkt auf einzelne Rahmen zugegriffen werden kann, ohne Randbedingungen der Codierung zu berücksichtigen. Auch kann eine Bearbeitung von uncodierten Audio/Videodaten kostengünstiger sein, weil kein Encoder erforderlich ist.

Daher ist die Kammer der Ansicht, dass sich die Effekte von schnellerer und kostengünstigerer Datenverarbeitung nicht kausal aus den Merkmalen des Anspruchs 1 ergeben und daher bei der Formulierung der objektiven technischen Aufgabe nicht zu berücksichtigen sind (siehe Rechtsprechung, I.D.4.1, vierter Absatz).

3.11 Angesichts der zu lösenden Aufgabe, welche die Ausgabe von Audio/Videodaten in einer Endlosschleife umfasst, hätte der Fachmann das Dokument D2 zu Rate gezogen, schon wegen seines einschlägigen Titels ("Method and apparatus for looping of compressed video bitstreams").

3.12 Die Beschwerdeführerin argumentierte, das Sammeln von linearem Programm aus verschiedenen Quellen und die Distribution via IP-TV sei nicht ohne Weiteres mit dem Konzept des Ausgebens einer Endlosschleife kompatibel und ergebe sich auch nicht als naheliegende Fortentwicklung, die mit Hilfe der D2 verwirklicht werden könne. Der Fachmann wäre aufgrund der erheblichen erforderlichen Änderungen daher nicht ohne rückschauende Betrachtung zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangt (siehe Punkt X(e)).

Dieses Argument vermag die Kammer aus zwei Gründen nicht zu überzeugen. Zum einen enthält Dokument D1 keine Einschränkung auf lineares Programm, etwa Live-Übertragungen, sondern stellt auf Seite 7, vorletzter Absatz nur allgemein fest: "The goal is to collect and convert video from a wide range of sources". Zum anderen wäre es auch naheliegend ein zunächst lineares Programm, z.B. eine Sportübertragung, als Endlosschleife zu senden, wenn dies auf Basis kommerzieller Überlegungen gewünscht ist. Die Kammer kann auch nicht erkennen, warum ein bestimmtes Übertragungsverfahren wie IP-TV einen Einfluss darauf haben soll, welcher konkrete Inhalt übertragen wird und ob dieser Inhalt einmal oder mehrfach hintereinander abgespielt wird.

3.13 Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass Dokument D2 zwar eine Ausgabe von Videodaten in einer Endlosschleife beschreibe, der Fachmann dieses Dokument aber dennoch nicht in Betracht gezogen hätte, weil:

a) es ein Verfahren für den MPEG-2 Standard beschreibe, aber nicht für den MPEG-4 Standard (siehe Punkt X(e)), und

b) es keinen Bezug zu IP-TV oder den damit verbundenen technischen Aufgaben beinhalte. Vor dem Anmeldetag der Anmeldung sei eine Übertragung von IP-TV noch nicht so stabil gewesen wie die Übertragung über andere Übertragungsmedien wie Kabel oder Satellit. Daher hätte der Fachmann nur Dokumente aus dem Bereich IP-TV in Betracht gezogen (siehe Punkt X(f)).

3.14 Die Kammer ist von diesen Argumenten aus folgenden Gründen nicht überzeugt:

a) Die in Dokument D2 genannten Merkmale der MPEG-2 Videocodierung beziehen sich nur auf die Codierung als I-, P- und B-Rahmen und ihre Abfolge in einem GOP (Group of Pictures). Diese elementaren Merkmale der Videocodierung treffen in gleicher Weise auf die Codierung nach MPEG-4 zu.

b) Die in Dokument D2 behandelte Frage, wie die Abfolge der I-, P-, und B-Rahmen in einem GOP zu erfolgen hat, um eine störungsfreie Wiedergabe zu erreichen, bezieht sich nur auf die Videocodierungsschicht. Die Wahl des Übertragungsverfahrens (z.B. IP-TV, Satellit, terrestrische Übertragung) hat darauf keinen Einfluss.

3.15 Das Dokument D2 zeigt in der Abbildung 6, dass durch eine falsche Wahl des Endpunktes einer in einer Schleife wiedergegebenen Rahmensequenz, einzelne Rahmen in der Folge der ausgegebenen Rahmen fehlen können. Dies ist in Dokument D2, Spalte 2, Zeilen 24 bis 28 beschrieben. Dokument D2 zeigt in Abbildung 7 die korrekte Wahl eines Sequenzendpunktes, nämlich direkt vor dem nächsten intracodierten Rahmen (siehe die Beschreibung Spalte 2, Zeilen 29 bis 32: "the correct end point is always just before an I- or a P-picture, demonstrated in FIG. 7"). Ferner nennt das Dokument D2 auch den korrekten Startpunkt einer Bildsequenz, die in einer Schleife wiedergegeben werden soll, nämlich einen I-Rahmen (siehe Spalte 2, Zeilen 15 bis 23: "Clearly the first picture in the bitstream must be an I-picture").

3.16 Der Fachmann hätte daher zur Lösung der gegebenen objektiven technischen Aufgabe die genannten Merkmale des Dokuments D2 in ein System nach Dokument D1 integriert. Entsprechend würde ein Quellmaterial-Transportstrom mit einem ersten I-Rahmen und einem letzten Rahmen direkt vor einem weiteren I-Rahmen codiert werden, um eine störungsfreie Wiedergabe in einer Endlosschleife am IP-TV Ausspielort zu erreichen. So gelangt der Fachmann in naheliegender Weise zum Gegenstand des Anspruchs 1.

3.17 Das Argument, dass in Dokument D1 eine Videobearbeitung stets vor der Codierung erfolgt und der Fachmann auch nach Kombination mit Dokument D2 davon nicht abweichen würde (siehe Punkt X(g)) hat die Kammer nicht überzeugt, weil die Bearbeitung, wie sie in Dokument D2 gezeigt wird, nur nach der Codierung erfolgen kann. Erst durch die Codierung kommt es überhaupt zu den in Dokument D2 genannten I-, P- und B-Rahmen.

3.18 Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass selbst wenn der Fachmann das Dokument D2 in Betracht gezogen hätte, es nicht klar sei, wo die Nachbearbeitung des Inhalts zur Vorbereitung einer Endlosschleife angesiedelt sein sollte. Diese könne sowohl beim Super Headend (IP-TV-Produktionsstandort) als auch beim Regional Headend (IP-TV-Ausspielort) der Fall sein (siehe Punkt X(h)).

Die Kammer ist von diesem Argument nicht überzeugt. Es liegt in der Natur des nationalen Inhalts, dass er national, d.h. von allen Regional Headends gleich ausgestrahlt werden soll. Entsprechend würde der Fachmann auch eine Nachbearbeitung dieses nationalen Inhalts zentral, d.h. im Super Headend, durchführen.

3.19 Daher beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ.

4. Hilfsantrag - Zulassung in das Beschwerdeverfahren (Artikel 13 (2) VOBK 2020)

4.1 Die Ladung wurde nach Inkrafttreten der VOBK 2020 zugestellt und der Hilfsantrag wurde nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereicht. Daher ist gemäß Artikel 25 (1) und (3) VOBK 2020 der Artikel 13 (2) VOBK 2020 vorliegend anzuwenden.

4.2 Artikel 13 (2) VOBK 2020 implementiert die dritte Stufe des im Beschwerdeverfahren anzuwendenden Konvergenzansatzes (siehe Zusatzpublikation 2 zum ABl. EPA 2020, Erläuterungen zu Artikel 13 (2), erster Absatz, Satz 1).

In der dritten Stufe des Konvergenzansatzes kann die Kammer auch Kriterien heranziehen, die für die zweite Stufe des Konvergenzansatzes, d.h. nach Artikel 13 (1) VOBK 2020 maßgeblich sind (siehe Zusatzpublikation 2 zum ABl. EPA 2020, Erläuterungen zu Artikel 13 Absatz 2, vierter Absatz sowie z.B. die Entscheidungen T 989/15, Punkt 16.2 der Entscheidungsgründe, and T 954/17, Punkt 3.10 der Entscheidungsgründe).

4.3 Bei Änderungen einer Patentanmeldung berücksichtigt die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13 (1) VOBK 2020 insbesondere, ob der Beteiligte aufgezeigt hat, dass die Änderung prima facie die von der Kammer aufgeworfenen Fragen ausräumt. Dieses Kriterium hat die Kammer im vorliegenden Fall bei der Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 herangezogen.

4.4 Die Änderungen in Anspruch 1 des Hilfsantrags betreffen nur das letzte Merkmal g). Dort wird nun spezifiziert: "wobei am Ausspielort keine Neukodierung der AV-Daten erfolgt".

Dieses zusätzliche Merkmal wurde von der Kammer aber bereits bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hauptantrags angenommen, siehe Punkt 3.6.1.

Daher können die Änderungen in Anspruch 1 des Hilfsantrags prima facie den von der Kammer erhobenen Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit nicht ausräumen.

4.5 Die Beschwerdeführerin argumentierte, der Hilfsantrag sei zuzulassen, weil er eine direkte Reaktion auf die Einwände der Kammer in der Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 sei. Dort sei der Einwand erhoben worden, dass die Abwesenheit weiterer Encoder, etwa am IP-TV Ausspielort, kein Merkmal des Anspruchs 1 sei. Genau dieses Merkmal sei nun explizit eingefügt worden (siehe Punkt X(i)).

Dieses Argument hat die Kammer nicht überzeugt. Wenn das obengenannte Kriterium des Artikels 13 (1) VOBK 2020 bei der Ausübung des Ermessens der Kammer nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 angewandt wird, kommt es darauf an, ob die Beschwerdeführerin aufgezeigt hat, dass die Änderungen prima facie die von der Kammer aufgeworfenen Fragen ausräumen. Dabei können alle Fragen relevant sein, die von der Kammer bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Zulassung aufgeworfen wurden.

4.6 Die Beschwerdeführerin argumentierte ferner, das geänderte Merkmal g) im Hilfsantrag mache klar, dass keine Neucodierung der A/V Daten erfolge und damit der technische Effekt und die technische Aufgabe nun anders seien als im Hauptantrag. Insbesondere, sei nun eine schnellere und kostengünstigere Datenverarbeitung gegeben (siehe Punkt X(j)).

Die Kammer ist von diesem Argument prima facie nicht überzeugt, weil bei der Bestimmung des technischen Effekts und der Formulierung der objektiven technischen Aufgabe hinsichtlich Anspruch 1 des Hauptantrags schon angenommen wurde, dass keine weitere Encodierung erfolgt (siehe Punkt 3.6.1 und Punkt 3.10).

4.7 Aus den oben genannten Gründen hat die Kammer ihr Ermessen nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 dahingehend ausgeübt, den Hilfsantrag nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.

5. Schlussfolgerung

Da Anspruch 1 des Hauptantrags nicht die Voraussetzungen des Artikels 56 EPÜ erfüllt und der Hilfsantrag nicht zugelassen wurde, liegt kein gewährbarer Antrag der Beschwerdeführerin vor. Daher ist die Beschwerde zurückzuweisen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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